Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
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Ohne eine in der person des vorbilds unmittelbar erfahrene sicherheit wird kein
mensch die größere unsicherheit ertragen lernen, die bewusstes denken heraufbringt ....
``Im kampf um das gute'', schrieb Albert Einstein, ``müssten die lehrer der religion die
innere größe haben und die lehre von einem persönlichen gott fahren lassen, das heisst
auf jene quelle von furcht und hoffnung verzichten, aus der die priester in der
vergangenheit so riesige macht geschöpft haben.'' .... Max Plancks und Albert Einsteins
religiosität entstammt nicht mehr dem gewissensgehorsam, sondern dem ``ich-
gehorsam''. Unzweifelhaft vollzieht sich hier ein fortschritt zu einer vaterlosen
gesellschaft; nicht zu einer, die den vater töten muss, um sich selbst zu bestätigen,
sondern zu einer, die erwachsen wird, die von ihm abschied zu nehmen weiss, um auf
eigenen füßen zu stehen .... Wenn wir die pathologischen symptome unserer gesellschaft
so leidenschaftslos wie die früherer zeit einschätzen, so werden wir zweierlei
vaterlosigkeit zu unterscheiden wissen: eine gesellschaft, die den vater verliert, solange
die kinder seine rolle für den aufbau ihrer identität bräuchten wie eh und je (und die
ohne ihn mutterabhängig auf lebenszeit blieben) - und eine, die den vater besitzt, aber in
der die väter eine identität mit sich selbst erreicht haben, die ihnen die lösung vom
vatervorbild und vom ausschliesslichen denken in kategorien der vaterschaft
ermöglicht. Nur diese gesellschaft kann dann bereiche entwickeln, in denen sie sich als
mündig, als selbständig suchend erfährt
Vorurteile setzen der spontanen reaktionsbereitschaft grenzen, geben
handlungsanweisungen. Zwar stärken sie nicht die kritischen fähigkeiten des ichs, wohl
aber das selbstgefühl, wenn es anerkennung findet in der befolgung dessen, was
rechtens, anständig, erwünscht, gesichert, unzweifelhaft, allgemein anerkannt ist .... Das
wichtigste vom psychologischen standpunkt aus ist hierbei der vorgang des
fremdmachens der objekte, die ein feindliches aber auch idealistisch überhöhtes
vorurteil trifft
Der klatsch .... ist gleichsam der clown, der groteske imitator der höheren kunst, mit
vorurteilen umzugehen.
Je weniger macht wir in uns verspüren, uns von konventionen befreit verhalten dürfen,
desto versteckter der ausweg, auf dem wir uns rächen. Im unauffälligen alltag wird mit
kleiner münze bezahlt .... Die ``klatschtante'' gehört zu den funktionären der
kommunikationsindustrie. Das spiegelt die konstanz eines zeitlosen bedürfnisses in der
anpassung an den prozess der urbanisierung wider. Da nachbarn und passanten mehr
und mehr anonym werden, kann man über sie nicht klatschen .... Im grunde ist es
gleichgültig, worüber geklatscht wird; hauptsache, es lässt sich ein gemeinsames opfer
ausfindig machen .... Die macht des ohnmächtigen ist die üble nachrede .... Und da wir
am klatsch so viel freude haben, ist es fraglich, ob wir überhaupt so erwachsen sein
wollen, dass wir auf ihn ganz verzichten möchten; zu viel vergnügen ginge dabei
verloren
Massen - oder: Zweierlei Vaterlosigkeit
....
Da das schicksal der vaterlosigkeit - sowohl im sinne des verlustes erster
beziehungspersonen wie im sinne der aufgabe, dem vater zu entwachsen - von den
gesellschaften unserer zeit ertragen und gestaltet werden muss und da gesellschaft heute
eine gesellschaft von massen ist, wollen wir unsere sozialpsychologischen überlegungen
mit dem versuch schliessen, einiges zur klärung des begriffs ``masse'' als einer die
affekte bewegenden realität beizutragen ....
