Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
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Ohne den prozess der identifizierung kann keine gruppenbildung geschehen ....
Identifizierung heisst: Wir errichten das objekt, mit dem wir uns gleichfühlen wollen,
in uns. Dazu bedarf es einer aus der vielzahl hervorragenden person. Wer nun zum
führer wird, hängt keineswegs allein von überragenden qualitäten einer person ab,
sondern mindestens ebenso von den bedürfnissen der gruppe
Nun spielt der gehorsam bei der bildung unseres deutschen nationalcharakters seit je
eine überragende rolle .... Nur in der ausnahme, nicht im leitbild erscheint gehorsam
in diesem nationalen habitus als ich-``gehorsam'' - in der regel vielmehr als eine
synthese aus trieb- und ziemlich ichfremdem moral-gehorsam .... die
gehorsamsleistung an sich nimmt den höchsten rang unter den werten ein ....
Schuld, wie wir sie verstehen, ist ein inneres erlebnis, das seine prägung vorwiegend in
der jüdisch-protestantischen mittelklasse der europäer gefunden hat. In anderen
kulturen zentriert sich das erleben des individuums in situationen, die es mit den
gesellschaftlichen geboten in konflikt bringen, in anderen erfahrungen. In der
japanischen gesellschaft etwa steht das erlebnis der scham weit im vordergrund.
Kollektive verantwortung und kollektivschuld definiert [Margaret] Mead als
``individuelles schulderleben für das verhalten der gruppe, besonders der nation''. Ein
solches schulderleben wird es freilich nur dort geben, wo uns der inhalt des
gehorsams, der zu schuld führte, zum bewussten erlebnis und zum problem werden
kann; wo die gehorsamsfunktion als wert jedem inhalt übergeordnet bleibt, kann
schuld oder scham nur aus dem verstoss gegen sie erwachsen. Die gesellschaft muss
dem individuum deshalb die möglichkeit geben, sich nach kräften eines konstruktiven
ungehorsams bedienen zu dürfen ....
Der sozialorganisation Englands scheint hier eine vereinigung der gegensätze von
notwendiger botmäßigkeit und ebenso notwendiger unbotmäßigkeit geglückt zu sein.
Dort ist der staatsbürger der gesellschaft in zweifacher weise verbunden: Er fühlt sich
persönlich verantwortlich, weil er die freiheit besitzt, seiner kritik jederzeit ausdruck
zu geben und ihr etwa durch die wahl eines abgeordneten oppositioneller richtung ins
parlament nachdruck zu verleihen. Aber er bleibt darüber hinaus gruppenidentifiziert
mit der nation, die sich in der monarchie symbolisiert .... Er könnte, wenn seine
regierung durch einen sprecher erklären ließe, wie es etwa die deutsche durch den
generalgouverneur für Polen, Hans Frank, tat: ``Grundsätzlich werden wir nur mit
dem deutschen volk mitleid haben, mit sonst niemandem auf der welt'' - er könnte
sich also niemals von einer solchen erklärung und der verantwortung für die
handlungen, die daraus folgten, distanzieren.
.... Schuld ist hierzulande nicht an das unterlassen einer kritischen prüfung geknüpft,
sondern allein an die verletzung der gehorsamspflicht .... Kaum je erklärte sich einer
für schuldig; schuldig waren nur die oberen, die befehlenden
Wir haben das englische beispiel der doppelten identifizierung als einen noch nicht
verbrauchten ordnungsgedanken erwähnt. Er stellt einen kontrast zur doppelten
vaterlosigkeit dar. Das system der englischen staatsordnung als oberster ebene der
sozialstruktur verbindet die geschwistergesellschaft der erwachsenen bürger mit der
erfahrung gemeinsamer verantwortung, die sich symbolisch im königshaus darbietet.
