Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (5 von 6)  Ohne eine in der person des vorbilds unmittelbar erfahrene sicherheit wird kein mensch die größere unsicherheit ertragen lernen, die bewusstes denken heraufbringt .... ``Im kampf um das gute'', schrieb Albert Einstein, ``müssten die lehrer der religion die innere größe haben und die lehre von einem persönlichen gott fahren lassen, das heisst auf jene quelle von furcht und hoffnung verzichten, aus der die priester in der vergangenheit so riesige macht geschöpft haben.'' .... Max Plancks und Albert Einsteins religiosität entstammt nicht mehr dem gewissensgehorsam, sondern dem ``ich- gehorsam''. Unzweifelhaft vollzieht sich hier ein fortschritt zu einer vaterlosen gesellschaft; nicht zu einer, die den vater töten muss, um sich selbst zu bestätigen, sondern zu einer, die erwachsen wird, die von ihm abschied zu nehmen weiss, um auf eigenen füßen zu stehen .... Wenn wir die pathologischen symptome unserer gesellschaft so leidenschaftslos wie die früherer zeit einschätzen, so werden wir zweierlei vaterlosigkeit zu unterscheiden wissen: eine gesellschaft, die den vater verliert, solange die kinder seine rolle für den aufbau ihrer identität bräuchten wie eh und je (und die ohne ihn mutterabhängig auf lebenszeit blieben) - und eine, die den vater besitzt, aber in der die väter eine identität mit sich selbst erreicht haben, die ihnen die lösung vom vatervorbild und vom ausschliesslichen denken in kategorien der vaterschaft ermöglicht. Nur diese gesellschaft kann dann bereiche entwickeln, in denen sie sich als mündig, als selbständig suchend erfährt Vorurteile setzen der spontanen reaktionsbereitschaft grenzen, geben handlungsanweisungen. Zwar stärken sie nicht die kritischen fähigkeiten des ichs, wohl aber das selbstgefühl, wenn es anerkennung findet in der befolgung dessen, was rechtens, anständig, erwünscht, gesichert, unzweifelhaft, allgemein anerkannt ist .... Das wichtigste vom psychologischen standpunkt aus ist hierbei der vorgang des fremdmachens der objekte, die ein feindliches aber auch idealistisch überhöhtes vorurteil trifft Der klatsch .... ist gleichsam der clown, der groteske imitator der höheren kunst, mit vorurteilen umzugehen. Je weniger macht wir in uns verspüren, uns von konventionen befreit verhalten dürfen, desto versteckter der ausweg, auf dem wir uns rächen. Im unauffälligen alltag wird mit kleiner münze bezahlt .... Die ``klatschtante'' gehört zu den funktionären der kommunikationsindustrie. Das spiegelt die konstanz eines zeitlosen bedürfnisses in der anpassung an den prozess der urbanisierung wider. Da nachbarn und passanten mehr und mehr anonym werden, kann man über sie nicht klatschen .... Im grunde ist es gleichgültig, worüber geklatscht wird; hauptsache, es lässt sich ein gemeinsames opfer ausfindig machen .... Die macht des ohnmächtigen ist die üble nachrede .... Und da wir am klatsch so viel freude haben, ist es fraglich, ob wir überhaupt so erwachsen sein wollen, dass wir auf ihn ganz verzichten möchten; zu viel vergnügen ginge dabei verloren Massen - oder: Zweierlei Vaterlosigkeit .... Da das schicksal der vaterlosigkeit - sowohl im sinne des verlustes erster beziehungspersonen wie im sinne der aufgabe, dem vater zu entwachsen - von den gesellschaften unserer zeit ertragen und gestaltet werden muss und da gesellschaft heute eine gesellschaft von massen ist, wollen wir unsere sozialpsychologischen überlegungen mit dem versuch schliessen, einiges zur klärung des begriffs ``masse'' als einer die affekte bewegenden realität beizutragen .... Die massengesellschaft mit ihren arbeitsaufforderungen in abhängigkeit, unter ausschluss der spurenhaften, selbstverantwortlichen leistung, schafft ein riesenheer von rivalisierenden, neidischen geschwistern. Ihr hauptkonflikt ist nicht durch die ödipale rivalität, die mit dem vater um die privilegien des genusses von macht und freiheit ringt, bezeichnet, sondern durch geschwisterneid auf den nachbarn, den konkurrenten, der mehr bekommen hat .... Man will