Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (4 von 6)   Sehr genau beschreibt Nietzsche diesen tradierten gewissensgehorsam: ``Der inhalt unseres gewissens ist alles, was in den jahren der kindheit von uns ohne grund regelmässig gefordert wurde, durch personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom gewissen aus wird also jenes gefühl des müssens erregt (`dies muss ich tun, dieses lassen'), welches nicht fragt: warum muss ich? - in allen fällen, wo eine sache mit `weil' und `warum' getan wird, handelt der mensch ohne gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe. - Der glaube an autoritäten ist die quelle des gewissens: es ist also nicht die stimme gottes in der brust des menschen, sondern die stimme einiger menschen im menschen.'' Wo ein solches gewissen gut funktioniert, sichert es die praktische anpassung und kaschiert mehr oder weniger erfolgreich die szenen kollektiver gewissenlosigkeit. ``Alle sogenannten praktischen menschen'', sagt Nietzsche wenig später, ``haben ein geschick zum dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für andere oder für sich selbst. Robinson besaß noch einen besseren diener, als Freitag war: das war Crusoe.'' Der einfluss der westlich aufklärerischen idee vom selbstbestimmungsrecht der völker trifft an manchen orten auf autochthone soziale und politische traditionen, die keineswegs vor dieser idee kapitulieren, sondern sie auf internationaler ebene vorerst zur erpressung verwenden und sie damit in ihren puren unsinn verwandeln .... Den grossgruppen gegenüber erscheint der anspruch produktiver einordnung wie eine beleidigung des selbstwertes. Es gibt keinen internationalen umgangsstil der mäßigung, der wie alle stile zwänge in sich schließen müsste, denen die tonangebenden gruppen vorbildlichen nachdruck verleihen müssten. Da die großmächte jedoch fast durchgängig keineswegs größere reife in der bewältigung internationaler konflikte an den tag legen, tragen sie dazu bei, dass ein brutaler irrationalismus - Vietnam! - zum internationalen verhaltensstil wird. Der aufgeblasene nationalismus der kleinen ist die ohnmachtsgeste der hilflosigkeit in machtkonstellationen übernationaler art, in denen der kleine entdeckt, dass er so einflusslos bleibt, wie er es in den zeiten des kolonialismus war. So kommt es, dass die alten nationen, denen die errichtung der untergehenden imperialen systeme gelungen war, keine überzeugende, d.h. problemlösende autorität mehr besitzen. Sie gleichen eltern, die sich mit ihren adoleszenten kindern in dauerfehde befinden, erpresst werden, weil ihre doppelmoral nicht zu verhüllen ist. Die der adoleszenz vergleichbaren entwicklungskrisen kollektiver gebilde scheinen aber um so krisengefährdeter, je weniger ambivalenz in der periode bis zur gewaltsamen erlangung der autonomie geschlichtet und in inneren leitbildern organisiert wurde. Die rivalisierenden paternitären konstruktionen der imperialen kolonialmethode waren offenbar keine gute vorbereitung für die autonomie, nicht der beste initiationsritus. Wenn irgendein slogan irreführend ist, dann doch der von der ``völkerfamilie''. Denn es gibt kein volk, das bereit wäre, seine ``kindlichkeit'' und ``unmündigkeit'' freiwillig anzuerkennen Die neue entmündigung wird verführerisch mit versorgungsanspruch bezahlt Exkurs: Vom geahnten zum gelenkten Tabu .... (Freud) Das erste menschenpaar, das den apfel pflückte, verletzte das tabu. Die abgrenzung eines verbotenen bezirkes gehört ebenso uralt zur lebensart des menschen wie der wunsch, in den heilig-unheimlichen bereich einzudringen. ``Das tabu ist ein uraltes verbot, von aussen (von einer autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten gelüste des menschen gerichtet. Die lust, es zu übertreten, besteht in deren unterbewusstem fort; die menschen, die dem tabu gehorchen, haben eine ambivalente einstellung gegen das vom tabu betroffene.'' Doch ist ausser dem - zwar in seiner reichweite ausserordentlich schwankenden, aber überall gültigen - inzesttabu in den verschiedenen kulturgruppen sehr verschiedenes von tabuschranken