Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
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Sehr genau beschreibt Nietzsche diesen tradierten gewissensgehorsam: ``Der inhalt
unseres gewissens ist alles, was in den jahren der kindheit von uns ohne grund
regelmässig gefordert wurde, durch personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom
gewissen aus wird also jenes gefühl des müssens erregt (`dies muss ich tun, dieses
lassen'), welches nicht fragt: warum muss ich? - in allen fällen, wo eine sache mit
`weil' und `warum' getan wird, handelt der mensch ohne gewissen; deshalb aber noch
nicht wider dasselbe. - Der glaube an autoritäten ist die quelle des gewissens: es ist
also nicht die stimme gottes in der brust des menschen, sondern die stimme einiger
menschen im menschen.'' Wo ein solches gewissen gut funktioniert, sichert es die
praktische anpassung und kaschiert mehr oder weniger erfolgreich die szenen
kollektiver gewissenlosigkeit. ``Alle sogenannten praktischen menschen'', sagt
Nietzsche wenig später, ``haben ein geschick zum dienen: das eben macht sie
praktisch, sei es für andere oder für sich selbst. Robinson besaß noch einen besseren
diener, als Freitag war: das war Crusoe.''
Der einfluss der westlich aufklärerischen idee vom selbstbestimmungsrecht der völker
trifft an manchen orten auf autochthone soziale und politische traditionen, die
keineswegs vor dieser idee kapitulieren, sondern sie auf internationaler ebene vorerst
zur erpressung verwenden und sie damit in ihren puren unsinn verwandeln .... Den
grossgruppen gegenüber erscheint der anspruch produktiver einordnung wie eine
beleidigung des selbstwertes. Es gibt keinen internationalen umgangsstil der
mäßigung, der wie alle stile zwänge in sich schließen müsste, denen die
tonangebenden gruppen vorbildlichen nachdruck verleihen müssten. Da die
großmächte jedoch fast durchgängig keineswegs größere reife in der bewältigung
internationaler konflikte an den tag legen, tragen sie dazu bei, dass ein brutaler
irrationalismus - Vietnam! - zum internationalen verhaltensstil wird. Der
aufgeblasene nationalismus der kleinen ist die ohnmachtsgeste der hilflosigkeit in
machtkonstellationen übernationaler art, in denen der kleine entdeckt, dass er so
einflusslos bleibt, wie er es in den zeiten des kolonialismus war.
So kommt es, dass die alten nationen, denen die errichtung der untergehenden
imperialen systeme gelungen war, keine überzeugende, d.h. problemlösende autorität
mehr besitzen. Sie gleichen eltern, die sich mit ihren adoleszenten kindern in
dauerfehde befinden, erpresst werden, weil ihre doppelmoral nicht zu verhüllen ist.
Die der adoleszenz vergleichbaren entwicklungskrisen kollektiver gebilde scheinen
aber um so krisengefährdeter, je weniger ambivalenz in der periode bis zur
gewaltsamen erlangung der autonomie geschlichtet und in inneren leitbildern
organisiert wurde. Die rivalisierenden paternitären konstruktionen der imperialen
kolonialmethode waren offenbar keine gute vorbereitung für die autonomie, nicht der
beste initiationsritus.
Wenn irgendein slogan irreführend ist, dann doch der von der ``völkerfamilie''. Denn
es gibt kein volk, das bereit wäre, seine ``kindlichkeit'' und ``unmündigkeit'' freiwillig
anzuerkennen
Die neue entmündigung wird verführerisch mit versorgungsanspruch bezahlt
Exkurs: Vom geahnten zum gelenkten Tabu
....
(Freud) Das erste menschenpaar, das den apfel pflückte, verletzte das tabu. Die
abgrenzung eines verbotenen bezirkes gehört ebenso uralt zur lebensart des menschen
wie der wunsch, in den heilig-unheimlichen bereich einzudringen. ``Das tabu ist ein
uraltes verbot, von aussen (von einer autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten
gelüste des menschen gerichtet. Die lust, es zu übertreten, besteht in deren
unterbewusstem fort; die menschen, die dem tabu gehorchen, haben eine ambivalente
einstellung gegen das vom tabu betroffene.''
