Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (6 von 6)   Ohne den prozess der identifizierung kann keine gruppenbildung geschehen .... Identifizierung heisst: Wir errichten das objekt, mit dem wir uns gleichfühlen wollen, in uns. Dazu bedarf es einer aus der vielzahl hervorragenden person. Wer nun zum führer wird, hängt keineswegs allein von überragenden qualitäten einer person ab, sondern mindestens ebenso von den bedürfnissen der gruppe Nun spielt der gehorsam bei der bildung unseres deutschen nationalcharakters seit je eine überragende rolle .... Nur in der ausnahme, nicht im leitbild erscheint gehorsam in diesem nationalen habitus als ich-``gehorsam'' - in der regel vielmehr als eine synthese aus trieb- und ziemlich ichfremdem moral-gehorsam .... die gehorsamsleistung an sich nimmt den höchsten rang unter den werten ein .... Schuld, wie wir sie verstehen, ist ein inneres erlebnis, das seine prägung vorwiegend in der jüdisch-protestantischen mittelklasse der europäer gefunden hat. In anderen kulturen zentriert sich das erleben des individuums in situationen, die es mit den gesellschaftlichen geboten in konflikt bringen, in anderen erfahrungen. In der japanischen gesellschaft etwa steht das erlebnis der scham weit im vordergrund. Kollektive verantwortung und kollektivschuld definiert [Margaret] Mead als ``individuelles schulderleben für das verhalten der gruppe, besonders der nation''. Ein solches schulderleben wird es freilich nur dort geben, wo uns der inhalt des gehorsams, der zu schuld führte, zum bewussten erlebnis und zum problem werden kann; wo die gehorsamsfunktion als wert jedem inhalt übergeordnet bleibt, kann schuld oder scham nur aus dem verstoss gegen sie erwachsen. Die gesellschaft muss dem individuum deshalb die möglichkeit geben, sich nach kräften eines konstruktiven ungehorsams bedienen zu dürfen .... Der sozialorganisation Englands scheint hier eine vereinigung der gegensätze von notwendiger botmäßigkeit und ebenso notwendiger unbotmäßigkeit geglückt zu sein. Dort ist der staatsbürger der gesellschaft in zweifacher weise verbunden: Er fühlt sich persönlich verantwortlich, weil er die freiheit besitzt, seiner kritik jederzeit ausdruck zu geben und ihr etwa durch die wahl eines abgeordneten oppositioneller richtung ins parlament nachdruck zu verleihen. Aber er bleibt darüber hinaus gruppenidentifiziert mit der nation, die sich in der monarchie symbolisiert .... Er könnte, wenn seine regierung durch einen sprecher erklären ließe, wie es etwa die deutsche durch den generalgouverneur für Polen, Hans Frank, tat: ``Grundsätzlich werden wir nur mit dem deutschen volk mitleid haben, mit sonst niemandem auf der welt'' - er könnte sich also niemals von einer solchen erklärung und der verantwortung für die handlungen, die daraus folgten, distanzieren. .... Schuld ist hierzulande nicht an das unterlassen einer kritischen prüfung geknüpft, sondern allein an die verletzung der gehorsamspflicht .... Kaum je erklärte sich einer für schuldig; schuldig waren nur die oberen, die befehlenden Wir haben das englische beispiel der doppelten identifizierung als einen noch nicht verbrauchten ordnungsgedanken erwähnt. Er stellt einen kontrast zur doppelten vaterlosigkeit dar. Das system der englischen staatsordnung als oberster ebene der sozialstruktur verbindet die geschwistergesellschaft der erwachsenen bürger mit der erfahrung gemeinsamer verantwortung, die sich symbolisch im königshaus darbietet. Wenn wir .... unter symbol ``eine verdichtete anschauungsform eines erlebnisvollzuges'' verstehen .... konstitutionelle(n) monarchie .... macht .... als symbol die gemeinsame abkunft vom gleichen vater anschaubar. Sie verbürgt eine