aufsteigen - das heisst aber, man will in erster linie vergünstigungen erlangen, nicht verantwortung übernehmen. ``Man muss nur ansprüche haben, aber stellung beziehen, dass muss und möchte man nicht.'' Die hierarchie in betrieb und verwaltung ist keine, die bis in die alten höhen der väterlichen entscheidungsgewalt hinaufreicht. Wer dort hinauf geschoben wird, erträgt das meist schlecht. Es ist sehr bezeichnend, dass sich dafür eine signatur gefunden hat: die managerkrankheit. Sie ist weniger eine lokaldiagnose als die beschreibung eines typischen zusammenbruchs unter typischer sozialer belastung. Die interessierten Agenten Anlehnungshungriges neidverhalten ist das strukturmerkmal unserer konkurrenzgesellschaft. Es hat durch das entstehen der verwalteten massen das paternistische rivalitätsideal abgelöst .... Von einer solchen identifikation mit einem ordnungsprinzip, das würde verleiht, auch wenn die gehälter spartanisch sind, kann in den industriellen massengesellschaften nicht mehr die rede sein. Der demagoge - es wird immer schwerer, politiker neben ihm zu finden - und der interessenrepräsentant (der mann der ``lobby'') haben solide vorstellungen von dem gewinn, den ihnen der job abwerfen soll; sie selbst fühlen sich nicht verantwortlich, sondern als interessierte agenten von gruppen- oder massenforderungen. Leistungsanspruch, angst vor überflügeltwerden und zurückbleiben durchdringen den ganzen erlebnisbereich des individuums in der massengesellschaft. Die angst vor dem alter hat panisches ausmass; das alter selbst wird zu einem lebensabschnitt großer verlassenheit ohne reziprozität mit den jüngeren generationen. Es ist eine bittere ironie, dass sich zugleich das durchschnittliche lebensalter um jahrzehnte verlängert hat. Die anstrengung, um jeden preis jung zu bleiben, gehört zu den regressiven charakterzügen. Die ewige jugend ist ein imaginiertes ideal; da die interdependenz nur in der geschwisterrivalität erfahren werden kann, fällt man einfach ohne nachklang aus, wenn man ein gewisses alter erreicht hat. Man möchte leben, ohne zu altern; und man altert in wirklichkeit, ohne zu leben. Noch scheinbar entfernte verhaltensgewohnheiten verweisen auf die kontaktstörung zwischen den altersstufen. Ein mächtiger trend in jenen kliniken, die als geburtszentren fungieren, zielt auf die rationalisierung der stillperiode. Flaschenstillung ist rascher, gleichförmiger, arbeitsparender als bruststillung. Die große quote von müttern, die leicht durch den betrieb dazu gebracht werden können, ihre säuglinge nicht selbst zu stillen, beweist, dass die zustände stärker sind als das bedürfnis, eine ordnung, hier eine naturbedingte, zu vollziehen. Die auflösung des sozialkontaktes am anfang und am ende der lebensspanne haben die gleiche wirkursache, die narzisstische regression, zu der die zustände in der hauptperiode des lebens - als arbeits- und genussvollzug - herausfordern. Zu den ordnungsverlusten gehört also auch das fehlen eines identitätsmodelles, in dem eine transformation des ichs in ein alterndes enthalten wäre. Die monotonie des berufsdaseins läuft damit nach der pensionierung weiter - im leerlauf. Der ``pensionierungsbankrott'', psychisch und physisch, ist keine naturgegebene alterserscheinung, sondern das produkt gesellschaftlicher bedingungen, die eine selbstentfremdung in der anpassung übermächtig erzwingen. Jedenfalls ist sie offensichtlich mächtiger als die kritischen widerstandsleistungen, deren das individuum fähig wäre - vorausgesetzt, sie fänden als eine alternative die unterstützung der gleichen gesellschaft. Die schrumpfung des affektiven kontaktes nach dem alten menschen hin ist in sich ein entdifferenzierungsvorgang der gesellschaftlichen struktur. Sie gehört zum typus der gesellschaft moderner dauermassen, die eine amnesie für alles nicht homogen funktionierende entwickeln. Die frustrierte kindheit wird vergessen, die existenz des alters verleugnet Denken ist ein weites feld libidinöser befriedigung; der mensch gibt es nicht ohne grund auf Die perspektivische