geschützt. Dafür steht keine andere erklärung offen als die, dass den ``stärksten gelüsten'' des menschen nur eine prinzipielle schranke, aber keine inhaltlich genau festgelegte entgegengesetzt ist. Seine triebe sind nicht definitiv objektgebunden und zyklisch reguliert; er lebt von einer geschichtlichen anpassung zur nächsten und schafft sich zugleich die zur anpassung herausfordernden neuen lebensbedingungen .... Aber schon das verbotene zu denken ist ein angstauslösender schock; oft fordert das vorwegnehmende phantasieren einer tabuverletzung mehr mut als die spätere handlung Rollen .... Wir sehen diese xenophobie, diese furcht vor dem fremden, darin begründet, dass abweichende lebens- und urteilsgewohnheiten das mühsam aufrechterhaltene gleichgewicht zwischen versagungen und gewährungen der eigenen sozialen ordnungen zu stören drohen. Besondere missbilligung findet dann etwa eine eheliche verbindung über die schranken der eigenen sozialgruppe hinweg oder auch die ausübung eines berufes, der nicht als standesgemäß gilt. Die starke binnenorientierung der stände, kasten, klassen, konfessionen, aber auch der berufsgruppen mit langer traditionsordnung - von den binnenorientierungen der sprachgruppen zu schweigen - erweckt ein sicherheitsgefühl, das nur in der reizbarkeit gegen abweichungen etwas von der anstrengung verrät, die es kostet, durch konformität seiner selbst gewiss zu sein. Das fremde ist nicht nur draussen, sondern auch im individuum stets gegenwärtig. Die mühe, welche die tonangebenden schichten auf die erzieherische beeinflussung des jungen menschen, auf seine indoktrinierung mit der moral und dem gebilligten verhaltenskodex aufwenden, beweist uns, dass bei dieser kultivierenden einpassung ``bedingte reflexe'' eingeschliffen werden; was nichts anderes bedeuten kann als die organisierung des individuums auf einer psychischen ebene, die das kritische ich weitgehend ausschaltet. Das potentielle ich jedes einzelnen wird damit zum feind und fremden erklärt, jede von ihm ausgehende ``aufklärung'' erfährt erst einmal den widerstand durch die communis opinio  Neue formen der knechtschaft sind aber mit dem selbstgefühl deshalb leichter zu verbinden, weil die privilegierte schicht, die sich zu etablieren beginnt, aus den eigenen reihen hervorgegangen ist und ihr machteinfluss nicht den beigeschmack von fremdherrschaft hat. Als solche wurde aber, wegen der sozialen berührungsfurcht, die sie zeigten, das regime der herrschenden klassen in der feudalgesellschaft und das kapitalistisch-imperiale bürgertum erlebt Wir beobachten also, dass die möglichkeit zur kritischen durchdringung der eigenen lage unentwegt dem übernehmen von rollen und stereotypen vorurteilen geopfert wird. Die zwänge, die hier wirken, entstammen älteren evolutionsstufen und geschichtlich langen epochen: Sie konkurrieren übermächtig mit der bewussteren entscheidung Keine rolle kann - ohne vergewaltigung der wirklichkeit - einen schlüssel für alle situationen bieten, die dem begegnen möchten, der in ihr steckt. Wer sich so in ihr verstecken will, versteckt in der rolle sein selbst. Bis zur groteske verzerrt zeigt sich dieses verstecken des selbst unter umständen an der rolle des richters, der sich in seinen gesetzen definiert wähnt und auf diese weise die wirklichkeit beugt. Die faktische unsicherheit des rollenverhaltens in einer welt nicht vorausgesehener konfliktsituationen befördert aber den ängstlichen rückzug in stereotypes handeln und urteilen von trostloser originalitätsarmut. Der ausserordentliche reibungsverlust in der von mammutbürokratien gelenkten großgesellschaft wird oft beklagt. Darin wird aber die erfahrungsarmut in der handhabung neuer lagen sichtbar; genügsamkeit mit der rolle heisst hier vermehrte scheu vor verantwortung, die vage nach ``oben'' delegiert wird. Das fördert eine phantasiearmut, der es nicht einfällt, auf angemessenere lösungen zu sinnen Unsere bisherigen beobachtungen lassen sich dahin summieren, dass alte rollenschemata eine lebensdauer über die tiefgreifenden änderungen der sozialen wirklichkeit hinweg