Siegfried
Trapp
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Die Natur der Seele
Von Lakotta, Beate
Hatte Sigmund Freud doch recht? Neue Untersuchungen der Hirnforschung scheinen seine
umstrittenen Theorien über Verdrängung, Träume oder das Unbewusste zu bestätigen. Nun
wollen Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker das Rätsel der Psyche gemeinsam
entschlüsseln.
Man kann Leute nicht entbehren, die den Mut haben, Neues zu denken,
ehe sie es aufzeigen können. SIGMUND FREUD
In der Nacht von Sonntag auf Montag erlitt Melanie Jacobs* einen Schlaganfall. Sie
lag im Hof ihres Hauses in einem der besseren Townships von Kapstadt und
konnte nicht mehr aufstehen. Ihr linker Arm und ihr linkes Bein waren gelähmt.
Das Sonderbare war: Mrs Jacobs glaubte nicht, dass sie gelähmt war. "Lass den
Quatsch, mir geht es gut", protestierte sie, als ihr Mann sie ins Groote Schuur
Hospital brachte.
Die neurologische Station besteht aus ein paar spartanischen Einzelzimmern, zwei
kargen Sälen, drei Dutzend Betten mit Vorhängen dazwischen. Patienten kommen
nach einem Schlaganfall oder mit der Alzheimerschen Krankheit hierher, andere
haben ein von Drogen und Alkohol verwüstetes Gehirn, dazu kommen Leute mit
einer Kugel im Kopf, Opfer von Unfällen, Raubüberfällen oder Mordversuchen.
Südafrika eben.
Besucher drängeln sich mit mitgebrachtem Mittagessen, Ventilatoren surren,
irgendwo quäkt ein Fernseher. Das Haus könnte einen neuen Anstrich vertragen;
aber lieber finanziert man Forschung, holt gute Wissenschaftler nach Kapstadt.
Einer von ihnen ist der britische Neuropsychologe Mark Solms. Seit vielen Jahren
arbeitet er mit Patienten, die unter bizarren Bewusstseinsstörungen leiden: ein
Mann, der sein Gedächtnis verlor, nachdem er versucht hatte, sich aufzuhängen;
eine Blinde, die überzeugt ist, sehen zu können; ein Krebspatient, der seit einer
Hirntumoroperation nicht mehr weiß, wer er ist.
Für die Wissenschaft sind solche Katastrophen ungemein aufschlussreich: Ein
Hirnareal ist verletzt, eine Funktion verloren - daraus lässt sich ableiten, was dieses
Gewebe im gesunden Hirn tut.
Und nun also Melanie Jacobs: Sie will diesen Doktor an ihrer Bettkante loswerden.
Warum soll sie mit den Augen seinen Fingern folgen und kindische Bilder
zeichnen? Was soll das Gerede vom Schlaganfall, sie ist gerade mal 40! "Ich arbeite
hart. Ich muss nach Hause", wehrt sie sich.
"Mrs Jacobs", sagt Solms, "ich verstehe, dass Sie sich wünschen, alles sei in
Ordnung. Aber ich bin leider überzeugt, dass Ihre linke Seite gelähmt ist. Bitte:
Bewegen Sie Ihren linken Arm."
Der Arm rührt sich nicht.
"Und, können Sie ihn bewegen?", fragt Solms.
"Ja."
"Ich habe nichts gesehen."
"Weil Sie nicht in meinem Kopf drin sind. Mit meinen inneren Augen habe ich
gesehen, dass er sich bewegt."
Ein Paradefall von Anosognosie: Uneinsichtigkeit. Für dieses sonderbare
Krankheitsbild, das nach Schäden in Arealen der rechten Hirnhälfte auftritt, hat die
Neuropsychologie drei hirnorganisch begründete Modelle: Stark vergröbert
besagen sie, dass der Patient keine negativen Gefühle mehr erzeugen könne, dass
seine Aufmerksamkeit für die linke Seite gestört sei, oder dass seine Fähigkeit, den
eigenen Körper räumlich wahrzunehmen, verloren gegangen sei. Keines der
Modelle beschreibt Mrs Jacobs'' Zustand vollständig.
