Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
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Zweifellos lag der anlass der amerikanischen kulturentwicklung in der auflehnung gegen
das despotische England. Was sich dann aber nach der trennung in Amerika vollzogen hat,
war der vorgang des sichüberantwortens an neue praktiken der lebensbewältigung, die
schliesslich die wirksamkeit eines inbegriffs der kulturellen traditionsmacht, die potestas
des vaters selbst, ungestraft paralysieren konnten - ungestraft jedenfalls durch die väter
selbst.
`Die schaffung eines Amerikaners', sagt Gorer, `verlangte, dass der vater sowohl als vorbild
wie als quelle der autorität verworfen wurde.' `Vater wusste es nie am besten.' `Und als sich
die mutation einmal herausgebildet hatte, wurde sie beibehalten: Wie viele generationen
immer einen Amerikaner von seinen eingewanderten vorfahren trennen mögen, er verwirft
seinen vater als autorität und vorbild und erwartet, dass seine söhne ihn verwerfen.' Die
subtile analyse Gorers ist trotz allem zu generalisierungen gezwungen. In altbesiedelten
bäuerlichen gegenden Amerikas nämlich, wie zum beispiel in Pennsylvanien, finden sich
durchaus gruppen, in denen sich religiös verankerte sozialnormen weitgehend erhalten
haben.
Wie die schilderungen John Gunters deutlich machen, hat hier ein Europa der
vorrevolutionären epoche überdauert, das an seinen ursprungsorten längst von späteren
sozialen wirklichkeiten überdeckt wurde. Manche der Pennsylvania Dutch stehen noch
unter dem diktat der väterlichen autorität wie die bauernsöhne im dem jahrhundert vor dem
eindringen der maschinentechnischen revolution. Es ist also nicht das abschütteln der
bevormundung durch die auctoritas des alten Europa, die in Amerika diesen
schockierenden zerfall der vaterautorität mit sich gebracht hat, sondern es ist nach
interessanten ansätzen einer eigenen stilentwicklung der prozess der ungehemmten
ausbreitung der maschinentechnischen organisation mit ihrer diktatur der
ununterbrochenen umstellung der lebensbewältigungspraktiken, der solches hervorrief. Die
technische entwicklung vollzog und vollzieht weiter die auflösung jahrhundertelang
tradierter handwerklicher produktionsformen und `lebensstile'. Der an sie geknüpfte
konservatismus als stil sozialer erfahrung kann nicht aufrechterhalten werden.
Da die verbindliche, anschauliche väterliche unterweisung im tätigen leben fehlt, hier also
keine verlässliche tradition mehr besteht, orientieren sich die altersgenossen aneinander.
Die peer group, das heisst die gruppe der altersgenossen in schule und nachbarschaft und
im beruf, wird zur richtschnur des verhaltens. Das gilt für erwachsene wie kinder .... Von
diesen beobachtungen her hat sich David Riesman zu einer neuen `kulturtypologie'
vorgetastet. Neben dem typus des traditionsgelenkten menschen (`tradition-directed')
unterscheidet er die typen des `inner-directed', das heisst des vorwiegend
gebotsgebundenen menschen, und des `other-directed', das heisst des durch die
konformität mit seinen gruppengenossen gelenkten menschen, der zugleich der
durchschnittsbürger der neuen mittelklasse ist, wie sie die technische massenzivilisation
heraufgebracht hat .... In diesem sehr anschaulichen vergleich spricht Riesman davon, dass
bei diesem neuen menschentyp, der bei seiner massenhaften verbreitung der typus des
modernen, man möchte sagen klassenlosen massenmenschen ist, die lenkung `anstelle
durch lebenslang gültige ziele, auf die man sich hinbewegt, durch radar erfolgt.' Dabei kann
ein dauernder richtungswechsel erfolgen: Denn zum lebensraum des `other-directed' gehört
der überraschende zuruf neuer kurzfristiger ziele, die er schnell ergreift und aufgibt. Auch
diese art der beeinflussung wir natürlich von kindheit an gelernt. Durch sie entsteht dann
neben anderem jenes bild eines vaterverachtenden, technischen progressisten, der in sich
keinen anspruch auf `entwicklung' vorfindet, sondern für den es gewissermaßen nur noch
zwei kategorien der beurteilung gibt: ein soziales `in-form-sein', polpulärsein, und ein
vergessen-, übergangen-, wertlossein. Der begriff des reifens als kollektiv anerkannter
ausformung beginnt zu verschwimmen
.... bäuerliche traditionswelt .... Vergleicht man diese welt mit der unseren, so sind in der
geschichte zwei stufen der entfremdung beobachtbar. Zuerst wird die arbeitswelt von der
welt des familiären lebens weggerissen. Das wird als ereignis schon in der romanliteratur
der ersten hälfte des 19. jahrhunderts erlebt. Für das kind ist die für die lebensfristung
wichtigste lebenspraxis, die berufsausübung des vaters, nicht mehr unmittelbar anschaulich.