beweisen; obgleich sie dann nicht mehr funktionen im dienst einer lebenden, sondern einer vergangenen ordnung vollbringen lassen - ihr schema wird festgehalten, weil die unlust, neues, störendes erfahren zu müssen, die neugier auszulöschen vermag .... Rollen können festgefügten ordnungen angemessen sein; wenn die fundamente erschüttert sind, treten die bizarrsten rollenmuster auf, in denen regressiv angstlinderung gesucht wird .... Evolution zum bewusstsein heisst aufklärung .... An die stelle einer im menschen sich selbst verwirklichenden vernunft tritt also der versuch, in beharrlicher analyse zu erforschen, wieviel vernunft zu zeigen ihm seine welt eigentlich gestattet Die sozialen rollenschemata, von denen man in den modernen gesellschaftswissenschaften spricht, sind komplexe gehorsamsgestalten .... Das problem, das die evolution zum bewusstsein ebenso wie die unübersichtlichkeit der bestimmenden einflüsse in den großgesellschaften stellt, kann in nuce formuliert werden: Wie gelingt es, ein reziprokes verzahnen der rollen und der statuspositionen herzustellen, das nicht allein oder überwiegend einem hierarchischen vostellungsmodell folgt? Weisung von oben und befolgung in den tieferen sozialen positionen ist eine ordnungsidee, deren einwegsystem, wie wir zeigten, nicht mehr ausreicht. Reichere und zu den normen auf allen ebenen beitragende initiativen, die eine integration durch absprache finden, wären die alternative leitidee .... Psychologisch können wir von rollen nicht sprechen, ohne uns jener ``doppelrollen'' zu erinnern, die wir immer auch spielen. Es sind nicht nur agenten und spione, nicht nur intriganten und heuchler, die so zweigesichtig handeln. Am besten wird man der rollenproblematik gewahr, wenn man untersucht, wie sie sich zum vorwand verhält. Der polizist, der einwandfrei seinen dienst versieht und im zuge der geschäfte auch einmal eigenhändig einige tausend ``staatsfeinde'' gemordet hat, schwamm für diese strecke seines lebens auf der höhe seiner zeit - und nicht, wie uns die moralisten hinterher einzureden bemüht sind, in deren schlamm. Rollen zum vorwand exzentrischer gelüste zu benützen ist eine konstante versuchung - in manchen historischen augenblicken gelingt die überrumpelung auf allen ebenen .... Wenn in der uniform im kader das eigene gesicht verschwimmt, so in mord und schändung die wirklichkeit des anderen; er wird zum fetischding für den autistischen drang Das Übersteigen der Rolle In solchen automatismen masochistischer und sadistischer art gehen es und über-ich eine so feste bindung ein, dass dem ich nurmehr die niedere dienstleistung bleibt, den vorwand plausibel zu machen .... Der exzess ist einer inflation vergleichbar; die währung bleibt die gleiche Rollen sind, wo sie nicht zu einer bandenhaften gruppenstruktur führen, vorgegebene techniken der triebmeisterung für ein leben in der gesellschaft. Aber sie haben eine gleichsam augenzwinkernde lebenserfahrung auf ihrer seite, die davon weiss, dass auch unter moralischer prämisse eine menge unverfeinerter, egoistischer triebwünsche unterzubringen sind. Und darin nicht zuletzt gründet die rollengenügsamkeit des menschen Vorurteile und ihre Manipulierung Grundrechte - die Antithese zum Vorurteil Die macht der vorurteile über die menschen ist so riesengroß, dass jeder versuch, sich ihren einfluss zu vergegenwärtigen, hinter der wirklichkeit zurückbleibt. Jede psychologische theorie des vorurteils ist immer noch verharmlosung; es ist viel schlimmer. Übertreibung ist hier leider kaum möglich. Unser alltag ist voll von entscheidungen, die durch vorurteile erzwungen werden .... Ein vorurteil kann erst dann dem denken als solches erscheinen, wenn es gelingt, seine herkunft zu entziffern .... ``Sage mir, welche vorurteile du hast, und ich sage dir, in welchem herrschaftstypus du zu hause bist.'' Unsere rechtsbücher sind durchsetzt von vorurteilen, die nichts mit einer rechtsordnung - im sinne unseres grundgesetzes etwa -, aber alles mit der psychischen ökonomie der gruppen zu tun haben, denen es gelungen ist, ihre vorurteilshaltung