Eine willkommene Gelegenheit für Solms, Kollegen und Studenten bei der
wöchentlichen Falldiskussion im Hörsaal mit seiner eigenen Hypothese über
Anosognosie zu provozieren. Er ist überzeugt, dass die Störung gar nicht körperlich
bedingt ist.
Solms zeigt ein Video der Patientin, argumentiert leidenschaftlich, kommt zum
Finale: "Mrs Jacobs kann die traurige Wahrheit nicht ertragen. Sie will nicht
realisieren, dass sie gelähmt ist." Und dann fällt jener Name, der unter Neurologen
und Psychiatern gemeinhin für aggressive Unruhe sorgt: "Sigmund Freud hätte
gesagt: Sie verdrängt es."
Schweigen in den Rängen. Zweifelndes Augenbrauen-Hochziehen. Skeptisches
Interesse. Aber kein Sturm der Entrüstung. Es hat sich hier herumgesprochen, dass
die wissenschaftliche Avantgarde wieder Interesse an den Ideen des Stammvaters
der Psychoanalyse zeigt. Kollege Solms, Mittvierziger mit dem gutmütigen Gesicht
eines Jungen vom Lande, nebenbei Weinbauer, ist auch Psychoanalytiker. Er wirkt
als treibende Kraft dieser Strömung.
Vielleicht ist es an der Zeit, den Fall Freud neu zu verhandeln? Fast sieht es so aus,
als würden ausgerechnet die Neurowissenschaften, die Sigmund Freud von seinem
Sockel stürzten, im 21. Jahrhundert seine Renaissance begründen.
Nicht psychisch Kranke, sondern neurologische Patienten wie Mrs Jacobs sind es,
die heute als wichtigste Kronzeugen dienen, wenn es um die Rehabilitierung des
verhöhnten Giganten geht. In London hat Solms mit seiner Frau Karen, einer
Psychoanalytikerin, am St. Bartholomew''s- und am Royal Hospital Dutzende
solcher Patienten analytisch behandelt, ihre Träume durchforstet, ihre Gehirne im
Tomografen studiert und die Beobachtungen in Bücher gefasst*.
Freuds Ideen kreisten, genau wie diejenigen der modernen Hirnforscher, um das
jahrtausendealte Leib-Seele-Problem: Wie hängen Gehirn und Psyche zusammen?
Wie reagiert ein Gehirn auf traumatische Erlebnisse? Wie und wo entstehen
Gedanken und Gefühle?
Auf der Couch mögen solche Prozesse schwer zu fassen sein. Auf einer Neurologie-
station dagegen, sagt Solms, lasse sich unmittelbar beobachten, wie das Gehirn als
Organ der Psyche subjektives Erleben hervorbringt: "Diese Patienten sind keine
Aliens, sondern Menschen mit Gefühlen, Wünschen, Phantasien."
Zum Beispiel Mrs Jacobs: Unstrittig haben ihr abnormes Selbstbild und ihr
übermächtiges Wunschdenken mit der Existenz eines hellen Flecks zu tun, der auf
dem Kernspintomogramm ihres Hirns zu sehen ist. Das beschädigte Areal muss
also auf irgendeine Weise zur Konstruktion dessen beitragen, was ihr "Ich" ist -
etwa als Teil eines neuronalen Netzwerks, das dabei hilft, mit Verletzungen des
Selbstwerts fertig zu werden; auch solche Prozesse spielen sich schließlich im
Gehirn ab.
Naturwissenschaftler wissen mit einem Begriff wie "Selbstwert" wenig anzufangen.
Psychoanalytiker reden darüber wie Eskimos über Schnee: Sie kennen verschie-
dene Typen, haben Theorien über seine Entstehung und einen entsprechenden
Wortschatz. "Ich glaube", sagt Solms, "dass wir auf der soliden Basis der klinischen
Beobachtung die Psychoanalyse wieder mit der Neurowissenschaft vereinen
können."