täuschung, dass vom blickpunkt eines jeden aus die anderen zur masse gehören, bringt uns wieder zum thema: zur horizontalen aggressionsbereitschaft, zur geschwisterrivalität. Da der moderne mensch tatsächlich in vielen situationen auf anonyme oder fast anonyme andere trifft, die durch keine merkmale einem gesicherten status zuzuordnen sind, die ihm aber den weg in der einen oder anderen hinsicht verlegen, wird er diffus auf aggression gestimmt. Sie wird nur unvollkommen durch manipulierte devisen gerichtet Der entindividualisierten ``masse'' entspricht auf der herrschaftsseite das ebenso antlitzlose `system' .... Wo ``kein identifizierbarer einzelner'' die macht in händen hält, besteht dem prinzip nach eine geschwistergesellschaft. Gerade auf diesen zustand ist die gesellschaft nicht vorbereitet. Er hat sich als ein unbeabsichtigtes nebenprodukt der zu höchster zergliederung vorangetriebenen spezialisierung eingeschlichen. Inzwischen ist er zum hauptproblem geworden, dem die produktionsverhältnisse unterzuordnen sind, wenn wir von zuständen zu einer ordnung finden wollen. Denn eine bedrohliche rückwirkung hat die primärgruppe der gesellschaft ergriffen. Die emotionalen beziehungen und die herrschaftsstruktur der familie werden in den stil der unverbindlichen fraternisierung und der einebnung überzeugender rangunterschiede einbezogen .... Die fortschreitende spezialisierung hat, wie wir früher sahen, zur vaterlosigkeit des ersten grades geführt, zum unsichtbarwerden des leiblichen vaters oder, weniger einseitig pointiert: zur schwächung der ersten objektbeziehungen überhaupt. Der eingriff des technischen routinebetriebes schon in die früheste mutter-kind-beziehung ist nicht weniger folgenreich als das verschwinden des hand-in-hand-handelns zwischen vater und kind. Der zweite grad der vaterlosigkeit löst die personale relation der machtverhältnisse überhaupt auf: Man kann sich, obwohl man sie ungemildert erfährt, ``kein bild'' von ihnen machen. Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose) kind wächst zum herrenlosen erwachsenen auf, es übt anonyme funktionen aus und wird von anonymen funktionen gesteuert. Was es sinnfällig erlebt, sind seinesgleichen in unabsehbarer vielzahl Die aggressivität wird - etwa beim verfolgen von wettkämpfen - identifiziert entlastet. Wir sollten jedoch an diesem gemeinschaftserlebnis, das in den festen aller zeiten seine vorläufer hat, den ersatzcharakter nicht übersehen. Sicher verweisen feste - mit ihrem großartigen erlebnis, von den realen pflichten des alltags und den allzuscharfen gewissensforderungen entlastet zu sein - auf die bedrückungen, von denen das fest für kurze zeit befreit; und sicher ist dies auch die ökonomische funktion der großveranstaltungen unserer zeit. Ihre häufigkeit, die an keinen natürlichen rhythmus gebunden ist, und die süchtigkeit, mit der ihnen zugesprochen wird, zeugen für ein erhöhtes bedürfnis nach zuständen der nähe, auch wenn es eine anonyme und momentgebundene bleibt. Der mangel an stabiler gewachsenen ersten objektbeziehungen, das kalte klima in den familiengruppen, in denen man sich wenig oder nichts zu sagen und tatsächlich kaum etwas miteinander zu tun hat, lenkt die affektiven erwartungen zu den stimulierenden massendarbietungen Andere gesellschaftliche einrichtungen können die intimsphäre zwischen mutter und kind niemals gleichwertig ersetzen; urvertrauen erwirbt das kind nur im umgang mit ihr und sonst mit niemandem. Die schmerzlichen erfahrungen der ambivalenz der gefühle, den ersten konkurrenzkonflikt, der beispielhaft für alle späteren bleibt, erfährt man später im umgang mit mutter und vater; alle substitutionen für sie sind weniger, als diese sein können - wenn nicht deformierendes gesellschaftliches schicksal sie untauglich dazu macht. Es gibt keinen ersatz für die vaterbeziehung. Versteht der vater seine rolle und weist er dem kind die seine an, dann kann es ihm die ansätze zu seiner eigenen planenden weitsicht absehen und auch, wie man fehlschläge erträgt. Der vater muss frustrieren, aber