Doch ist ausser dem - zwar in seiner reichweite ausserordentlich schwankenden, aber
überall gültigen - inzesttabu in den verschiedenen kulturgruppen sehr verschiedenes
von tabuschranken geschützt. Dafür steht keine andere erklärung offen als die, dass
den ``stärksten gelüsten'' des menschen nur eine prinzipielle schranke, aber keine
inhaltlich genau festgelegte entgegengesetzt ist. Seine triebe sind nicht definitiv
objektgebunden und zyklisch reguliert; er lebt von einer geschichtlichen anpassung
zur nächsten und schafft sich zugleich die zur anpassung herausfordernden neuen
lebensbedingungen .... Aber schon das verbotene zu denken ist ein angstauslösender
schock; oft fordert das vorwegnehmende phantasieren einer tabuverletzung mehr mut
als die spätere handlung
Rollen
....
Wir sehen diese xenophobie, diese furcht vor dem fremden, darin begründet, dass
abweichende lebens- und urteilsgewohnheiten das mühsam aufrechterhaltene
gleichgewicht zwischen versagungen und gewährungen der eigenen sozialen
ordnungen zu stören drohen. Besondere missbilligung findet dann etwa eine eheliche
verbindung über die schranken der eigenen sozialgruppe hinweg oder auch die
ausübung eines berufes, der nicht als standesgemäß gilt. Die starke
binnenorientierung der stände, kasten, klassen, konfessionen, aber auch der
berufsgruppen mit langer traditionsordnung - von den binnenorientierungen der
sprachgruppen zu schweigen - erweckt ein sicherheitsgefühl, das nur in der reizbarkeit
gegen abweichungen etwas von der anstrengung verrät, die es kostet, durch
konformität seiner selbst gewiss zu sein. Das fremde ist nicht nur draussen, sondern
auch im individuum stets gegenwärtig. Die mühe, welche die tonangebenden
schichten auf die erzieherische beeinflussung des jungen menschen, auf seine
indoktrinierung mit der moral und dem gebilligten verhaltenskodex aufwenden,
beweist uns, dass bei dieser kultivierenden einpassung ``bedingte reflexe''
eingeschliffen werden; was nichts anderes bedeuten kann als die organisierung des
individuums auf einer psychischen ebene, die das kritische ich weitgehend
ausschaltet. Das potentielle ich jedes einzelnen wird damit zum feind und fremden
erklärt, jede von ihm ausgehende ``aufklärung'' erfährt erst einmal den widerstand
durch die communis opinio
Neue formen der knechtschaft sind aber mit dem selbstgefühl deshalb leichter zu
verbinden, weil die privilegierte schicht, die sich zu etablieren beginnt, aus den
eigenen reihen hervorgegangen ist und ihr machteinfluss nicht den beigeschmack von
fremdherrschaft hat. Als solche wurde aber, wegen der sozialen berührungsfurcht, die
sie zeigten, das regime der herrschenden klassen in der feudalgesellschaft und das
kapitalistisch-imperiale bürgertum erlebt
Wir beobachten also, dass die möglichkeit zur kritischen durchdringung der eigenen
lage unentwegt dem übernehmen von rollen und stereotypen vorurteilen geopfert
wird. Die zwänge, die hier wirken, entstammen älteren evolutionsstufen und
geschichtlich langen epochen: Sie konkurrieren übermächtig mit der bewussteren
entscheidung
Keine rolle kann - ohne vergewaltigung der wirklichkeit - einen schlüssel für alle
situationen bieten, die dem begegnen möchten, der in ihr steckt. Wer sich so in ihr
verstecken will, versteckt in der rolle sein selbst. Bis zur groteske verzerrt zeigt sich
dieses verstecken des selbst unter umständen an der rolle des richters, der sich in
seinen gesetzen definiert wähnt und auf diese weise die wirklichkeit beugt. Die
faktische unsicherheit des rollenverhaltens in einer welt nicht vorausgesehener
konfliktsituationen befördert aber den ängstlichen rückzug in stereotypes handeln
und urteilen von trostloser originalitätsarmut.