Er hat allen Grund zum Optimismus. Der Versuch, die verfeindeten Disziplinen zu
einer großen Synthese zusammenzufassen, hat bereits eine neue Fachrichtung
hervorgebracht. Das Herausgebergremium ihrer Zeitschrift "Neuro-Psycho-
analysis" liest sich wie ein "Who''s who" der Neurowissenschaft: Eric Kandel,
Joseph LeDoux, Antonio Damasio, Benjamin Libet, Vilayanur Ramachandran, Wolf
Singer.
Freud ist wieder da - überall auf der Welt fahnden Neurobiologen, Psychologen,
Psychiater und Psychoanalytiker in Arbeitsgruppen nach Schnittstellen ihres
Wissens. "Freuds Einblicke in die Natur des Bewusstseins", postuliert Neurobiologe
Damasio, "stehen in Einklang mit der Sichtweise der fortgeschrittensten modernen
Neurowissenschaften."
"Freud wollte damals genau das tun, was wir heute tun", sagt Mark Solms. "Weil er
aber weder Computertomograf noch EEG hatte, gab er sein Projekt auf. Indem wir
sein Werk korrigieren, revidieren und ergänzen, bringen wir es zu Ende."
FREUD ALS HIRNFORSCHER
Der erste Forscher, der die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Neuro-
wissenschaft untersuchte, war Sigmund Freud selbst. Doch als der Seelen-kundler
mit seinen spektakulären Theorien über Ödipuskomplex, Penisneid und
Traumdeutung Weltruhm erlangte, geriet der Naturforscher Freud darüber in
Vergessenheit.
Als Stipendiat in Triest hatte der ebenso talentierte wie ehrgeizige Sohn eines
jüdischen Wollhändlers das Nervensystem der Fische mikroskopiert und nach den
Hoden des Aals gesucht. Damals gilt der junge Freud als überaus begabter Neuro-
anatom. In einer Arbeit über Sprachstörungen (Aphasie) beschreibt er die neuro-
logischen Grundlagen von Sprache. Sein Interesse gilt der Nervenheilkunde, einer
jungen Disziplin, die ihren Patienten wenig mehr als Beruhigungsmittel und Ruhe-
kuren anzubieten hat.
Mit einem Reisestipendium in der Tasche reist Dr. med Sigmund Freud 1885 aus
Wien nach Paris. An der Salpêtrière seziert er im Labor von Jean-Martin Charcot
Kindergehirne. Fasziniert sieht Freud zu, wie der große Neurologe bei Patienten
unter Hypnose hysterische Lähmungen erzeugt oder löst. "Charcot, der einer der
größten Ärzte, ein genial nüchterner Mensch ist, reißt meine Ansichten und
Absichten einfach um", schreibt Freud voller Ehrfurcht nach Hause.
Weil sich im Gehirn verstorbener Hysterikerinnen keine organische Ursache für ihr
Leiden fand, glaubten die meisten Neurologen damals, dass die Patienten ihre
Symptome erfunden haben mussten. Charcot hingegen hatte die Hysterie als echte
Krankheit diagnostiziert. Und er wagte zu fragen, ob und wie körperliche
Symptome auf geistig-seelischen Ursachen beruhen könnten.
Zurück in Wien, lässt Freud diese Frage nicht mehr los. Er vermutet den Schlüssel
zu neurotischen Symptomen in frühen traumatischen - meist sexuellen - Erleb-
nissen. Gleichzeitig ist er überzeugt davon, dass die Psyche irgendwie im
Hirngewebe repräsentiert sein müsse. Als einer der Ersten trägt er die Idee vor, das
Gehirn bestehe aus untereinander verknüpften Neuronen, die Nervennetze bilden.
Dem Zeitgeist folgend, will Freud die Psychologie als Naturwissenschaft etablieren.
Seine revolutionären Ideen von psychischen Vorgängen wie Trieben, Verdrängung
oder Abwehr versucht er im "Entwurf einer Psychologie" aus dem Jahr 1895
sogleich in die Sprache der Neurophysiologie und Neuroanatomie zu übertragen.