Wenn wir .... unter symbol ``eine verdichtete anschauungsform eines
erlebnisvollzuges'' verstehen .... konstitutionelle(n) monarchie .... macht .... als symbol
die gemeinsame abkunft vom gleichen vater anschaubar. Sie verbürgt eine kollektive
identität, die legitimität aller kinder
Es ging uns um die struktur der massengesellschaft und um die frage, von welchem
ansatzpunkt aus eine gegenbewegung zur regression ihren ausgang nehmen könnte.
Es genügt, wenn dabei klar wurde, dass das warten auf erlösende ``große männer'',
mit Samuel Beckett zu sprechen, ein ``Warten auf Godot'' ist
Auch als perverse, als sadisten blieben diese führer im vektor, den das vaterbild deckt;
und so ist auch das öffentliche bewusstsein bereit, ihnen eine zwischen bewunderung
und entsetzen schwankende anerkennung als makabre größen zu erweisen.
Sehr verschieden davon mutet der unbändige, eindeutige hass an, den sich die
idealistischen köpfe, die für ein uniertes rätesystem kämpften, etwa die beiden
anführer des Spartakusaufstandes, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zuzogen ....
Im rätesystem wurde, wie Paul Federn in einer studie schon 1919 sah, ``der
sicherheitsgewinn der uralten wunscherfüllung'', von einem mächtigen vater
abzuhängen, in frage gestellt. Denn die kinder sind es seit je nur gewohnt, ``unter der
zucht des vaters und aus scheu vor ihm sich zu vertragen''
Der vater wird als gewährender und versagender erlebt, die ambivalenz der gefühle
wird an ihm ausgetragen und zur (wie weit auch immer glückenden) ordnung gebracht
.... Die homosexuelle beziehung zwischen vater und sohn wird von den kulturellen
tabus zur sublimierung gezwungen. Diese tabus gehören zu den am tiefsten
gesicherten .... Zu den grundaufgaben der sozialisierung des menschen gehört die
sichere einübung in seiner geschlechtsrolle; er wird nicht als bisexuelles wesen sozial
erkennbar, sonder eindeutig als ein auf seine männliche oder weibliche rolle
geprägtes. Aus der psychoanalytischen erfahrung wissen wir ferner, dass diese
rolleneinpassung eine viel schwierigere ist, als es nach dem definitiv signalisierten
rollenhabitus erscheinen mag .... Das paternistische herrschaftsbild, wie wir es
kennen, übt demnach einen entscheidenden einfluss auf die art und weise aus, wie
sich die sexuelle identität unter der repression der bisexuellen neigungen bildet. Bricht
dieses vaterbild in sich zusammen, wie etwa das der feudalaristokratie und monarchie
des ersten weltkrieges, so muss dies eine weit hinter das bewusstsein reichende
triebunruhe schaffen. Die als allerstärkste selbstverständlichkeit empfundene
rollensicherheit wird durch den verlust der orientierung am vater erschüttert. Die
beziehung der söhne untereinander wird intensiviert und um den teil der libidinösen
wie aggressiven bindungen an den vater verstärkt.
Offenbar wird die annäherung an eine stärker erotisch getönte beziehung am
schlechtesten ertragen, weil ihr die bewusstseinsfernsten bindungen an die
geschlechtsrolle entgegenwirken. Statt dessen tritt die neidproblematik mit aller
gewalt hervor; sie wird nicht mehr von der vaterautorität gezügelt
Die gesellschaft rechnet zu leicht mit einem domestizierten wesen mensch. Die großen
wenden der geschichte beweisen uns, dass nichts an seiner kulturellen anpassung
definitiv ist. Es gibt keine humanität von instinktiver qualität .... Die menschliche
würde muss früh respektiert werden, wenn sie die richtschnur in verhältnissen bleiben
soll, die wir jetzt noch gar nicht kennen
Nachwort und Dank
....
Die lücken, die durch die zurückweisung von wahrnehmung entstehen, werden durch
pseudologik verdeckt. Ihre täuschenden aussagen sind durch eine hohe affektive besetzung
geschützt; an sie zu rühren weckt missbehagen und oft angst in einer stärke, der das kritische ich
nicht gewachsen ist
...
Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
Siegfried
Trapp
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