bis zum kodifizierten recht zu erheben Das jeweilige vorurteil, an dem festgehalten wird, soll gegen störungen aus der fremden um- und innenwelt absichern .... meist .... durch ein ganzes vorurteils- geflecht Identifikationen sind unerlässlich zum finden der eigenen identität. Entwickelt sich aber eine so starre bindung an das fremde ich, dass sie nicht wieder gelöst werden kann, so bildet sich eine falsche identität, eine falsche persönlichkeit, die in ihrer entwicklung blockiert ist. Das wort ``falsch'' gilt es abermals mit großer vorsicht zu handhaben. Uns allen haften ungelöste bindungen aus identifikationen an. Worauf wir abzielen, ist die feststellung der neurotischen, kranken bindungsformen, der hörigkeit, die sich in vorurteilen, die wir nicht abzuschütteln vermögen, äussert Es gäbe keine vorurteile, wenn wir in der lage wären, alles zu bedenken und dann zu beurteilen. Unsere urteilskraft ist jedoch in zweifacher hinsicht begrenzt. Wir erleben zeitgenössisch eine unabsehbare fülle von ereignissen, in denen fortwährend entschieden wird. Man käme zu nichts, wollte man alles nachprüfen .... Mut können wir in diesem zusammenhang als konsistenz der ichstruktur bezeichnen; es gelingt dem ich, sein objekt gegen einsprüche des über-ichs und des es und natürlich auch gegen die einschüchterungen aus der sozialen mitwelt festzuhalten und nach eigenen maßstäben urteilend mit ihm umzugehen .... Arbeitsteilung heisst notwendigerweise erfahrungs- und dann urteilsteilung. Arbeitsteilung kombiniert mit vielfacher nötigung zur übernahme pauschaler affekteinstellungen ist die denkbar gefährlichste gesellschaftliche konstellation. Es ist die situation, in der wir leben .... Um noch einmal die mutfrage aufzugreifen: Wir wagen es nicht, uns die motive unseres eigenen handelns einzugestehen. Aus dieser scheu heraus projizieren wir auf mitmenschen und institutionen .... Es ist eine banale wahrheit: Wir blicken den dingen und menschen nicht gern mutig ins auge .... Der erste schritt misslingt meist schon: einzusehen, dass die angst aus einschüchterungen und strafandrohungen der kindheit stammt, dass die realität an den stellen, an denen wir angst zeigen, oft gar nicht so gefährlich ist .... Ist viel angst vor magischen drohungen im spiel, so verdichten sich vorurteile zu den großen tabus .... Das ich anerkennt die tabus als seine ideale. Das ist die list der dienenden vernunft, um das lustprinzip wiederherzustellen Herrschaftsverhältnisse sind machtverhältnisse und als solche keineswegs an aufgeklärten verstand gebunden. Die uralte gebärdensprache der macht probiert auch in den kompliziertesten gesellschaftsformen noch ebenso wie einst in sippe und horde aus, wer stärker und wer schwächer ist. Die kunst, vorurteilslogik an echter zu messen, kann aber am erfolgreichsten in der beobachtung des eigenen verhaltens geübt werden .... Wird unlust zu ertragen nicht gelehrt oder wird jeder nonkonformismus mit brutaler strafe bedroht, so ist die vorurteilsbereitschaft schliesslich der letzte ausweg, um reste des lustprinzips zu retten Wenn gesamtgesellschaftliche prozesse der initiative wenig chance geben, weil die struktur der produktionsverhältnisse die masse der unselbständigen braucht und erzeugt, dann ist, um nur diesen einen punkt herauszugreifen, rivalität nicht mehr im stil der entfaltung von eigeninitiative zu befriedigen, sondern sie wird zu neid und ``bettelhaltung'', wie wir sie bei den nestlingen gegenüber der fütternden elternfigur beobachten Das überleben von institutionen wie familie, kirche, nation als ordnungshütern kann keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass diese gebilde die heute in unseren ländern lebenden menschen zentral nichts mehr angehen Die abhängigkeit aller ``landeskinder'' von renten und pensionen gibt dem staat die kennzeichen der ur-mütterlichkeit; es wird deshalb auch eine willfährigkeit gegenüber den geboten des staates erwartet, die eher in die kinderstube gehört weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
Siegfried Trapp