Doch seine Ideen sind der beschränkten Technik seiner Zeit voraus: Mit Skalpell
und Mikroskop lassen sich die elektrischen und biochemischen Korrelate der Seele
nicht nachweisen. Weil ihm - wie er selbst eingesteht - nur "ein Phantasieren,
Übersetzen und Erraten" bleibt, bezeichnet er seinen "Entwurf" als "eine Art
Wahnwitz" und wendet sich enttäuscht von der Neurobiologie ab.
Zwar werde der Tag kommen, an dem "ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des
Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen" aufspürt, schreibt Freud.
Aber: "Vorläufig steht uns nichts Besseres zu Gebote als die psychoanalytische
Technik, und darum sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten."
HUNDERT JAHRE GESCHWISTERSTREIT
Fortan verhielten sich Neurowissenschaften und Psychoanalyse zueinander wie
trotzige Geschwister im Dauerclinch. An die hundert Jahre ringen sie nun schon
um die Deutungshoheit über das menschliche Bewusstsein. Lange schien es, als
habe die Psychoanalyse, die sich wie eine Geheimwissenschaft gegen Kritik und
Überprüfung ihrer Theorien abschottete, den Anschluss verloren.
Unbestritten ist indes der Einfluss des Revolutionärs der Seele auf sämtliche
Bereiche unseres Alltagslebens: Gesellschaft, Kunst, Sprache, Familienbeziehungen
- nahezu alles wird heutzutage durch die Freudsche Moulinette gehäckselt. Wohl
kaum etwas hat den Blick auf das menschliche Dasein so stark verändert wie
Freuds Lehre vom Unbewussten - jener inneren Region, in die der Mensch
unangenehme und angsterregende Ideen und Wünsche verdrängt.
Es waren ungeheuerliche Thesen, mit denen der junge Neurologe seine
Zeitgenossen kränkte: Der Mensch, die Krone der Schöpfung - laut Freud ist er in
Wahrheit nur ein Getriebener seiner unterdrückten sexuellen Wünsche. Während
er glaubt, Herr im eigenen Haus zu sein, regieren im Keller seiner Seele anima-
lische Triebe. Als Sklave seiner verdrängten frühkindlichen Erlebnisse hat er Angst
und weiß nicht, wovor.
Er träumt vom Treppensteigen und meint den Sexualakt. Er will etwas sagen, und
heraus kommt das Gegenteil. Jedem Versprecher, jedem Traum, jeder Phantasie,
so sinnlos sie auch erscheinen mochten, musste ein seelisches Motiv zugrunde
liegen - schließlich unterlag das Seelenleben als Teil der Natur kausalen Gesetzen.
Freuds Patientinnen litten an der schillernden Fin-de-Siècle-Krankheit Hysterie.
Emmy von N. etwa klagte über konvulsive Tics, spastische Sprachhemmungen und
entsetzliche Halluzinationen von Mäusen und sich windenden Schlangen. Auf
Freuds Couch berichtete sie von ihren Träumen, er forderte sie auf, ihren Einfällen
dazu freien Lauf zu lassen.
Aus den Erzählungen seiner Neurotiker glaubte er herauszuhören, dass ihrem
Leiden stets frühe sexuelle Konflikte zugrunde liegen. Die "Redekur", wie Freud die
Psychoanalyse auch nannte, könne diese Neurosen heilen, indem sie die ver-
drängten, krankmachenden Erinnerungen ins Bewusstsein hole.
Erstmals auch lenkt er den Blick auf die weibliche Sexualität, die bis dahin nur
dazu diente, Kinder zu zeugen. Rasch erwirbt die Psychoanalyse deshalb den Ruf
einer Befreiungsbewegung, die mit den Verklemmungen des untergegangenen
Kaiserreichs aufräumt. "Ein guter Psycholog ist im Stande, dich ohne weiters in
seine Lage zu versetzen", spottete hingegen der österreichische Satiriker Karl
Kraus.