Der ausserordentliche reibungsverlust in der von mammutbürokratien gelenkten
großgesellschaft wird oft beklagt. Darin wird aber die erfahrungsarmut in der
handhabung neuer lagen sichtbar; genügsamkeit mit der rolle heisst hier vermehrte
scheu vor verantwortung, die vage nach ``oben'' delegiert wird. Das fördert eine
phantasiearmut, der es nicht einfällt, auf angemessenere lösungen zu sinnen
Unsere bisherigen beobachtungen lassen sich dahin summieren, dass alte
rollenschemata eine lebensdauer über die tiefgreifenden änderungen der sozialen
wirklichkeit hinweg beweisen; obgleich sie dann nicht mehr funktionen im dienst
einer lebenden, sondern einer vergangenen ordnung vollbringen lassen - ihr schema
wird festgehalten, weil die unlust, neues, störendes erfahren zu müssen, die neugier
auszulöschen vermag .... Rollen können festgefügten ordnungen angemessen sein;
wenn die fundamente erschüttert sind, treten die bizarrsten rollenmuster auf, in
denen regressiv angstlinderung gesucht wird .... Evolution zum bewusstsein heisst
aufklärung .... An die stelle einer im menschen sich selbst verwirklichenden vernunft
tritt also der versuch, in beharrlicher analyse zu erforschen, wieviel vernunft zu zeigen
ihm seine welt eigentlich gestattet
Die sozialen rollenschemata, von denen man in den modernen
gesellschaftswissenschaften spricht, sind komplexe gehorsamsgestalten .... Das
problem, das die evolution zum bewusstsein ebenso wie die unübersichtlichkeit der
bestimmenden einflüsse in den großgesellschaften stellt, kann in nuce formuliert
werden: Wie gelingt es, ein reziprokes verzahnen der rollen und der statuspositionen
herzustellen, das nicht allein oder überwiegend einem hierarchischen
vostellungsmodell folgt? Weisung von oben und befolgung in den tieferen sozialen
positionen ist eine ordnungsidee, deren einwegsystem, wie wir zeigten, nicht mehr
ausreicht. Reichere und zu den normen auf allen ebenen beitragende initiativen, die
eine integration durch absprache finden, wären die alternative leitidee ....
Psychologisch können wir von rollen nicht sprechen, ohne uns jener ``doppelrollen''
zu erinnern, die wir immer auch spielen. Es sind nicht nur agenten und spione, nicht
nur intriganten und heuchler, die so zweigesichtig handeln. Am besten wird man der
rollenproblematik gewahr, wenn man untersucht, wie sie sich zum vorwand verhält.
Der polizist, der einwandfrei seinen dienst versieht und im zuge der geschäfte auch
einmal eigenhändig einige tausend ``staatsfeinde'' gemordet hat, schwamm für diese
strecke seines lebens auf der höhe seiner zeit - und nicht, wie uns die moralisten
hinterher einzureden bemüht sind, in deren schlamm. Rollen zum vorwand
exzentrischer gelüste zu benützen ist eine konstante versuchung - in manchen
historischen augenblicken gelingt die überrumpelung auf allen ebenen .... Wenn in der
uniform im kader das eigene gesicht verschwimmt, so in mord und schändung die
wirklichkeit des anderen; er wird zum fetischding für den autistischen drang
Das Übersteigen der Rolle
In solchen automatismen masochistischer und sadistischer art gehen es und über-ich
eine so feste bindung ein, dass dem ich nurmehr die niedere dienstleistung bleibt, den
vorwand plausibel zu machen .... Der exzess ist einer inflation vergleichbar; die
währung bleibt die gleiche
Rollen sind, wo sie nicht zu einer bandenhaften gruppenstruktur führen, vorgegebene
techniken der triebmeisterung für ein leben in der gesellschaft. Aber sie haben eine
gleichsam augenzwinkernde lebenserfahrung auf ihrer seite, die davon weiss, dass
auch unter moralischer prämisse eine menge unverfeinerter, egoistischer
triebwünsche unterzubringen sind. Und darin nicht zuletzt gründet die
rollengenügsamkeit des menschen
Vorurteile und ihre Manipulierung
Grundrechte - die Antithese zum Vorurteil
Die macht der vorurteile über die menschen ist so riesengroß, dass jeder versuch, sich
ihren einfluss zu vergegenwärtigen, hinter der wirklichkeit zurückbleibt. Jede
psychologische theorie des vorurteils ist immer noch verharmlosung; es ist viel
schlimmer. Übertreibung ist hier leider kaum möglich. Unser alltag ist voll von
entscheidungen, die durch vorurteile erzwungen werden .... Ein vorurteil kann erst
dann dem denken als solches erscheinen, wenn es gelingt, seine herkunft zu entziffern
.... ``Sage mir, welche vorurteile du hast, und ich sage dir, in welchem
herrschaftstypus du zu hause bist.''