er kann es auf eine nicht ersetzbare weise, in der forderungen versöhnlich bleiben. Es sind die wechselseitigen glückenden gefühlsbindungen zwischen mutter, kind und vater, für welche vater wie mutter die erlebnisvoraussetzungen schaffen, die es ihnen erlauben, erziehend zu fordern und mit den forderungen zu versöhnen. Die störungsmöglichkeiten in diesem gefüge haben wir zur genüge erörtert. Zu wiederholen bleibt nur, dass eine zentrale aufgabe der gesellschaft darin besteht, sich die einzigartige situation des menschlichen kindes bewusst zu machen. Die zentrale aufgabe für die erkenntnis liegt bei den humanen aufgaben der erziehung. Im ausüben der sozialen verantwortung - als vater, mutter, lehrer, richter und so weiter - müssen wir eines einfühlenden umganges mit dem kind und seiner schicksalhaften position fähig sein. Wissen wir um seine abhängigkeit und tiefste beeinflussbarkeit, dann erfahren wir erst seine nicht entfremdeten bedürfnisse und können unsere führungsaufgabe ahnen, es zum kritischen bewusstsein hinzuführen. Die these in all unseren ideen zur sozialpsychologie ist, dass die gesellschaft sich selbst dazu erziehen muss, alle interessen, die mit diesem erziehungsziel konkurrieren, ihm unterzuordnen  Der versprechende und terroristisch bedrohende massenführer ersetzt nicht eigentlich den vorhandelnden vater; er ist viel eher - so überraschend das scheinen mag - in der imago einer primitiven muttergottheit unterzubringen. Er selbst gebärdet sich dem gewissen überlegen und fordert zu einer regressiven gehorsams- und bettelhaltung heraus, die zum verhaltensstil des kindes in der präödipalen phase gehört. Versagt er, so wird er aufgegeben wie ein unrentabel gewordenes bergwerk; treue kann er nicht wecken, wenn er keine furcht mehr einflößt, keine versprechungen mehr einlöst. ``Ubi bene ..., das langt; der rest des spruches (... ibi patria) ist überflüssig.'' Die bindung an den ``führer'' hat (trotz lautester gelöbnisse) nie die konfliktreiche stufe der gewissensbildung und gewissensbindung erreicht .... Den vater überwinden wir, im guten, indem wir liebend und verständnisvoll auf ihn als auf einen menschen mit seinen eigentümlichen zügen und schwächen zurückblicken; im schlimmen, indem wir ihm hassend verbunden bleiben, mit dem wunsch, nicht so, sondern anders zu sein. In jedem fall bleibt er in uns, ist spürbarer, bejahter oder gemiedener teil unserer eigenen geschichte Der Riesmansche typus des ``aussengeleiteten'' .... hat nie feste objektverbindungen erfahren; er ist opportunist, nicht aus schwäche des charakters, sondern weil seine charakterentwicklung überhaupt nicht zur stabilität gediehen ist Dahrendorf formuliert ....: “Der innengeleitete mensch braucht die demokratie als ein gerüst für den ausdruck seiner interessen, werte und ideen. Der aussengeleitete mensch kann in einer demokratie leben, aber er braucht sie nicht. Er braucht die gesellschaft, und solange die gesellschaft ihm die richtung und die sicherheit gibt, die er in sich selbst nicht findet, ist es für ihn eine relativ gleichgültige frage, wie die politischen institutionen aussehen, in denen er lebt.” Diese politische indifferenz erinnert uns an den ausgang der Harlowschen versuche mit rhesusaffen; an die liebesunfähigkeit der mit ersatzmüttern aufgezogenen individuen, deren erlebnisvermögen nicht über sie selbst hinausreichte. Liebesunfähigkeit im menschlichen bereich heisst auch unfähigkeit, primäre triebregungen in interessen, in die teilhabe am gesellschaftlichen geschehen umzusetzen, heisst festklammern an den versorgungsquellen und protest, wo sie zu spärlich fliessen, ohne rechenschaft über ein soziales geben und nehmen Die verantwortung der führung bleibt beim führer, der alles weiss. Das ich der vielen verharrt in infantiler unterschlupfhaltung. Jede verantwortung ist nur delegiert; so sagte z.B. Hermann Göring: “Ich habe kein gewissen. Mein gewissen heisst Adolf Hitler” weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
Siegfried Trapp