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Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (4 von 6)  Sehr genau beschreibt Nietzsche diesen tradierten gewissensgehorsam: ``Der inhalt unseres gewissens ist alles, was in den jahren der kindheit von uns ohne grund regelmässig gefordert wurde, durch personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom gewissen aus wird also jenes gefühl des müssens erregt (`dies muss ich tun, dieses lassen'), welches nicht fragt: warum muss ich? - in allen fällen, wo eine sache mit `weil' und `warum' getan wird, handelt der mensch ohne gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe. - Der glaube an autoritäten ist die quelle des gewissens: es ist also nicht die stimme gottes in der brust des menschen, sondern die stimme einiger menschen im menschen.'' Wo ein solches gewissen gut funktioniert, sichert es die praktische anpassung und kaschiert mehr oder weniger erfolgreich die szenen kollektiver gewissenlosigkeit. ``Alle sogenannten praktischen menschen'', sagt Nietzsche wenig später, ``haben ein geschick zum dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für andere oder für sich selbst. Robinson besaß noch einen besseren diener, als Freitag war: das war Crusoe.'' Der einfluss der westlich aufklärerischen idee vom selbstbestimmungsrecht der völker trifft an manchen orten auf autochthone soziale und politische traditionen, die keineswegs vor dieser idee kapitulieren, sondern sie auf internationaler ebene vorerst zur erpressung verwenden und sie damit in ihren puren unsinn verwandeln .... Den grossgruppen gegenüber erscheint der anspruch produktiver einordnung wie eine beleidigung des selbstwertes. Es gibt keinen internationalen umgangsstil der mäßigung, der wie alle stile zwänge in sich schließen müsste, denen die tonangebenden gruppen vorbildlichen nachdruck verleihen müssten. Da die großmächte jedoch fast durchgängig keineswegs größere reife in der bewältigung internationaler konflikte an den tag legen, tragen sie dazu bei, dass ein brutaler irrationalismus - Vietnam! - zum internationalen verhaltensstil wird. Der aufgeblasene nationalismus der kleinen ist die ohnmachtsgeste der hilflosigkeit in machtkonstellationen übernationaler art, in denen der kleine entdeckt, dass er so einflusslos bleibt, wie er es in den zeiten des kolonialismus war. So kommt es, dass die alten nationen, denen die errichtung der untergehenden imperialen systeme gelungen war, keine überzeugende, d.h. problemlösende autorität mehr besitzen. Sie gleichen eltern, die sich mit ihren adoleszenten kindern in dauerfehde befinden, erpresst werden, weil ihre doppelmoral nicht zu verhüllen ist. Die der adoleszenz vergleichbaren entwicklungskrisen kollektiver gebilde scheinen aber um so krisengefährdeter, je weniger ambivalenz in der periode bis zur gewaltsamen erlangung der autonomie geschlichtet und in inneren leitbildern organisiert wurde. Die rivalisierenden paternitären konstruktionen der imperialen kolonialmethode waren offenbar keine gute vorbereitung für die autonomie, nicht der beste initiationsritus. Wenn irgendein slogan irreführend ist, dann doch der von der ``völkerfamilie''. Denn es gibt kein volk, das bereit wäre, seine ``kindlichkeit'' und ``unmündigkeit'' freiwillig anzuerkennen Die neue entmündigung wird verführerisch mit versorgungsanspruch bezahlt Exkurs: Vom geahnten zum gelenkten Tabu .... (Freud) Das erste menschenpaar, das den apfel pflückte, verletzte das tabu. Die abgrenzung eines verbotenen bezirkes gehört ebenso uralt zur lebensart des menschen wie der wunsch, in den heilig- unheimlichen bereich einzudringen. ``Das tabu ist ein uraltes verbot, von aussen (von einer autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten gelüste des menschen gerichtet. Die lust, es zu übertreten, besteht in deren unterbewusstem fort; die menschen, die dem tabu gehorchen, haben eine ambivalente einstellung gegen das vom tabu betroffene.'' Doch ist ausser dem - zwar in seiner reichweite ausserordentlich schwankenden, aber überall gültigen - inzesttabu in den verschiedenen kulturgruppen sehr verschiedenes von