kollektive identität, die legitimität aller kinder Es ging uns um die struktur der massengesellschaft und um die frage, von welchem ansatzpunkt aus eine gegenbewegung zur regression ihren ausgang nehmen könnte. Es genügt, wenn dabei klar wurde, dass das warten auf erlösende ``große männer'', mit Samuel Beckett zu sprechen, ein ``Warten auf Godot'' ist Auch als perverse, als sadisten blieben diese führer im vektor, den das vaterbild deckt; und so ist auch das öffentliche bewusstsein bereit, ihnen eine zwischen bewunderung und entsetzen schwankende anerkennung als makabre größen zu erweisen. Sehr verschieden davon mutet der unbändige, eindeutige hass an, den sich die idealistischen köpfe, die für ein uniertes rätesystem kämpften, etwa die beiden anführer des Spartakusaufstandes, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zuzogen .... Im rätesystem wurde, wie Paul Federn in einer studie schon 1919 sah, ``der sicherheitsgewinn der uralten wunscherfüllung'', von einem mächtigen vater abzuhängen, in frage gestellt. Denn die kinder sind es seit je nur gewohnt, ``unter der zucht des vaters und aus scheu vor ihm sich zu vertragen'' Der vater wird als gewährender und versagender erlebt, die ambivalenz der gefühle wird an ihm ausgetragen und zur (wie weit auch immer glückenden) ordnung gebracht .... Die homosexuelle beziehung zwischen vater und sohn wird von den kulturellen tabus zur sublimierung gezwungen. Diese tabus gehören zu den am tiefsten gesicherten .... Zu den grundaufgaben der sozialisierung des menschen gehört die sichere einübung in seiner geschlechtsrolle; er wird nicht als bisexuelles wesen sozial erkennbar, sonder eindeutig als ein auf seine männliche oder weibliche rolle geprägtes. Aus der psychoanalytischen erfahrung wissen wir ferner, dass diese rolleneinpassung eine viel schwierigere ist, als es nach dem definitiv signalisierten rollenhabitus erscheinen mag .... Das paternistische herrschaftsbild, wie wir es kennen, übt demnach einen entscheidenden einfluss auf die art und weise aus, wie sich die sexuelle identität unter der repression der bisexuellen neigungen bildet. Bricht dieses vaterbild in sich zusammen, wie etwa das der feudalaristokratie und monarchie des ersten weltkrieges, so muss dies eine weit hinter das bewusstsein reichende triebunruhe schaffen. Die als allerstärkste selbstverständlichkeit empfundene rollensicherheit wird durch den verlust der orientierung am vater erschüttert. Die beziehung der söhne untereinander wird intensiviert und um den teil der libidinösen wie aggressiven bindungen an den vater verstärkt. Offenbar wird die annäherung an eine stärker erotisch getönte beziehung am schlechtesten ertragen, weil ihr die bewusstseinsfernsten bindungen an die geschlechtsrolle entgegenwirken. Statt dessen tritt die neidproblematik mit aller gewalt hervor; sie wird nicht mehr von der vaterautorität gezügelt Die gesellschaft rechnet zu leicht mit einem domestizierten wesen mensch. Die großen wenden der geschichte beweisen uns, dass nichts an seiner kulturellen anpassung definitiv ist. Es gibt keine humanität von instinktiver qualität .... Die menschliche würde muss früh respektiert werden, wenn sie die richtschnur in verhältnissen bleiben soll, die wir jetzt noch gar nicht kennen Nachwort und Dank .... Die lücken, die durch die zurückweisung von wahrnehmung entstehen, werden durch pseudologik verdeckt. Ihre täuschenden aussagen sind durch eine hohe affektive besetzung geschützt; an sie zu rühren weckt missbehagen und oft angst in einer stärke, der das kritische ich nicht gewachsen ist ... Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
Siegfried Trapp