Unterdessen war Freud - nicht gegen seinen Willen - zum Propheten einer
quasireligiösen Strömung geworden. Der Siegeszug seiner Erfindung, der Psycho-
analyse, schien unaufhaltsam. Freud starb, hochgeehrt, 1939 im Londoner Exil. In
den Vereinigten Staaten wurden seine im Nazi-Deutschland verfolgten Schüler
empfangen wie Popstars. Rasch eroberten sie Schlüsselpositionen in den psychia-
trischen Kliniken. Freudsche Paradigmen wurden als Universalheilmittel
idealisiert. Krakenhaft dehnte sich die Psychoanalyse mit ihrem Absolutheits-
anspruch in alle Lebensbereiche aus.
Erst in den fünfziger Jahren - in den USA waren die Psychoanalytiker-Praxen
mittlerweile so dicht gesät wie Optikerläden - geriet das überlebensgroße Denkmal
ins Wanken. Die Erfolge der biologischen Psychiatrie und der Neurobiologie
schlugen bald darauf neue, ungeahnte Pfade ins Dickicht des menschlichen
Seelenlebens.
Eines Tages könne es gelingen, mit "chemischen Stoffen die Energiemengen und
deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen", hatte Freud einst
selbst, durchaus hoffnungsvoll, vorhergesagt. Nun war es so weit: Psychiater griffen
in die Stellwerke der Seele ein. Die Psyche war zu einem Gegenstand geworden; ihr
physisches Korrelat, das Gehirn, war der Wissenschaft zugänglich wie Herz oder
Leber.
Die Erkenntnisse, die der Verfasser der "Traumdeutung" an der Couch gewonnen
haben wollte, erschienen dagegen so nebulös wie der Rauch seiner Zigarren. Die
Gegner hatten leichtes Spiel. Das weitverzweigte Theoriegebäude der Psycho-
analyse ließ sich experimentell nicht stützen. Schon Freud selbst war überaus
empfindlich gegen Kritik gewesen und konnte eigene Fehler oft nur schwer einge-
stehen: So hatte er etwa Kokainspritzen als Mittel gegen Depressionen und Arbeits-
unfähigkeit empfohlen, noch als das suchterzeugende Potential des Kokains längst
bekannt war. Eine Überprüfung der therapeutischen Erfolge der Psychoanalyse
hatte er niemals für nötig gehalten.
Seine Nachfolger formierten sich teils sektenartig und wehrten sich erbittert gegen
jegliche Form der wissenschaftlichen Annäherung. Als dann der Psychologe Hans
Eysenck 1952 in London eine Studie vorlegte, nach der die Psychoanalyse die
Genesung der Klienten sogar behindere, brach eine Welle von Hass und Ablehnung
über Freuds Methode herein. Das "Freud-Bashing" kam in Mode: Der Medizin-
Nobelpreisträger Peter Medawar gab die Psychoanalyse in den siebziger Jahren als
"horrendeste Bauernfängerei des Jahrhunderts" zum Abschuss frei. Eine ganze
Generation von Kritikern verhöhnte nun die Freudschen Ideen als Konglomerat
moderner Mythen von Vatermord, Inzest und Penisneid - posthumer Absturz eines
Superstars.
Während 1945 in den USA ein Nicht-Psychoanalytiker kaum eine Chance hatte,
Professor der Psychiatrie zu werden, erhielt in den siebziger Jahren kaum noch ein
überzeugter Analytiker einen Lehrstuhl. Viele Neurologen und Psychiater halten
heute die Psychoanalyse für Scharlatanerie - zumindest aber für ein langwieriges
Luxusverfahren.
Auch als intellektuelle Mode hat die Redekur ausgedient. Nach einem Bericht des
Magazins "Time" behandelten die Mitglieder der American Psychoanalytic
Association im vorletzten Jahr weniger als 5000 Patienten. Der einzige Ort, an dem
noch Patienten auf der Couch liegen, so "Time", seien Woody-Allen-Filme und
"New Yorker"-Cartoons.