tabuschranken geschützt. Dafür steht keine andere erklärung offen als die, dass den ``stärksten gelüsten'' des menschen nur eine prinzipielle schranke, aber keine inhaltlich genau festgelegte entgegengesetzt ist. Seine triebe sind nicht definitiv objektgebunden und zyklisch reguliert; er lebt von einer geschichtlichen anpassung zur nächsten und schafft sich zugleich die zur anpassung herausfordernden neuen lebensbedingungen .... Aber schon das verbotene zu denken ist ein angstauslösender schock; oft fordert das vorwegnehmende phantasieren einer tabuverletzung mehr mut als die spätere handlung Rollen .... Wir sehen diese xenophobie, diese furcht vor dem fremden, darin begründet, dass abweichende lebens- und urteilsgewohnheiten das mühsam aufrechterhaltene gleichgewicht zwischen versagungen und gewährungen der eigenen sozialen ordnungen zu stören drohen. Besondere missbilligung findet dann etwa eine eheliche verbindung über die schranken der eigenen sozialgruppe hinweg oder auch die ausübung eines berufes, der nicht als standesgemäß gilt. Die starke binnenorientierung der stände, kasten, klassen, konfessionen, aber auch der berufsgruppen mit langer traditionsordnung - von den binnenorientierungen der sprachgruppen zu schweigen - erweckt ein sicherheitsgefühl, das nur in der reizbarkeit gegen abweichungen etwas von der anstrengung verrät, die es kostet, durch konformität seiner selbst gewiss zu sein. Das fremde ist nicht nur draussen, sondern auch im individuum stets gegenwärtig. Die mühe, welche die tonangebenden schichten auf die erzieherische beeinflussung des jungen menschen, auf seine indoktrinierung mit der moral und dem gebilligten verhaltenskodex aufwenden, beweist uns, dass bei dieser kultivierenden einpassung ``bedingte reflexe'' eingeschliffen werden; was nichts anderes bedeuten kann als die organisierung des individuums auf einer psychischen ebene, die das kritische ich weitgehend ausschaltet. Das potentielle ich jedes einzelnen wird damit zum feind und fremden erklärt, jede von ihm ausgehende ``aufklärung'' erfährt erst einmal den widerstand durch die communis opinio  Neue formen der knechtschaft sind aber mit dem selbstgefühl deshalb leichter zu verbinden, weil die privilegierte schicht, die sich zu etablieren beginnt, aus den eigenen reihen hervorgegangen ist und ihr machteinfluss nicht den beigeschmack von fremdherrschaft hat. Als solche wurde aber, wegen der sozialen berührungsfurcht, die sie zeigten, das regime der herrschenden klassen in der feudalgesellschaft und das kapitalistisch- imperiale bürgertum erlebt Wir beobachten also, dass die möglichkeit zur kritischen durchdringung der eigenen lage unentwegt dem übernehmen von rollen und stereotypen vorurteilen geopfert wird. Die zwänge, die hier wirken, entstammen älteren evolutionsstufen und geschichtlich langen epochen: Sie konkurrieren übermächtig mit der bewussteren entscheidung Keine rolle kann - ohne vergewaltigung der wirklichkeit - einen schlüssel für alle situationen bieten, die dem begegnen möchten, der in ihr steckt. Wer sich so in ihr verstecken will, versteckt in der rolle sein selbst. Bis zur groteske verzerrt zeigt sich dieses verstecken des selbst unter umständen an der rolle des richters, der sich in seinen gesetzen definiert wähnt und auf diese weise die wirklichkeit beugt. Die faktische unsicherheit des rollenverhaltens in einer welt nicht vorausgesehener konfliktsituationen befördert aber den ängstlichen rückzug in stereotypes handeln und urteilen von trostloser originalitätsarmut. Der ausserordentliche reibungsverlust in der von mammutbürokratien gelenkten großgesellschaft wird oft beklagt. Darin wird aber die erfahrungsarmut in der handhabung neuer lagen sichtbar; genügsamkeit mit der rolle heisst hier vermehrte scheu vor verantwortung, die vage nach ``oben'' delegiert wird. Das fördert eine phantasiearmut, der es nicht einfällt, auf angemessenere lösungen zu sinnen Unsere bisherigen beobachtungen lassen sich dahin summieren, dass alte rollenschemata eine lebensdauer über die tiefgreifenden änderungen der sozialen wirklichkeit