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Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (5 von 6)   Ohne eine in der person des vorbilds unmittelbar erfahrene sicherheit wird kein mensch die größere unsicherheit ertragen lernen, die bewusstes denken heraufbringt .... ``Im kampf um das gute'', schrieb Albert Einstein, ``müssten die lehrer der religion die innere größe haben und die lehre von einem persönlichen gott fahren lassen, das heisst auf jene quelle von furcht und hoffnung verzichten, aus der die priester in der vergangenheit so riesige macht geschöpft haben.'' .... Max Plancks und Albert Einsteins religiosität entstammt nicht mehr dem gewissensgehorsam, sondern dem ``ich-gehorsam''. Unzweifelhaft vollzieht sich hier ein fortschritt zu einer vaterlosen gesellschaft; nicht zu einer, die den vater töten muss, um sich selbst zu bestätigen, sondern zu einer, die erwachsen wird, die von ihm abschied zu nehmen weiss, um auf eigenen füßen zu stehen .... Wenn wir die pathologischen symptome unserer gesellschaft so leidenschaftslos wie die früherer zeit einschätzen, so werden wir zweierlei vaterlosigkeit zu unterscheiden wissen: eine gesellschaft, die den vater verliert, solange die kinder seine rolle für den aufbau ihrer identität bräuchten wie eh und je (und die ohne ihn mutterabhängig auf lebenszeit blieben) - und eine, die den vater besitzt, aber in der die väter eine identität mit sich selbst erreicht haben, die ihnen die lösung vom vatervorbild und vom ausschliesslichen denken in kategorien der vaterschaft ermöglicht. Nur diese gesellschaft kann dann bereiche entwickeln, in denen sie sich als mündig, als selbständig suchend erfährt Vorurteile setzen der spontanen reaktionsbereitschaft grenzen, geben handlungsanweisungen. Zwar stärken sie nicht die kritischen fähigkeiten des ichs, wohl aber das selbstgefühl, wenn es anerkennung findet in der befolgung dessen, was rechtens, anständig, erwünscht, gesichert, unzweifelhaft, allgemein anerkannt ist .... Das wichtigste vom psychologischen standpunkt aus ist hierbei der vorgang des fremdmachens der objekte, die ein feindliches aber auch idealistisch überhöhtes vorurteil trifft Der klatsch .... ist gleichsam der clown, der groteske imitator der höheren kunst, mit vorurteilen umzugehen. Je weniger macht wir in uns verspüren, uns von konventionen befreit verhalten dürfen, desto versteckter der ausweg, auf dem wir uns rächen. Im unauffälligen alltag wird mit kleiner münze bezahlt .... Die ``klatschtante'' gehört zu den funktionären der kommunikationsindustrie. Das spiegelt die konstanz eines zeitlosen bedürfnisses in der anpassung an den prozess der urbanisierung wider. Da nachbarn und passanten mehr und mehr anonym werden, kann man über sie nicht klatschen .... Im grunde ist es gleichgültig, worüber geklatscht wird; hauptsache, es lässt sich ein gemeinsames opfer ausfindig machen .... Die macht des ohnmächtigen ist die üble nachrede .... Und da wir am klatsch so viel freude haben, ist es fraglich, ob wir überhaupt so erwachsen sein wollen, dass wir auf ihn ganz verzichten möchten; zu viel vergnügen ginge dabei verloren Massen - oder: Zweierlei Vaterlosigkeit .... Da das schicksal der vaterlosigkeit - sowohl im sinne des verlustes erster beziehungspersonen wie im sinne der aufgabe, dem vater zu entwachsen - von den gesellschaften unserer zeit ertragen und gestaltet werden muss und da gesellschaft heute eine gesellschaft von massen ist, wollen wir unsere sozialpsychologischen überlegungen mit dem versuch schliessen, einiges zur klärung des begriffs ``masse'' als einer die affekte bewegenden realität beizutragen .... Die massengesellschaft mit ihren arbeitsaufforderungen in abhängigkeit, unter ausschluss der spurenhaften, selbstverantwortlichen leistung, schafft ein riesenheer von rivalisierenden, neidischen geschwistern. Ihr hauptkonflikt ist nicht durch die ödipale rivalität, die mit dem vater um die privilegien des genusses von macht und freiheit ringt, bezeichnet, sondern durch geschwisterneid auf den nachbarn, den konkurrenten, der mehr bekommen hat .... Man