Unsere rechtsbücher sind durchsetzt von vorurteilen, die nichts mit einer
rechtsordnung - im sinne unseres grundgesetzes etwa -, aber alles mit der psychischen
ökonomie der gruppen zu tun haben, denen es gelungen ist, ihre vorurteilshaltung bis
zum kodifizierten recht zu erheben
Das jeweilige vorurteil, an dem festgehalten wird, soll gegen störungen aus der
fremden um- und innenwelt absichern .... meist .... durch ein ganzes vorurteils-
geflecht
Identifikationen sind unerlässlich zum finden der eigenen identität. Entwickelt sich
aber eine so starre bindung an das fremde ich, dass sie nicht wieder gelöst werden
kann, so bildet sich eine falsche identität, eine falsche persönlichkeit, die in ihrer
entwicklung blockiert ist. Das wort ``falsch'' gilt es abermals mit großer vorsicht zu
handhaben. Uns allen haften ungelöste bindungen aus identifikationen an. Worauf
wir abzielen, ist die feststellung der neurotischen, kranken bindungsformen, der
hörigkeit, die sich in vorurteilen, die wir nicht abzuschütteln vermögen, äussert
Es gäbe keine vorurteile, wenn wir in der lage wären, alles zu bedenken und dann zu
beurteilen. Unsere urteilskraft ist jedoch in zweifacher hinsicht begrenzt. Wir erleben
zeitgenössisch eine unabsehbare fülle von ereignissen, in denen fortwährend
entschieden wird. Man käme zu nichts, wollte man alles nachprüfen .... Mut können
wir in diesem zusammenhang als konsistenz der ichstruktur bezeichnen; es gelingt
dem ich, sein objekt gegen einsprüche des über-ichs und des es und natürlich auch
gegen die einschüchterungen aus der sozialen mitwelt festzuhalten und nach eigenen
maßstäben urteilend mit ihm umzugehen .... Arbeitsteilung heisst notwendigerweise
erfahrungs- und dann urteilsteilung. Arbeitsteilung kombiniert mit vielfacher
nötigung zur übernahme pauschaler affekteinstellungen ist die denkbar gefährlichste
gesellschaftliche konstellation. Es ist die situation, in der wir leben .... Um noch
einmal die mutfrage aufzugreifen: Wir wagen es nicht, uns die motive unseres eigenen
handelns einzugestehen. Aus dieser scheu heraus projizieren wir auf mitmenschen
und institutionen .... Es ist eine banale wahrheit: Wir blicken den dingen und
menschen nicht gern mutig ins auge .... Der erste schritt misslingt meist schon:
einzusehen, dass die angst aus einschüchterungen und strafandrohungen der kindheit
stammt, dass die realität an den stellen, an denen wir angst zeigen, oft gar nicht so
gefährlich ist .... Ist viel angst vor magischen drohungen im spiel, so verdichten sich
vorurteile zu den großen tabus .... Das ich anerkennt die tabus als seine ideale. Das ist
die list der dienenden vernunft, um das lustprinzip wiederherzustellen
Herrschaftsverhältnisse sind machtverhältnisse und als solche keineswegs an
aufgeklärten verstand gebunden. Die uralte gebärdensprache der macht probiert auch
in den kompliziertesten gesellschaftsformen noch ebenso wie einst in sippe und horde
aus, wer stärker und wer schwächer ist.
Die kunst, vorurteilslogik an echter zu messen, kann aber am erfolgreichsten in der
beobachtung des eigenen verhaltens geübt werden .... Wird unlust zu ertragen nicht
gelehrt oder wird jeder nonkonformismus mit brutaler strafe bedroht, so ist die
vorurteilsbereitschaft schliesslich der letzte ausweg, um reste des lustprinzips zu
retten
Wenn gesamtgesellschaftliche prozesse der initiative wenig chance geben, weil die
struktur der produktionsverhältnisse die masse der unselbständigen braucht und
erzeugt, dann ist, um nur diesen einen punkt herauszugreifen, rivalität nicht mehr im
stil der entfaltung von eigeninitiative zu befriedigen, sondern sie wird zu neid und
``bettelhaltung'', wie wir sie bei den nestlingen gegenüber der fütternden elternfigur
beobachten
Das überleben von institutionen wie familie, kirche, nation als ordnungshütern kann
keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass diese gebilde die heute in unseren ländern
lebenden menschen zentral nichts mehr angehen
Die abhängigkeit aller ``landeskinder'' von renten und pensionen gibt dem staat die
kennzeichen der ur-mütterlichkeit; es wird deshalb auch eine willfährigkeit gegenüber
den geboten des staates erwartet, die eher in die kinderstube gehört
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Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
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