hinweg beweisen; obgleich sie dann nicht mehr funktionen im dienst einer lebenden, sondern einer vergangenen ordnung vollbringen lassen - ihr schema wird festgehalten, weil die unlust, neues, störendes erfahren zu müssen, die neugier auszulöschen vermag .... Rollen können festgefügten ordnungen angemessen sein; wenn die fundamente erschüttert sind, treten die bizarrsten rollenmuster auf, in denen regressiv angstlinderung gesucht wird .... Evolution zum bewusstsein heisst aufklärung .... An die stelle einer im menschen sich selbst verwirklichenden vernunft tritt also der versuch, in beharrlicher analyse zu erforschen, wieviel vernunft zu zeigen ihm seine welt eigentlich gestattet Die sozialen rollenschemata, von denen man in den modernen gesellschaftswissenschaften spricht, sind komplexe gehorsamsgestalten .... Das problem, das die evolution zum bewusstsein ebenso wie die unübersichtlichkeit der bestimmenden einflüsse in den großgesellschaften stellt, kann in nuce formuliert werden: Wie gelingt es, ein reziprokes verzahnen der rollen und der statuspositionen herzustellen, das nicht allein oder überwiegend einem hierarchischen vostellungsmodell folgt? Weisung von oben und befolgung in den tieferen sozialen positionen ist eine ordnungsidee, deren einwegsystem, wie wir zeigten, nicht mehr ausreicht. Reichere und zu den normen auf allen ebenen beitragende initiativen, die eine integration durch absprache finden, wären die alternative leitidee .... Psychologisch können wir von rollen nicht sprechen, ohne uns jener ``doppelrollen'' zu erinnern, die wir immer auch spielen. Es sind nicht nur agenten und spione, nicht nur intriganten und heuchler, die so zweigesichtig handeln. Am besten wird man der rollenproblematik gewahr, wenn man untersucht, wie sie sich zum vorwand  verhält. Der polizist, der einwandfrei seinen dienst versieht und im zuge der geschäfte auch einmal eigenhändig einige tausend ``staatsfeinde'' gemordet hat, schwamm für diese strecke seines lebens auf der höhe seiner zeit - und nicht, wie uns die moralisten hinterher einzureden bemüht sind, in deren schlamm. Rollen zum vorwand exzentrischer gelüste zu benützen ist eine konstante versuchung - in manchen historischen augenblicken gelingt die überrumpelung auf allen ebenen .... Wenn in der uniform im kader das eigene gesicht verschwimmt, so in mord und schändung die wirklichkeit des anderen; er wird zum fetischding für den autistischen drang Das Übersteigen der Rolle In solchen automatismen masochistischer und sadistischer art gehen es und über-ich eine so feste bindung ein, dass dem ich nurmehr die niedere dienstleistung bleibt, den vorwand plausibel zu machen .... Der exzess ist einer inflation vergleichbar; die währung bleibt die gleiche Rollen sind, wo sie nicht zu einer bandenhaften gruppenstruktur führen, vorgegebene techniken der triebmeisterung für ein leben in der gesellschaft. Aber sie haben eine gleichsam augenzwinkernde lebenserfahrung auf ihrer seite, die davon weiss, dass auch unter moralischer prämisse eine menge unverfeinerter, egoistischer triebwünsche unterzubringen sind. Und darin nicht zuletzt gründet die rollengenügsamkeit des menschen Vorurteile und ihre Manipulierung Grundrechte - die Antithese zum Vorurteil Die macht der vorurteile über die menschen ist so riesengroß, dass jeder versuch, sich ihren einfluss zu vergegenwärtigen, hinter der wirklichkeit zurückbleibt. Jede psychologische theorie des vorurteils ist immer noch verharmlosung; es ist viel schlimmer. Übertreibung ist hier leider kaum möglich. Unser alltag ist voll von entscheidungen, die durch vorurteile erzwungen werden .... Ein vorurteil kann erst dann dem denken als solches erscheinen, wenn es gelingt, seine herkunft zu entziffern .... ``Sage mir, welche vorurteile du hast, und ich sage dir, in welchem herrschaftstypus du zu hause bist.'' Unsere rechtsbücher sind durchsetzt von vorurteilen, die nichts mit einer rechtsordnung - im sinne unseres grundgesetzes etwa -, aber alles mit der psychischen ökonomie der gruppen zu tun haben, denen es gelungen ist, ihre