will aufsteigen - das heisst aber, man will in erster linie vergünstigungen erlangen, nicht verantwortung übernehmen. ``Man muss nur ansprüche haben, aber stellung beziehen, dass muss und möchte man nicht.'' Die hierarchie in betrieb und verwaltung ist keine, die bis in die alten höhen der väterlichen entscheidungsgewalt hinaufreicht. Wer dort hinauf geschoben wird, erträgt das meist schlecht. Es ist sehr bezeichnend, dass sich dafür eine signatur gefunden hat: die managerkrankheit. Sie ist weniger eine lokaldiagnose als die beschreibung eines typischen zusammenbruchs unter typischer sozialer belastung. Die interessierten Agenten Anlehnungshungriges neidverhalten ist das strukturmerkmal unserer konkurrenzgesellschaft. Es hat durch das entstehen der verwalteten massen das paternistische rivalitätsideal abgelöst .... Von einer solchen identifikation mit einem ordnungsprinzip, das würde verleiht, auch wenn die gehälter spartanisch sind, kann in den industriellen massengesellschaften nicht mehr die rede sein. Der demagoge - es wird immer schwerer, politiker neben ihm zu finden - und der interessenrepräsentant (der mann der ``lobby'') haben solide vorstellungen von dem gewinn, den ihnen der job abwerfen soll; sie selbst fühlen sich nicht verantwortlich, sondern als interessierte agenten von gruppen- oder massenforderungen. Leistungsanspruch, angst vor überflügeltwerden und zurückbleiben durchdringen den ganzen erlebnisbereich des individuums in der massengesellschaft. Die angst vor dem alter hat panisches ausmass; das alter selbst wird zu einem lebensabschnitt großer verlassenheit ohne reziprozität mit den jüngeren generationen. Es ist eine bittere ironie, dass sich zugleich das durchschnittliche lebensalter um jahrzehnte verlängert hat. Die anstrengung, um jeden preis jung zu bleiben, gehört zu den regressiven charakterzügen. Die ewige jugend ist ein imaginiertes ideal; da die interdependenz nur in der geschwisterrivalität erfahren werden kann, fällt man einfach ohne nachklang aus, wenn man ein gewisses alter erreicht hat. Man möchte leben, ohne zu altern; und man altert in wirklichkeit, ohne zu leben. Noch scheinbar entfernte verhaltensgewohnheiten verweisen auf die kontaktstörung zwischen den altersstufen. Ein mächtiger trend in jenen kliniken, die als geburtszentren fungieren, zielt auf die rationalisierung der stillperiode. Flaschenstillung ist rascher, gleichförmiger, arbeitsparender als bruststillung. Die große quote von müttern, die leicht durch den betrieb dazu gebracht werden können, ihre säuglinge nicht selbst zu stillen, beweist, dass die zustände stärker sind als das bedürfnis, eine ordnung, hier eine naturbedingte, zu vollziehen. Die auflösung des sozialkontaktes am anfang und am ende der lebensspanne haben die gleiche wirkursache, die narzisstische regression, zu der die zustände in der hauptperiode des lebens - als arbeits- und genussvollzug - herausfordern. Zu den ordnungsverlusten gehört also auch das fehlen eines identitätsmodelles, in dem eine transformation des ichs in ein alterndes enthalten wäre. Die monotonie des berufsdaseins läuft damit nach der pensionierung weiter - im leerlauf. Der ``pensionierungsbankrott'', psychisch und physisch, ist keine naturgegebene alterserscheinung, sondern das produkt gesellschaftlicher bedingungen, die eine selbstentfremdung in der anpassung übermächtig erzwingen. Jedenfalls ist sie offensichtlich mächtiger als die kritischen widerstandsleistungen, deren das individuum fähig wäre - vorausgesetzt, sie fänden als eine alternative die unterstützung der gleichen gesellschaft. Die schrumpfung des affektiven kontaktes nach dem alten menschen hin ist in sich ein entdifferenzierungsvorgang der gesellschaftlichen struktur. Sie gehört zum typus der gesellschaft moderner dauermassen, die eine amnesie für alles nicht homogen funktionierende entwickeln. Die frustrierte kindheit wird vergessen, die existenz des alters verleugnet Denken ist ein weites feld libidinöser befriedigung; der mensch gibt es nicht ohne grund auf Die perspektivische