Aber vielleicht kann der vater noch davon berichten und teile seiner erlernten
handfertigkeiten im milieu der familie zur anschauung bringen. Für die väter, denen der
nächste schritt der technisierung den beruf bestimmt, die in verwaltungen tätig sind, ist
nicht einmal dies mehr möglich, da ihr beruf keinerlei anschaulichkeit mehr in sich birgt
und also auch von ihm, ausser ärger und büroklatsch, nichts mehr in die familiäre welt mit
nach hause gebracht werden kann
Charakteristisch genug sind die wenigen glücklichen erinnerungen des patienten an seinen
vater mit den kurzen stunden gemeinsamer bastelarbeit verbunden. Aber in dieser hinsicht
gab es eben keine zusammenhängende, verbindende tätigkeit, vielmehr stand ganz die
leistungsdressur als leitmotiv über der jugend dieser kinder .... Ein solches kind erfährt kein
`urvertrauen', und es hat dann später keinen sicheren standort, von dem aus es seine
autonomie entwickeln könnte
Der ausweg, den er vorher aus dieser qual suchte, ist der, dass er die eine, die negative seite
in der beziehung zu den alten beziehungspersonen - den eltern - belässt, die positive seite
auf neue idealisierte vorbildfiguren überträgt
Es ist wahrscheinlich keine sentimentalität, in diesen erfahrungsgrundlagen - bei denen ja
zugleich die gestaltung der landschaft selbst durch arbeit mitvollzogen wird - den ursprung
jenes zugehörigkeitsgefühls zu suchen, den das wort `heimat' symbolisiert .... Nun wäre es
bestimmt ein verträumter irrtum, die bäuerliche welt zu verklären - ihre dörfliche enge und
inzucht, ihre rigideste konformität und besitz- beziehungsweise
selbstbewusstseinsstaffelung, die lastende körperarbeit, die gefühlsstumpfheit und den
aberglauben. Und doch hatte sie - je ferner sie uns rückt, je mehr die technisierung die
bauernwirtschaft zu einem sich spezialisierenden wirtschaftszweig neben anderen umformt
- in allem permanenten elend eine chance, den ambivalenzkonflikt produktiv zu schlichten.
Eben durch diesen einheitlichen handlungsraum. Die rivalität mit dem vater konnte in einer
ausserverbalen, aber direkt anschaulichen konkurrenz mit ihm, im umgang mit werkzeugen
ausgetragen werden. Der sohn konnte dem vater auf dessen eigenem feld vorpflügen und
beweisen, was er konnte. Diese direkte konkurrenz, die zur bewältigung der affektiven
gespanntheit beitrug, brauchte nicht den direkten ausdruck, den streit; sie konnte auf dem
umweg über eine beiden partnern gleichvertraute tätigkeit geschehen.
Die trennung der väterlichen von der kindlichen welt in unserer zivilisation lässt eine
derartig anschauliche erfahrung auf beiden seiten nicht zu; das kind weiss nicht, was der
vater tut; der vater nicht, wie das kind in seinen fertigkeiten heranwächst. Eine
selbstgebaute scheune ist auf eine andere weise zum besitz geworden als ein eisschrank oder
ein automobil .... Alles das muss ihm das gefühl der vereinsamung geben und legt ihm den
schluss nahe, dass der vater schwach, unfähig ist, dass man mit ihm nicht rechnen kann.