Die massengesellschaft mit ihren arbeitsaufforderungen in abhängigkeit, unter
ausschluss der spurenhaften, selbstverantwortlichen leistung, schafft ein riesenheer von
rivalisierenden, neidischen geschwistern. Ihr hauptkonflikt ist nicht durch die ödipale
rivalität, die mit dem vater um die privilegien des genusses von macht und freiheit ringt,
bezeichnet, sondern durch geschwisterneid auf den nachbarn, den konkurrenten, der
mehr bekommen hat .... Man will aufsteigen - das heisst aber, man will in erster linie
vergünstigungen erlangen, nicht verantwortung übernehmen. ``Man muss nur
ansprüche haben, aber stellung beziehen, dass muss und möchte man nicht.'' Die
hierarchie in betrieb und verwaltung ist keine, die bis in die alten höhen der väterlichen
entscheidungsgewalt hinaufreicht. Wer dort hinauf geschoben wird, erträgt das meist
schlecht. Es ist sehr bezeichnend, dass sich dafür eine signatur gefunden hat: die
managerkrankheit. Sie ist weniger eine lokaldiagnose als die beschreibung eines
typischen zusammenbruchs unter typischer sozialer belastung.
Die interessierten Agenten
Anlehnungshungriges neidverhalten ist das strukturmerkmal unserer
konkurrenzgesellschaft. Es hat durch das entstehen der verwalteten massen das
paternistische rivalitätsideal abgelöst .... Von einer solchen identifikation mit einem
ordnungsprinzip, das würde verleiht, auch wenn die gehälter spartanisch sind, kann in
den industriellen massengesellschaften nicht mehr die rede sein. Der demagoge - es
wird immer schwerer, politiker neben ihm zu finden - und der interessenrepräsentant
(der mann der ``lobby'') haben solide vorstellungen von dem gewinn, den ihnen der job
abwerfen soll; sie selbst fühlen sich nicht verantwortlich, sondern als interessierte
agenten von gruppen- oder massenforderungen.
Leistungsanspruch, angst vor überflügeltwerden und zurückbleiben durchdringen den
ganzen erlebnisbereich des individuums in der massengesellschaft. Die angst vor dem
alter hat panisches ausmass; das alter selbst wird zu einem lebensabschnitt großer
verlassenheit ohne reziprozität mit den jüngeren generationen. Es ist eine bittere ironie,
dass sich zugleich das durchschnittliche lebensalter um jahrzehnte verlängert hat. Die
anstrengung, um jeden preis jung zu bleiben, gehört zu den regressiven charakterzügen.
Die ewige jugend ist ein imaginiertes ideal; da die interdependenz nur in der
geschwisterrivalität erfahren werden kann, fällt man einfach ohne nachklang aus, wenn
man ein gewisses alter erreicht hat. Man möchte leben, ohne zu altern; und man altert in
wirklichkeit, ohne zu leben.
Noch scheinbar entfernte verhaltensgewohnheiten verweisen auf die kontaktstörung
zwischen den altersstufen. Ein mächtiger trend in jenen kliniken, die als geburtszentren
fungieren, zielt auf die rationalisierung der stillperiode. Flaschenstillung ist rascher,
gleichförmiger, arbeitsparender als bruststillung. Die große quote von müttern, die
leicht durch den betrieb dazu gebracht werden können, ihre säuglinge nicht selbst zu
stillen, beweist, dass die zustände stärker sind als das bedürfnis, eine ordnung, hier eine
naturbedingte, zu vollziehen. Die auflösung des sozialkontaktes am anfang und am ende
der lebensspanne haben die gleiche wirkursache, die narzisstische regression, zu der die
zustände in der hauptperiode des lebens - als arbeits- und genussvollzug -
herausfordern. Zu den ordnungsverlusten gehört also auch das fehlen eines
identitätsmodelles, in dem eine transformation des ichs in ein alterndes enthalten wäre.
Die monotonie des berufsdaseins läuft damit nach der pensionierung weiter - im
leerlauf. Der ``pensionierungsbankrott'', psychisch und physisch, ist keine
naturgegebene alterserscheinung, sondern das produkt gesellschaftlicher bedingungen,
die eine selbstentfremdung in der anpassung übermächtig erzwingen. Jedenfalls ist sie
offensichtlich mächtiger als die kritischen widerstandsleistungen, deren das individuum
fähig wäre - vorausgesetzt, sie fänden als eine alternative die unterstützung der gleichen
gesellschaft. Die schrumpfung des affektiven kontaktes nach dem alten menschen hin ist
in sich ein entdifferenzierungsvorgang der gesellschaftlichen struktur. Sie gehört zum
typus der gesellschaft moderner dauermassen, die eine amnesie für alles nicht homogen
funktionierende entwickeln. Die frustrierte kindheit wird vergessen, die existenz des
alters verleugnet
Denken ist ein weites feld libidinöser befriedigung; der mensch gibt es nicht ohne grund
auf
Die perspektivische täuschung, dass vom blickpunkt eines jeden aus die anderen zur
masse gehören, bringt uns wieder zum thema: zur horizontalen aggressionsbereitschaft,
zur geschwisterrivalität. Da der moderne mensch tatsächlich in vielen situationen auf
anonyme oder fast anonyme andere trifft, die durch keine merkmale einem gesicherten
status zuzuordnen sind, die ihm aber den weg in der einen oder anderen hinsicht
verlegen, wird er diffus auf aggression gestimmt. Sie wird nur unvollkommen durch
manipulierte devisen gerichtet
Der entindividualisierten ``masse'' entspricht auf der herrschaftsseite das ebenso
antlitzlose `system' .... Wo ``kein identifizierbarer einzelner'' die macht in händen hält,
besteht dem prinzip nach eine geschwistergesellschaft.