In ihren Labors förderten die Rivalen aus der Neurowissenschaft im gleichen Zeit-
raum Kenntnisse zutage, von denen ein halbes Jahrhundert zuvor kein Mensch zu
träumen gewagt hätte: Als enträtselt gelten die Schaltkreise der Wahrnehmung. Bis
in molekulare Abläufe hinein verfolgen Forscher die Biologie des Erinnerns und
der Emotionen. Längst lässt sich die Tätigkeit der Seele als elektrisches
Aktivitätsmuster abbilden.
Francis Crick, der Entdecker der DNA-Struktur, hatte schon Ende der siebziger
Jahre behauptet, man könne das Rätsel des menschlichen Bewusstseins mit
naturwissenschaftlichen Methoden knacken, alles nur eine Frage der Zeit. 1994
wähnte er sich am Ziel: "All Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre
Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit - bei alldem handelt es
sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nerven-
zellen und dazugehörigen Molekülen", verkündete Crick in seinem Buch mit dem
großspurigen Titel "Was die Seele wirklich ist".
Doch die Euphorie reichte nicht weit: Als Crick 2003, ein Jahr vor seinem Tod,
zusammen mit seinem Kollegen Christof Koch eine Ergebnisbilanz der neueren
Hirnforschung zog, gaben die beiden zu, dass auch die subtilste Analyse neuronaler
Vorgänge absolut nichts über die subjektive Seite der menschlichen Erfahrung
aussagt: "Niemand hat bis jetzt irgendeine plausible Erklärung vorgelegt, wie die
Erfahrung der Röte von Rot aus den Vorgängen im Gehirn entsteht."
Das Bewusstsein mag sich darstellen als unendliches Feuern der Neuronen, als
Zusammenwirken der Gene, Proteine und Botenstoffe, als Summe von Biochemie,
Sozialem, Ererbtem. Der Mensch jedoch erlebt all das in einem anderen Aggregat-
zustand: als vielschichtigen inneren Erzählstrom aus Bildern, Worten und Gefühlen
- vage, flüchtig, mit Sprache nur annähernd zu beschreiben.
Warum finde ich Erfüllung? Warum gefällt mir Blau besser als Rot? Warum fühle
ich mich schuldig? - Zu diesen Fragen hat die Hirnforschung, die sich als Leit-
disziplin der Humanwissenschaften positionieren will, bislang keinen Zugang
gefunden. "Die Neuropsychologie ist etwas Großartiges", sagt der New Yorker
Neurologe Oliver Sacks, "aber sie ignoriert die Psyche."
HATTE FREUD DOCH RECHT?
Als Student der Geschichte in Harvard hatte Eric Kandel leidenschaftlich mit
Anhängern Freuds diskutiert. Das war vor 50 Jahren. Heute ist Kandel 75,
Gedächtnisforscher, Nobelpreisträger. "Freuds Entwurf ist das noch immer
schlüssigste und intellektuell befriedigendste Bild des Geistes", gibt er zu
bedenken. "Ein Ansatz, um zu verstehen, warum der menschliche Geist gleichzeitig
Goethe aufnehmen und Konzentrationslager erschaffen kann."
Ein Ansatz mit Schwächen, zugegeben. Immer mehr Analytiker fragen sich heute,
ob ihre Grundkonzepte überhaupt noch stimmen, und machen sich auf die Suche
nach den molekularen Grundlagen des therapeutischen Handwerks. Andere
warnen vor der "Neurologisierung des Psychischen". Und André Green, der betagte
Doyen der französischen Psychoanalyse, mahnte jüngst, die Psychoanalyse sei
keine Wissenschaft und solle gar nicht erst versuchen, eine zu werden.