Umgekehrt fühlen die väter eine verständnislose verschlossenheit an den söhnen, die es
schwer oder unmöglich macht, das rechte wort im rechten augenblick zu finden
Den `feld-anthropologen' - und als solcher fühlt sich der psychoanalytisch tätige arzt -
bewegen die in der einkleidung der individuellen situation sich in zahlloser variation
wiederholenden gleichen entfremdungsvorgänge
Gehorsam - Autonomie - Anarchie
Gehorsam ist so notwendig, wie er ganz offensichtlich nicht selbstverständlich ist. Er ist der
stärksten und unversieglichen leidensquellen eine .... Recht zum ungehorsam? Das kann
doch nur ein so unglaublicher sonderfall sein, dass es sich nicht lohnt, solche situationen
ernstlich ins ordnungsbewusstsein aufzunehmen. Wann sind eigentlich `vormünder' so
schlecht, dass ihnen der denkzettel des ungehorsams gebührt? Im rechtsmodell ist das
vielleicht nicht allzu schwer zu präzisieren - aber in der unwürdigen lage selbst gehört
kälteres blut, als die meisten haben, dazu, sich der paragraphen zu erinnern, die von der
würde handeln, von der würde des schwächeren. Man arrangiert sich auf den krummen
wegen
Die schwächliche nachsicht der folgenden generation gegenüber entstammt aber auch einem
zunehmenden, aber vagen unbehagen und schuldgefühl, in einer der tradierten bekanntheit
entschlüpfenden welt dem kind ebensowenig wie sich selbst eine innere ordnung vermitteln
zu können, was von vielen menschen regressiv mit einem rückzug auf egoistische
befriedigung ihrer triebwünsche beantwortet wird. Weil dieses aus narzisstischer
interesselosigkeit am anderen und aus hilflosigkeit gemischte gewährenlassen wie güte
aussieht und sich unversehens mit errungenschaften fortschrittlicher erziehung vermengt,
lohnt es sich, hartnäckig die zwei grundtatsachen, an denen keine gesellschaft vorbeikommt,
zu betonen: Sie muss auch versagend ihren gliedern gegenüber sein, muss sie lehren,
versagungen zu verarbeiten, ohne sich dabei von sich selbst zu entfremden, also weder nur
passiv sich anzupassen noch sozial zu ignorieren; und sie muss lehren, wie gruppen mit der
durch diese versagungen erregten ambivalenz der gefühlseinstellung fertig werden, wie sie
sich produktive lösungen durch sublimierung erarbeiten können. Dazu wird nicht zuletzt
gehöhren, dass man den gehorsam nicht als selbstverständlichkeit ansieht und nicht als
dressat durch einseitiges kommunizieren vom befehlenden zum gehorchenden erzwingt,
sondern bewusste rücksicht auf den schwächeren nimmt. Der jetzt noch schwächere soll
aber einst kraftvoll, nicht unangemessen anspruchsvoll werden
Unverstand und brutalität, die wir in der kindheit erfahren, hinterlassen für immer spuren
in unserem charakter. Wir sind eingedenk des früher erwähnten Pascalschen satzes:
`Niemals tut man so vollständig und so gut das böse, als wenn man es mit gutem gewissen
tut.' Jetzt ermessen wir die ganze schwierigkeit der orientierung durch das ich, die im
verhalten der erwachsenen und der kinder zutage tritt. Das `böse' ist für die eltern Luthers
das moralisch gerechtfertigte gute. Für das kindliche ich entsteht die unendlich
lebenserschwerende aufgabe, zwei unvereinbar antagonistische introjektionen als zentren
seiner verhaltenssteuerung zu gehorchen: dem introjekt, das gehorsam fordert und sich
darauf beruft, es `herzlich gut' zu meinen, und dem anderen, das unersättlich strafend,
demütigend gegen das selbst vorgeht, unversöhnlich bleibt, einschüchtert und den
selbstwert zerstört. Das sind die aspekte des entarteten gewissens, dessen
gehorsamsforderung nicht von einsicht gelenkt ist, sondern wiederum ein unzugängliches
absolutum darstellt
Unsere wege zur einsicht, unsere einübung zur selbstkontrolle in den sozialen kontakten
vollzieht sich gleichsam eingehüllt in affekte, die uns von anderen menschen
entgegenkommen ... wurde mit dem begriff des `introjektes' angedeutet; er meint, dass in
sehr frühen etappen der erfahrung eine forderung, der wir in der umwelt begegnen,
während wir unseren bedürfnissen folgen, zu einer inneren stimme zu werden vermag .... die
introjekte werden teile des selbst, des ganzen charakters, und halten das ich so fest
umklammert, dass es ihm kaum oder gar nicht gelingt, zu ihnen in kritischen abstand zu
gelangen
Freud hat darauf hingewiesen, dass `das über-ich des kindes eigentlich nicht nach dem
vorbild der eltern, sondern des elterlichen über-ich aufgebaut' wird.; das über-ich wird
damit `zum träger der tradition, all der zeitbeständigen wertungen, die sich auf diesem wege
über generationen fortgepflanzt haben'.