Gerade auf diesen zustand ist die gesellschaft nicht vorbereitet. Er hat sich als ein
unbeabsichtigtes nebenprodukt der zu höchster zergliederung vorangetriebenen
spezialisierung eingeschlichen. Inzwischen ist er zum hauptproblem geworden, dem die
produktionsverhältnisse unterzuordnen sind, wenn wir von zuständen zu einer ordnung
finden wollen. Denn eine bedrohliche rückwirkung hat die primärgruppe der
gesellschaft ergriffen. Die emotionalen beziehungen und die herrschaftsstruktur der
familie werden in den stil der unverbindlichen fraternisierung und der einebnung
überzeugender rangunterschiede einbezogen ....
Die fortschreitende spezialisierung hat, wie wir früher sahen, zur vaterlosigkeit des
ersten grades geführt, zum unsichtbarwerden des leiblichen vaters oder, weniger
einseitig pointiert: zur schwächung der ersten objektbeziehungen überhaupt. Der
eingriff des technischen routinebetriebes schon in die früheste mutter-kind-beziehung
ist nicht weniger folgenreich als das verschwinden des hand-in-hand-handelns zwischen
vater und kind. Der zweite grad der vaterlosigkeit löst die personale relation der
machtverhältnisse überhaupt auf: Man kann sich, obwohl man sie ungemildert erfährt,
``kein bild'' von ihnen machen. Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose) kind
wächst zum herrenlosen erwachsenen auf, es übt anonyme funktionen aus und wird von
anonymen funktionen gesteuert. Was es sinnfällig erlebt, sind seinesgleichen in
unabsehbarer vielzahl
Die aggressivität wird - etwa beim verfolgen von wettkämpfen - identifiziert entlastet.
Wir sollten jedoch an diesem gemeinschaftserlebnis, das in den festen aller zeiten seine
vorläufer hat, den ersatzcharakter nicht übersehen. Sicher verweisen feste - mit ihrem
großartigen erlebnis, von den realen pflichten des alltags und den allzuscharfen
gewissensforderungen entlastet zu sein - auf die bedrückungen, von denen das fest für
kurze zeit befreit; und sicher ist dies auch die ökonomische funktion der
großveranstaltungen unserer zeit. Ihre häufigkeit, die an keinen natürlichen rhythmus
gebunden ist, und die süchtigkeit, mit der ihnen zugesprochen wird, zeugen für ein
erhöhtes bedürfnis nach zuständen der nähe, auch wenn es eine anonyme und
momentgebundene bleibt. Der mangel an stabiler gewachsenen ersten
objektbeziehungen, das kalte klima in den familiengruppen, in denen man sich wenig
oder nichts zu sagen und tatsächlich kaum etwas miteinander zu tun hat, lenkt die
affektiven erwartungen zu den stimulierenden massendarbietungen
Andere gesellschaftliche einrichtungen können die intimsphäre zwischen mutter und
kind niemals gleichwertig ersetzen; urvertrauen erwirbt das kind nur im umgang mit ihr
und sonst mit niemandem.
Die schmerzlichen erfahrungen der ambivalenz der gefühle, den ersten
konkurrenzkonflikt, der beispielhaft für alle späteren bleibt, erfährt man später im
umgang mit mutter und vater; alle substitutionen für sie sind weniger, als diese sein
können - wenn nicht deformierendes gesellschaftliches schicksal sie untauglich dazu
macht. Es gibt keinen ersatz für die vaterbeziehung. Versteht der vater seine rolle und
weist er dem kind die seine an, dann kann es ihm die ansätze zu seiner eigenen
planenden weitsicht absehen und auch, wie man fehlschläge erträgt. Der vater muss
frustrieren, aber er kann es auf eine nicht ersetzbare weise, in der forderungen
versöhnlich bleiben. Es sind die wechselseitigen glückenden gefühlsbindungen zwischen
mutter, kind und vater, für welche vater wie mutter die erlebnisvoraussetzungen
schaffen, die es ihnen erlauben, erziehend zu fordern und mit den forderungen zu
versöhnen.