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Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (6 von 6)  Ohne den prozess der identifizierung kann keine gruppenbildung geschehen .... Identifizierung heisst: Wir errichten das objekt, mit dem wir uns gleichfühlen wollen, in uns. Dazu bedarf es einer aus der vielzahl hervorragenden person. Wer nun zum führer wird, hängt keineswegs allein von überragenden qualitäten einer person ab, sondern mindestens ebenso von den bedürfnissen der gruppe Nun spielt der gehorsam bei der bildung unseres deutschen nationalcharakters seit je eine überragende rolle .... Nur in der ausnahme, nicht im leitbild erscheint gehorsam in diesem nationalen habitus als ich-``gehorsam'' - in der regel vielmehr als eine synthese aus trieb- und ziemlich ichfremdem moral-gehorsam .... die gehorsamsleistung an sich nimmt den höchsten rang unter den werten ein .... Schuld, wie wir sie verstehen, ist ein inneres erlebnis, das seine prägung vorwiegend in der jüdisch- protestantischen mittelklasse der europäer gefunden hat. In anderen kulturen zentriert sich das erleben des individuums in situationen, die es mit den gesellschaftlichen geboten in konflikt bringen, in anderen erfahrungen. In der japanischen gesellschaft etwa steht das erlebnis der scham weit im vordergrund. Kollektive verantwortung und kollektivschuld definiert [Margaret] Mead als ``individuelles schulderleben für das verhalten der gruppe, besonders der nation''. Ein solches schulderleben wird es freilich nur dort geben, wo uns der inhalt  des gehorsams, der zu schuld führte, zum bewussten erlebnis und zum problem werden kann; wo die gehorsamsfunktion als wert jedem inhalt übergeordnet bleibt, kann schuld oder scham nur aus dem verstoss gegen sie erwachsen. Die gesellschaft muss dem individuum deshalb die möglichkeit geben, sich nach kräften eines konstruktiven ungehorsams  bedienen zu dürfen .... Der sozialorganisation Englands scheint hier eine vereinigung der gegensätze von notwendiger botmäßigkeit und ebenso notwendiger unbotmäßigkeit geglückt zu sein. Dort ist der staatsbürger der gesellschaft in zweifacher weise verbunden: Er fühlt sich persönlich verantwortlich, weil er die freiheit besitzt, seiner kritik jederzeit ausdruck zu geben und ihr etwa durch die wahl eines abgeordneten oppositioneller richtung ins parlament nachdruck zu verleihen. Aber er bleibt darüber hinaus gruppenidentifiziert mit der nation, die sich in der monarchie symbolisiert .... Er könnte, wenn seine regierung durch einen sprecher erklären ließe, wie es etwa die deutsche durch den generalgouverneur für Polen, Hans Frank, tat: ``Grundsätzlich werden wir nur mit dem deutschen volk mitleid haben, mit sonst niemandem auf der welt'' - er könnte sich also niemals von einer solchen erklärung und der verantwortung für die handlungen, die daraus folgten, distanzieren. .... Schuld ist hierzulande nicht an das unterlassen einer kritischen prüfung geknüpft, sondern allein an die verletzung der gehorsamspflicht .... Kaum je erklärte sich einer für schuldig; schuldig waren nur die oberen, die befehlenden Wir haben das englische beispiel der doppelten identifizierung als einen noch nicht verbrauchten ordnungsgedanken erwähnt. Er stellt einen kontrast zur doppelten vaterlosigkeit dar. Das system der englischen staatsordnung als oberster ebene der sozialstruktur verbindet die geschwistergesellschaft der erwachsenen bürger mit der erfahrung gemeinsamer verantwortung, die sich symbolisch im königshaus darbietet. Wenn wir .... unter symbol ``eine verdichtete anschauungsform eines erlebnisvollzuges'' verstehen .... konstitutionelle(n) monarchie .... macht .... als symbol die gemeinsame abkunft vom gleichen vater anschaubar. Sie verbürgt