vorurteilshaltung bis zum kodifizierten recht zu erheben Das jeweilige vorurteil, an dem festgehalten wird, soll gegen störungen aus der fremden um- und innenwelt absichern .... meist .... durch ein ganzes vorurteils- geflecht Identifikationen sind unerlässlich zum finden der eigenen identität. Entwickelt sich aber eine so starre bindung an das fremde ich, dass sie nicht wieder gelöst werden kann, so bildet sich eine falsche identität, eine falsche persönlichkeit, die in ihrer entwicklung blockiert ist. Das wort ``falsch'' gilt es abermals mit großer vorsicht zu handhaben. Uns allen haften ungelöste bindungen aus identifikationen an. Worauf wir abzielen, ist die feststellung der neurotischen, kranken bindungsformen, der hörigkeit, die sich in vorurteilen, die wir nicht abzuschütteln vermögen, äussert Es gäbe keine vorurteile, wenn wir in der lage wären, alles zu bedenken und dann zu beurteilen. Unsere urteilskraft ist jedoch in zweifacher hinsicht begrenzt. Wir erleben zeitgenössisch eine unabsehbare fülle von ereignissen, in denen fortwährend entschieden wird. Man käme zu nichts, wollte man alles nachprüfen .... Mut können wir in diesem zusammenhang als konsistenz der ichstruktur bezeichnen; es gelingt dem ich, sein objekt gegen einsprüche des über-ichs und des es und natürlich auch gegen die einschüchterungen aus der sozialen mitwelt festzuhalten und nach eigenen maßstäben urteilend mit ihm umzugehen .... Arbeitsteilung heisst notwendigerweise erfahrungs- und dann urteilsteilung. Arbeitsteilung kombiniert mit vielfacher nötigung zur übernahme pauschaler affekteinstellungen ist die denkbar gefährlichste gesellschaftliche konstellation. Es ist die situation, in der wir leben .... Um noch einmal die mutfrage aufzugreifen: Wir wagen es nicht, uns die motive unseres eigenen handelns einzugestehen. Aus dieser scheu heraus projizieren wir auf mitmenschen und institutionen .... Es ist eine banale wahrheit: Wir blicken den dingen und menschen nicht gern mutig ins auge .... Der erste schritt misslingt meist schon: einzusehen, dass die angst aus einschüchterungen und strafandrohungen der kindheit stammt, dass die realität an den stellen, an denen wir angst zeigen, oft gar nicht so gefährlich ist .... Ist viel angst vor magischen drohungen im spiel, so verdichten sich vorurteile zu den großen tabus .... Das ich anerkennt die tabus als seine ideale. Das ist die list der dienenden vernunft, um das lustprinzip wiederherzustellen Herrschaftsverhältnisse sind machtverhältnisse und als solche keineswegs an aufgeklärten verstand gebunden. Die uralte gebärdensprache der macht probiert auch in den kompliziertesten gesellschaftsformen noch ebenso wie einst in sippe und horde aus, wer stärker und wer schwächer ist. Die kunst, vorurteilslogik an echter zu messen, kann aber am erfolgreichsten in der beobachtung des eigenen verhaltens geübt werden .... Wird unlust zu ertragen nicht gelehrt oder wird jeder nonkonformismus mit brutaler strafe bedroht, so ist die vorurteilsbereitschaft schliesslich der letzte ausweg, um reste des lustprinzips zu retten Wenn gesamtgesellschaftliche prozesse der initiative wenig chance geben, weil die struktur der produktionsverhältnisse die masse der unselbständigen braucht und erzeugt, dann ist, um nur diesen einen punkt herauszugreifen, rivalität nicht mehr im stil der entfaltung von eigeninitiative zu befriedigen, sondern sie wird zu neid und ``bettelhaltung'', wie wir sie bei den nestlingen gegenüber der fütternden elternfigur beobachten Das überleben von institutionen wie familie, kirche, nation als ordnungshütern kann keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass diese gebilde die heute in unseren ländern lebenden menschen zentral nichts mehr angehen Die abhängigkeit aller ``landeskinder'' von renten und pensionen gibt dem staat die kennzeichen der ur-mütterlichkeit; es wird deshalb auch eine willfährigkeit gegenüber den geboten des staates erwartet, die eher in die kinderstube gehört weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. 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