Mittwoch, 06.11.1991, ca. 10:00
Am 5.3.1987 forderte ein Erdbeben in Ecuador 3000 Menschenleben; fast ausschließlich im
Oriente, in der Umgebung des Epizentrums, das in der Nähe des Vulkans Reventador lag.
Die allermeisten Todesopfer waren eine Folge von Überschwemmungen. Das Erbeben hatte
Erdrutsche ausgelöst, die die Flüsse anstauten, welche sich einige Zeit später in einer
gewaltigen Flutwelle befreiten. Als wir anderthalb Jahre später den Reventador bestiegen,
waren noch überall die Spuren des Erdbebens zu sehen.
Eine sehr ausführliche Analyse des Bebens findet sich hier.
Ich war auf das Erlebnis einer Erderschütterung neugierig, und es war auch abzusehen,
dass mir in dieser erdbebengefährdeten Region, die zum pazifischen Feuerring gehört,
früher oder später eines beschert werden würde. Im Verlauf der sieben Jahre waren es
auch einige Erdstöße; dass jedoch ein Beben der Stärke 6,7 auf der Richterskala mit dabei
sein sollte, war von mir so nicht erbeten.
Ein erstes Vorbeben hatte sich um etwa acht Uhr abends ereignet. Ich saß zu dieser Zeit
im Keller der Casa Humboldt, wie regelmäßig sonntagabends um diese Stunde, als noch
die Videos mit den deutschen Sportsendungen, vor allem aktueller
Bundesligaberichterstattung vom Vortag, von der Lufthansa eingeflogen wurden. Zuerst
hatte ich den Eindruck, jemand würde an meinem Sessel rücken, und danach, als sei der
ganze Raum auf Gummi gelagert. Einige erfahrene Leute verließen unauffällig den unter
Erdniveau gelegenen Raum und kehrten nicht wieder.
Es war kurz nach elf, ich war zurückgekehrt und Bn. und ich hatten uns zu Hause
niedergelegt und waren eben eingeschlafen, als das eigentliche Beben begann. Die
Erfahrung ist sehr elementar und lässt sich nur ganz ansatzweise wiedergeben, und ist
besonders unangenehm, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Durch die starke, lang
andauernde Bewegung eines festgefügten Hauses wird ein Grundvertrauen erschüttert, mit
keiner mir bekannten Erfahrung vergleichbar. Auch jetzt noch, vier Jahre danach, bin ich
hypersensibilisiert und reagiere mit einem Anflug von Panik, wenn jemand von hinten an
meinem Stuhl rüttelt.
Bis wir den Angstschock überwunden und uns überlegt hatten, was zu tun sei, waren die
vielleicht 20 Sekunden vorüber, die die Erdstöße andauerten. Wie viele zigtausende in
Quito verließen wir das Haus, jedoch nicht, um wie die meisten Quiteños unserer Zone im
Carolina-Park zu übernachten, sondern um uns in den Jeep zu begeben, den ich
sicherheitshalber aus dem Einsturzbereich des Hauses auf die Straße fuhr, und auch
nochmal die Position korrigierte, um auch außer Reichweite des Beton-Lichtmastes an der
Straße vor unserem Haus zu gelangen.
Quito, Donnerstag, 13.02.1992, 16:00
Eben rief M.Z. an: J.J. hat aus Deutschland angerufen, unser Kollege M.H. hat sich
erhängt: Der Spieler hat aufgegeben.
Zurück zum Erdbeben, wenig fehlt noch. Etwas später war der Schwager unseres
Hausherrn zurückgekehrt und traf das Haus von der gesamten Familie verlassen an. Er
hatte den Mut, ungeachtet weiterer kleinerer Erdstöße ins Haus zu gehen, und kam mit
einer Flasche Johnny Walker (Black Label) zurück. Er setzte sich zu uns in den Jeep, da wir
nicht wussten, wohin die restlichen Hausbewohner geflüchtet waren, und er nicht, wohin er
jetzt sollte. Gegen zwei Uhr war die Flasche leer. Worüber wir gesprochen haben, weiß ich
nicht mehr, nur dass ich einmal aus dem Jeep fiel, als ich zum Pinkeln wollte. Durch die
Unterstützung des schwarzen Etiketts hatten später auch wir genug Mut, ins Haus
zurückzukehren und uns wieder in die Betten zu legen, wo wir auch blendend schliefen und
von einem kleineren Nachbeben nichts bemerkten.