täuschung, dass vom blickpunkt eines jeden aus die anderen zur masse gehören, bringt uns wieder zum thema: zur horizontalen aggressionsbereitschaft, zur geschwisterrivalität. Da der moderne mensch tatsächlich in vielen situationen auf anonyme oder fast anonyme andere trifft, die durch keine merkmale einem gesicherten status zuzuordnen sind, die ihm aber den weg in der einen oder anderen hinsicht verlegen, wird er diffus auf aggression gestimmt. Sie wird nur unvollkommen durch manipulierte devisen gerichtet Der entindividualisierten ``masse'' entspricht auf der herrschaftsseite das ebenso antlitzlose `system' .... Wo ``kein identifizierbarer einzelner'' die macht in händen hält, besteht dem prinzip nach eine geschwistergesellschaft. Gerade auf diesen zustand ist die gesellschaft nicht vorbereitet. Er hat sich als ein unbeabsichtigtes nebenprodukt der zu höchster zergliederung vorangetriebenen spezialisierung eingeschlichen. Inzwischen ist er zum hauptproblem geworden, dem die produktionsverhältnisse unterzuordnen sind, wenn wir von zuständen zu einer ordnung finden wollen. Denn eine bedrohliche rückwirkung hat die primärgruppe der gesellschaft ergriffen. Die emotionalen beziehungen und die herrschaftsstruktur der familie werden in den stil der unverbindlichen fraternisierung und der einebnung überzeugender rangunterschiede einbezogen .... Die fortschreitende spezialisierung hat, wie wir früher sahen, zur vaterlosigkeit des ersten grades geführt, zum unsichtbarwerden des leiblichen vaters oder, weniger einseitig pointiert: zur schwächung der ersten objektbeziehungen überhaupt. Der eingriff des technischen routinebetriebes schon in die früheste mutter-kind- beziehung ist nicht weniger folgenreich als das verschwinden des hand-in-hand- handelns zwischen vater und kind. Der zweite grad der vaterlosigkeit löst die personale relation der machtverhältnisse überhaupt auf: Man kann sich, obwohl man sie ungemildert erfährt, ``kein bild'' von ihnen machen. Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose) kind wächst zum herrenlosen erwachsenen auf, es übt anonyme funktionen aus und wird von anonymen funktionen gesteuert. Was es sinnfällig erlebt, sind seinesgleichen in unabsehbarer vielzahl Die aggressivität wird - etwa beim verfolgen von wettkämpfen - identifiziert entlastet. Wir sollten jedoch an diesem gemeinschaftserlebnis, das in den festen aller zeiten seine vorläufer hat, den ersatzcharakter nicht übersehen. Sicher verweisen feste - mit ihrem großartigen erlebnis, von den realen pflichten des alltags und den allzuscharfen gewissensforderungen entlastet zu sein - auf die bedrückungen, von denen das fest für kurze zeit befreit; und sicher ist dies auch die ökonomische funktion der großveranstaltungen unserer zeit. Ihre häufigkeit, die an keinen natürlichen rhythmus gebunden ist, und die süchtigkeit, mit der ihnen zugesprochen wird, zeugen für ein erhöhtes bedürfnis nach zuständen der nähe, auch wenn es eine anonyme und momentgebundene bleibt. Der mangel an stabiler gewachsenen ersten objektbeziehungen, das kalte klima in den familiengruppen, in denen man sich wenig oder nichts zu sagen und tatsächlich kaum etwas miteinander zu tun hat, lenkt die affektiven erwartungen zu den stimulierenden massendarbietungen Andere gesellschaftliche einrichtungen können die intimsphäre zwischen mutter und kind niemals gleichwertig ersetzen; urvertrauen erwirbt das kind nur im umgang mit ihr und sonst mit niemandem. Die schmerzlichen erfahrungen der ambivalenz der gefühle, den ersten konkurrenzkonflikt, der beispielhaft für alle späteren bleibt, erfährt man später im umgang mit mutter und vater; alle substitutionen für sie sind weniger, als diese sein können - wenn nicht deformierendes gesellschaftliches schicksal sie untauglich dazu macht. Es gibt keinen ersatz für die vaterbeziehung. Versteht der vater seine rolle und weist er dem kind die seine an, dann kann es ihm die ansätze zu seiner eigenen planenden weitsicht absehen und auch, wie man fehlschläge erträgt. Der vater muss frustrieren, aber