Doch aus der zersplitterten Gemeinschaft von Freuds Erben treten diejenigen
hervor, die wie Marianne Leuzinger-Bohleber, Leiterin des Sigmund-Freud-
Instituts in Frankfurt am Main, in der Versöhnung mit der Biologie die Zukunft
sehen: "Psychoanalyse und Neurowissenschaften beschäftigen sich mit ähnlichen
Fragen", sagt die Professorin aus der Schweiz. "Unsere Modelle psychischer
Funktionen, die aus der klinischen Beobachtung entstanden sind, dürfen nicht im
Widerspruch zum Erkenntnisstand von Neurobiologie oder Kognitionspsychologie
stehen."
Dabei macht die Hirnforschung den Analytikern durchaus Hoffnung. Der indische
Hirnforscher Vilayanur Ramachandran etwa stimulierte in einem Experiment die
geschädigte rechte Hirnhemisphäre einer Anosognosiepatientin mit einem ein-
fachen sensorischen Reiz: Er träufelte ihr eiskaltes Wasser ins Ohr. Augenblicke
später realisierte die Frau plötzlich, dass sie gelähmt war. Als die Reizwirkung des
Eiswassers nachließ und das Symptom wieder von ihr Besitz ergriff, befragte
Ramachandran sie erneut.
Sie erinnerte sich an alle Details des Experiments, sogar welchen Schlips der Arzt
dabei getragen hatte. Nur daran, dass ihr ihre Lähmung bewusst geworden war,
erinnerte sie sich nicht.
Ramachandran schließt daraus, dass Erinnerungen sehr wohl selektiv unterdrückt
werden können: "Diese Patienten überzeugten mich zum ersten Mal davon, dass an
dem Phänomen der Verdrängung etwas dran sein muss."
Die Führungsrolle des Unbewussten hatte Benjamin Libet schon in den siebziger
Jahren in einem Experiment nachgewiesen: Der Neurophysiologe bat Versuchs-
personen, ihre Hand zu einem selbstgewählten Zeitpunkt zu bewegen. Sie sollten
dabei auf die Uhr sehen und sich merken, wann sie den Befehl: "Finger krümmen"
gegeben hatten. Das irritierende Ergebnis: Schon eine halbe Sekunde bevor die
Testpersonen diese Entscheidung trafen, registrierte das EEG Aktivität in dem
Areal des Gehirns, das die Hand steuert.
Der bewusste Willensakt konnte demnach nicht die Ursache der Handlung sein.
"Wir tun also nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun", so beschreibt
der Münchner Psychologe Wolfgang Prinz die Vorherrschaft des Unbewussten.
Auch einige andere von Freuds Konzepten haben sich in wesentlichen Punkten
bestätigt:
* Die fundamentale Bedeutung der frühen Kindheit wurde durch die Säuglings-
forschung eindrucksvoll nachgewiesen. Angefangen im Mutterleib, bahnen frühe
Erfahrungen neuronale Verknüpfungen im limbischen System, dem Gefühls-
zentrum unseres Gehirns. Diese Verbindungen, die unser Verhalten prägen, sind so
stabil, dass spätere Erfahrungen sie kaum verändern.
* Als "Infantile Amnesie" bezeichnete Freud den Umstand, dass wir uns an
Ereignisse aus der frühesten Kindheit nicht erinnern können. Die Hirnforschung
erklärt, warum: Da die "Verdrahtung" zwischen Neuronen noch unvollkommen ist,
fehlen die nötigen Netzwerke, um Erinnerungen korrekt abzuspeichern. Anfangs
werden Erinnerungen nur vom impliziten (unbewussten) Gedächtnis
aufgenommen. Die Erinnerungen sind aber vorhanden und beeinflussen uns - auch
wenn wir keinen Zugriff auf sie haben.
* Triebe bestimmen tatsächlich unser Leben. Allerdings erschöpft sich das
Triebleben nicht im Freudschen Wechselspiel von Sexualität und Aggression.
Neben einer Reihe von Instinktsystemen, die von Basisemotionen wie Wut, Panik,
Furcht angetrieben werden, haben Hirnforscher das sogenannte Belohnungs- oder
Suchsystem entdeckt - einen Dopamin-Schaltkreis, der bemerkenswerte
Ähnlichkeit mit Freuds "Libido" aufweist.