Die störungsmöglichkeiten in diesem gefüge haben wir zur genüge erörtert. Zu
wiederholen bleibt nur, dass eine zentrale aufgabe der gesellschaft darin besteht, sich
die einzigartige situation des menschlichen kindes bewusst zu machen. Die zentrale
aufgabe für die erkenntnis liegt bei den humanen aufgaben der erziehung. Im ausüben
der sozialen verantwortung - als vater, mutter, lehrer, richter und so weiter - müssen wir
eines einfühlenden umganges mit dem kind und seiner schicksalhaften position fähig
sein. Wissen wir um seine abhängigkeit und tiefste beeinflussbarkeit, dann erfahren wir
erst seine nicht entfremdeten bedürfnisse und können unsere führungsaufgabe ahnen,
es zum kritischen bewusstsein hinzuführen. Die these in all unseren ideen zur
sozialpsychologie ist, dass die gesellschaft sich selbst dazu erziehen muss, alle
interessen, die mit diesem erziehungsziel konkurrieren, ihm unterzuordnen
Der versprechende und terroristisch bedrohende massenführer ersetzt nicht eigentlich
den vorhandelnden vater; er ist viel eher - so überraschend das scheinen mag - in der
imago einer primitiven muttergottheit unterzubringen. Er selbst gebärdet sich dem
gewissen überlegen und fordert zu einer regressiven gehorsams- und bettelhaltung
heraus, die zum verhaltensstil des kindes in der präödipalen phase gehört. Versagt er, so
wird er aufgegeben wie ein unrentabel gewordenes bergwerk; treue kann er nicht
wecken, wenn er keine furcht mehr einflößt, keine versprechungen mehr einlöst. ``Ubi
bene ..., das langt; der rest des spruches (... ibi patria) ist überflüssig.'' Die bindung an
den ``führer'' hat (trotz lautester gelöbnisse) nie die konfliktreiche stufe der
gewissensbildung und gewissensbindung erreicht ....
Den vater überwinden wir, im guten, indem wir liebend und verständnisvoll auf ihn als
auf einen menschen mit seinen eigentümlichen zügen und schwächen zurückblicken; im
schlimmen, indem wir ihm hassend verbunden bleiben, mit dem wunsch, nicht so,
sondern anders zu sein. In jedem fall bleibt er in uns, ist spürbarer, bejahter oder
gemiedener teil unserer eigenen geschichte
Der Riesmansche typus des ``aussengeleiteten'' .... hat nie feste objektverbindungen
erfahren; er ist opportunist, nicht aus schwäche des charakters, sondern weil seine
charakterentwicklung überhaupt nicht zur stabilität gediehen ist
Dahrendorf formuliert ....: “Der innengeleitete mensch braucht die demokratie als ein
gerüst für den ausdruck seiner interessen, werte und ideen. Der aussengeleitete mensch
kann in einer demokratie leben, aber er braucht sie nicht. Er braucht die gesellschaft,
und solange die gesellschaft ihm die richtung und die sicherheit gibt, die er in sich selbst
nicht findet, ist es für ihn eine relativ gleichgültige frage, wie die politischen
institutionen aussehen, in denen er lebt.” Diese politische indifferenz erinnert uns an
den ausgang der Harlowschen versuche mit rhesusaffen; an die liebesunfähigkeit der
mit ersatzmüttern aufgezogenen individuen, deren erlebnisvermögen nicht über sie
selbst hinausreichte. Liebesunfähigkeit im menschlichen bereich heisst auch
unfähigkeit, primäre triebregungen in interessen, in die teilhabe am gesellschaftlichen
geschehen umzusetzen, heisst festklammern an den versorgungsquellen und protest, wo
sie zu spärlich fliessen, ohne rechenschaft über ein soziales geben und nehmen
Die verantwortung der führung bleibt beim führer, der alles weiss. Das ich der vielen
verharrt in infantiler unterschlupfhaltung. Jede verantwortung ist nur delegiert; so sagte
z.B. Hermann Göring: “Ich habe kein gewissen. Mein gewissen heisst Adolf Hitler”
weiterlesen
Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
Siegfried
Trapp
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