er kann es auf eine nicht ersetzbare weise, in der forderungen versöhnlich bleiben. Es sind die wechselseitigen glückenden gefühlsbindungen zwischen mutter, kind und vater, für welche vater wie mutter die erlebnisvoraussetzungen schaffen, die es ihnen erlauben, erziehend zu fordern und mit den forderungen zu versöhnen. Die störungsmöglichkeiten in diesem gefüge haben wir zur genüge erörtert. Zu wiederholen bleibt nur, dass eine zentrale aufgabe der gesellschaft darin besteht, sich die einzigartige situation des menschlichen kindes bewusst zu machen. Die zentrale aufgabe für die erkenntnis liegt bei den humanen aufgaben der erziehung. Im ausüben der sozialen verantwortung - als vater, mutter, lehrer, richter und so weiter - müssen wir eines einfühlenden umganges mit dem kind und seiner schicksalhaften position fähig sein. Wissen wir um seine abhängigkeit und tiefste beeinflussbarkeit, dann erfahren wir erst seine nicht entfremdeten bedürfnisse und können unsere führungsaufgabe ahnen, es zum kritischen bewusstsein hinzuführen. Die these in all unseren ideen zur sozialpsychologie ist, dass die gesellschaft sich selbst dazu erziehen muss, alle interessen, die mit diesem erziehungsziel konkurrieren, ihm unterzuordnen  Der versprechende und terroristisch bedrohende massenführer ersetzt nicht eigentlich den vorhandelnden vater; er ist viel eher - so überraschend das scheinen mag - in der imago einer primitiven muttergottheit unterzubringen. Er selbst gebärdet sich dem gewissen überlegen und fordert zu einer regressiven gehorsams- und bettelhaltung heraus, die zum verhaltensstil des kindes in der präödipalen phase gehört. Versagt er, so wird er aufgegeben wie ein unrentabel gewordenes bergwerk; treue kann er nicht wecken, wenn er keine furcht mehr einflößt, keine versprechungen mehr einlöst. ``Ubi bene ..., das langt; der rest des spruches (... ibi patria) ist überflüssig.'' Die bindung an den ``führer'' hat (trotz lautester gelöbnisse) nie die konfliktreiche stufe der gewissensbildung und gewissensbindung erreicht .... Den vater überwinden wir, im guten, indem wir liebend und verständnisvoll auf ihn als auf einen menschen mit seinen eigentümlichen zügen und schwächen zurückblicken; im schlimmen, indem wir ihm hassend verbunden bleiben, mit dem wunsch, nicht so, sondern anders zu sein. In jedem fall bleibt er in uns, ist spürbarer, bejahter oder gemiedener teil unserer eigenen geschichte Der Riesmansche typus des ``aussengeleiteten'' .... hat nie feste objektverbindungen erfahren; er ist opportunist, nicht aus schwäche des charakters, sondern weil seine charakterentwicklung überhaupt nicht zur stabilität gediehen ist Dahrendorf formuliert ....: “Der innengeleitete mensch braucht die demokratie als ein gerüst für den ausdruck seiner interessen, werte und ideen. Der aussengeleitete mensch kann in einer demokratie leben, aber er braucht sie nicht. Er braucht die gesellschaft, und solange die gesellschaft ihm die richtung und die sicherheit gibt, die er in sich selbst nicht findet, ist es für ihn eine relativ gleichgültige frage, wie die politischen institutionen aussehen, in denen er lebt.” Diese politische indifferenz erinnert uns an den ausgang der Harlowschen versuche mit rhesusaffen; an die liebesunfähigkeit der mit ersatzmüttern aufgezogenen individuen, deren erlebnisvermögen nicht über sie selbst hinausreichte. Liebesunfähigkeit im menschlichen bereich heisst auch unfähigkeit, primäre triebregungen in interessen, in die teilhabe am gesellschaftlichen geschehen umzusetzen, heisst festklammern an den versorgungsquellen und protest, wo sie zu spärlich fliessen, ohne rechenschaft über ein soziales geben und nehmen Die verantwortung der führung bleibt beim führer, der alles weiss. Das ich der vielen verharrt in infantiler unterschlupfhaltung. Jede verantwortung ist nur delegiert; so sagte z.B. Hermann Göring: “Ich habe kein gewissen. Mein gewissen heisst Adolf Hitler” weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
 
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