Nach 4 Stunden Schlaf klingelte der Wecker, um 7 Uhr stand ich, immer noch in den
Fängen des Whiskys, eingeschränkt arbeitsbereit, vor der Deutschen Schule. Diese jedoch
war, abgesehen von R.R., menschenleer: In der gesamten Sierra war der öffentliche Dienst
durch die Regierung untersagt worden.
Welches Verhältnis ich zu dem Land gewonnen habe, was es mir bedeutet, vor allem was
es mir künftig bedeuten wird, vermag ich noch nicht abzuschätzen. Zu glauben, ein
Lebensabschnitt von über sieben Jahren in einem so faszinierenden fremden Land kann
keine große Bedeutung (angesichts aller noch kommender Abenteuer) haben, vermag man
allerdings wahrscheinlich nur als Jugendlicher. Mit 39 ist mir die Endlichkeit von Leben und
Erfahrungen bewusster.
Die Natur des Landes hat mich wohl mehr in ihren Bann gezogen als seine Bewohner. Die
lateinamerikanische Mentalität, auch wenn man jetzt vieles von ihr zu ahnen beginnt,
bleibt mir reichlich fremd. Die meisten Menschen sind langsam und im produktiven Sinne
ineffektiv. Hier steht die Bürokratie stellvertretend für andere Bereiche in vorderster Linie.
Ich befürchte, dass, würde man hier für immer leben, man sich auch immer in der
Diaspora befinden würde.
Allerdings muss man erst mal abwarten, wie uns die Menschen nach der Rückkehr nach
Deutschland bekommen werden.
Den Deutschen wünschte ich einen Schuss der lateinamerikanischen Mentalität: Das wäre
ein Cocktail, der munden könnte.
Die Natur des Landes ist mir sehr nah und lieb geworden, und ich werde sie vermissen. Die
Küste, d.h. Cabañas, Palmenstrand, Sonne, Meeresfrüchte, Wellen, Wärme, Wind, Sand,
Kieselsteine, mit Wein oder Bier, war stets ein Labsal, eine Oase, ein Auftanken. Der
radikale Wechsel vom kühlen Bergort Quito innerhalb weniger Stunden im Auto, innerhalb
30 Minuten mit dem Flugzeug ins tropische Tiefland, stellt die vielleicht größte Faszination
des Landes dar. Auf der einen Seite die Cordillera hinab an den tropischen Pazifik, auf der
anderen Seite in das Amazonasbecken, wo wir uns in einer Woche wieder zu einer
viertägigen Tour aufmachen werden.
Während ich dies niederschreibe, sitze ich auf der Dachterrasse unserer wunderschönen
Wohnung in der Calle Guanquiltagua, es ist die ehemalige Wohnung von K., die Sonne
steht etwa noch ein Viertel über dem Pichincha, dem Hausvulkan Quitos, die Stadt zieht
sich unter mir das Tal entlang, ein lindgrünes Getränk neben mir.
Die drei Zonen Costa – Sierra - Oriente sind in jeder Hinsicht verschieden, verschieden, als
führe man in ein anderes Land.
Der Oriente erscheint grenzenlos, ein Land, in dem man leicht spurlos verschwinden kann,
untertauchen kann, ein Reich der Freiheit. Die Brust atmet frei, wenn man hinter Baeza
oder hinter Baños die Kordillere hinabfährt, und auch wenn man das Ölpalmenfeld hinter
Santo Domingo hinter sich lässt und die Costa nicht mehr weit ist.
Mittwoch, 11.03.1992, 09:30
Stellvertretend für andere Orientefahrten ein kleiner Bericht von der Reise am
vergangenen Karnevalswochenende.