eine kollektive identität, die legitimität aller kinder Es ging uns um die struktur der massengesellschaft und um die frage, von welchem ansatzpunkt aus eine gegenbewegung zur regression ihren ausgang nehmen könnte. Es genügt, wenn dabei klar wurde, dass das warten auf erlösende ``große männer'', mit Samuel Beckett zu sprechen, ein ``Warten auf Godot'' ist Auch als perverse, als sadisten blieben diese führer im vektor, den das vaterbild deckt; und so ist auch das öffentliche bewusstsein bereit, ihnen eine zwischen bewunderung und entsetzen schwankende anerkennung als makabre größen zu erweisen. Sehr verschieden davon mutet der unbändige, eindeutige hass an, den sich die idealistischen köpfe, die für ein uniertes rätesystem kämpften, etwa die beiden anführer des Spartakusaufstandes, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zuzogen .... Im rätesystem wurde, wie Paul Federn in einer studie schon 1919 sah, ``der sicherheitsgewinn der uralten wunscherfüllung'', von einem mächtigen vater abzuhängen, in frage gestellt. Denn die kinder sind es seit je nur gewohnt, ``unter der zucht des vaters und aus scheu vor ihm sich zu vertragen'' Der vater wird als gewährender und versagender erlebt, die ambivalenz der gefühle wird an ihm ausgetragen und zur (wie weit auch immer glückenden) ordnung gebracht .... Die homosexuelle beziehung zwischen vater und sohn wird von den kulturellen tabus zur sublimierung gezwungen. Diese tabus gehören zu den am tiefsten gesicherten .... Zu den grundaufgaben der sozialisierung des menschen gehört die sichere einübung in seiner geschlechtsrolle; er wird nicht als bisexuelles wesen sozial erkennbar, sonder eindeutig als ein auf seine männliche oder weibliche rolle geprägtes. Aus der psychoanalytischen erfahrung wissen wir ferner, dass diese rolleneinpassung eine viel schwierigere ist, als es nach dem definitiv signalisierten rollenhabitus erscheinen mag .... Das paternistische herrschaftsbild, wie wir es kennen, übt demnach einen entscheidenden einfluss auf die art und weise aus, wie sich die sexuelle identität unter der repression der bisexuellen neigungen bildet. Bricht dieses vaterbild in sich zusammen, wie etwa das der feudalaristokratie und monarchie des ersten weltkrieges, so muss dies eine weit hinter das bewusstsein reichende triebunruhe schaffen. Die als allerstärkste selbstverständlichkeit empfundene rollensicherheit wird durch den verlust der orientierung am vater erschüttert. Die beziehung der söhne untereinander wird intensiviert und um den teil der libidinösen wie aggressiven bindungen an den vater verstärkt. Offenbar wird die annäherung an eine stärker erotisch getönte beziehung am schlechtesten ertragen, weil ihr die bewusstseinsfernsten bindungen an die geschlechtsrolle entgegenwirken. Statt dessen tritt die neidproblematik mit aller gewalt hervor; sie wird nicht mehr von der vaterautorität gezügelt Die gesellschaft rechnet zu leicht mit einem domestizierten wesen mensch. Die großen wenden der geschichte beweisen uns, dass nichts an seiner kulturellen anpassung definitiv ist. Es gibt keine humanität von instinktiver qualität .... Die menschliche würde muss früh respektiert werden, wenn sie die richtschnur in verhältnissen bleiben soll, die wir jetzt noch gar nicht kennen Nachwort und Dank .... Die lücken, die durch die zurückweisung von wahrnehmung entstehen, werden durch pseudologik verdeckt. Ihre täuschenden aussagen sind durch eine hohe affektive besetzung geschützt; an sie zu rühren weckt missbehagen und oft angst in einer stärke, der das kritische ich nicht gewachsen ist ... Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
 
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