Samstag früh fuhren wir los. Inzwischen ist die Straße bis zur Passhöhe asphaltiert, was
auf der Strecke bis Papallacta etwa eine halbe Stunde Zeitersparnis erbringt. Danach
beginnt die unerbittliche Rüttelpiste. In Baeza aßen wir traditionell bei „Gina“ ein
„Churrasco“. Nach 7 Stunden langten wir in Lago Agrio an, der Ort unverändert schmutzig
und ölverschmiert, die Hauptstraße mit tiefsten Schlaglöchern. Wir übernachteten nicht wie
sonst im Hotel „Cayapa“, sondern im Hotel „Lago“, einer neuen Bungalowanlage, die
binnen dreier Jahre einen modrigen Eindruck machen wird. Am nächsten Morgen
überquerten wir mit unseren Fahrzeugen den Rio Aguarico auf einer Fähre und machten
uns auf den Weg nach Shushufindi bzw. Limoncocha. Bei einem Stopp, durch die
abgerissene Benzinleitung bei den Di.s verursacht, entdeckte ich, dass der Kühler unseres
Jeeps beträchtlich leckte. Ich füllte zweimal nach, einmal aus einem Bach am Weg, und
hielt dann bei der nächsten 15-Häuser-Ortschaft, genannt „El Eno“ an. Dort verfügte in der
Tat jemand über ein Schweißgerät und Lötzinn.
In Limoncocha endete die (sehr schlechte) Straße: es gab nur noch einen Nebenarm des
Rio Napo und die mehrere Meter hohe Anlegestelle, an der früher das „Flotel“ Gäste
übernommen hatte. Erdölarbeiter warteten auf ihren Abtransport per Kanu, in der Ferne
wummerten die Detonationen der Erdölexploration und ließen die Erde erzittern. Das Erdöl
war allgegenwärtig; die mit dem
Abfallprodukt Bitumen verkleisterte
Straße war bei Nässe spiegelglatt.
Wir fuhren bis zur Abzweigung
zurück, und als wir in Coca eintrafen,
war die Nacht bereits
hereingebrochen. In Coca (offiziell
Puerto Francisco de Orellana, völlig
ungebräuchlich) herrschte
Stromausfall, wir verzehrten das
Abendmahl bei Kerzenschein, wobei
die Köchin ausdrücklich auf ihre
fettfreie Zubereitung des Fleisches in
Bier hinwies.
Die Schenke gegenüber verfügte
unglücklicherweise über ein
Notstromaggregat, so dass die ganze
Nacht über Musik nebst Geschrei die
schwülheiße tropische Atmosphäre
bereicherten; dazu gesellte sich das Lastwagengedonner der direkt an unseren
Schlafräumen vorbeiführenden Straße. Um 5 Uhr morgens ließ ein abfahrender Gast seine
Camioneta vor unserem Fliegennetzfenster warmlaufen. Um diese Zeit hatte es etwa 25
°C.
Am Vormittag musste der Kühler erneut gelötet werden, in einer der üblichen Werkstätten:
Ein kleiner hölzerner Geräteschuppen, auf zwei Seiten offen, auf langen Holzpfählen ein
Wellblechdach über dem motoröldurchtränkten Erdboden. Es war Rosenmontag, die
landesüblichen Karnevalswasserschüttereien in vollem Gang, kein Passant, ob zu Fuß oder
im Auto mit offenem Fenster vorbeifahrend wurde verschont. Eine dicke Negermammi, die
den männlichen Passanten Wasser vorne in die Hosen goss, tat sich besonders hervor.
Auch K. Di. und sein Vater R. wurden nicht verschont. Als einige Leute anderen Altfett in
die Haare schmierten und wiederum andere sich mit Schüsseln voll Altöl bewaffneten,
drohte die Szene für einen Moment abzugleiten.
Die darauffolgende Strecke zwischen Coca und Tena war sehr wenig befahren und
überwiegend sehr schön.
Zwischen Archidona und Tena war dann der Jeep
fast nicht auf der Straße zu halten und neigte
dazu, schon bei geringsten Geschwindigkeiten
seitwärts Richtung Straßengraben abzudriften.
Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass ein
Stoßdämpfer abgebrochen war.
In Tena übernachteten wir im stimmungsvollen
Hotel „Auca“ über dem Fluss. Riesige Zimmer,
vergangene Pracht. Am frühen Morgen waren ein
irrsinniges Gekicher, Weibergekreisch, und
„Fuirio“-Rufe zu vernehmen.
Es dauerte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass
das von einem Papagei kam.
Hinter Tena fielen noch die hinteren Bremsen aus
(Bremszylinder gebrochen), und zu Hause wies die Karosserie neue Risse auf.
Orientefahrten fordern ihren Tribut.
Siegfried
Trapp
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