Die trennung von arbeits- und wohnplatz schafft die entfremdung in der familiengruppe, die
identifikationslockerung macht den einzelnen anpassungsgeschmeidiger, aber auch kritik-
und verantwortungsscheuer. Das wieder treibt bemächtigungspraktiken im sozialen
grossraum hervor, die eine verfassung des einzelnen zur voraussetzung haben, in der die
inhalte des über-ichs leicht austauschbar sind. Erinnert man sich der eide, die einem heute
sechzigjährigen im laufe seines lebens abgenötigt werden konnten und die er meist
widerspruchslos leistete, so erkennt man einen fast attrappenhaften charakter der über-ich
leistungen .... Damit ist das eigentliche merkmal der `kulturheuchelei' angedeutet. Die
kulturforderung ist nicht assimiliert, mit dem ich leistungsverknüpft, sondern ihr wird nur
zeitweilig gehorcht. Der `aussengelenkte' mensch in der Riesmannschen terminologie darf
kein über-ich bleibender inhalte haben. Oder genauer: seine inneren leitwerte entwickeln
sich nicht evolutionär, sondern sie werden katastrophisch aneinandergereiht, wie die
katastrophengeborenen ideologien es fordern. Das mag im prinzip seine gültigkeit in allen
zeiten gehabt haben, und nur die häufung dieser um- und zusammenbrüche in kurzem
zeitraum kann als besonderheit unserer epoche gelten. Aber solche häufigkeit der
neuorientierungszwänge hat eben doch qualitative auswirkungen auf die strukturierung der
charaktere, die sie zu bewältigen haben
Das faktische gegenbild zu den für unsere zeitläufte typischen helden der massen sind die
initiativearmen `frühpensionäre', die in ihren wohlfahrtsstaaten nie flügge werden wollen
In einer spezialistisch organisierten grossgesellschaft mit rascher wandlung des technischen
produktionsinventars spielt gehorsam eine nicht geringere, wahrscheinlich eine
bedeutendere rolle als in einer statusgefestigten, in begrenztere funktionsräme gegliederten
gesellschaft
Die einfühlung in das kleinkind und in den jugendlichen in den krisen der pubertät ist die
unterentwickeltste sozialbeziehung in unserer gesellschaft
Weil die sozialisierung des menschen unserer gesellschaft teils verbietend, teils achtlos
geschieht und die haltgebenden kontakte fehlen, weil dem kinde von frühester jugend an
schuldgefühle eingeflößt werden, ohne dass ihm zugleich guter rat und eine sanfte hand
zuteil würden, die ihm zeigen würden, wie man schuld vermeidet und wie man überhaupt zu
unterscheiden lernt, wo schuld und wo ein einschüchterungsversuch vorliegt, schließlich:
weil eine arbeitsteilige sozialstruktur den verengten spezialisten braucht, der nur auf einem
kleinen sektor kritisch denken, sonst aber in unauffälligem konformismus gehorsam zeigen
soll - weil diese einflüsse sich überschichten und verwirren, vermag die mehrheit der
menschen nicht vernünftige möglichkeiten zu verwirklichen, deren sie potentiell fähig wäre.
Das erprobte system, frühzeitig `denkhemmungen' zu setzen, das durch jahrhunderte von
den herrschenden gruppen als erziehungsleitsatz für die massen entwickelt wurde, wird
gegenwärtig mit hilfe der massenmedien, ihrer art der nachrichtenaufbereitung, mit hilfe
des einschleifens von konsumgewohnheiten auf allen ebenen erfolgreich fortgesetzt .... Nur
wer dem prinzip der denkhemmung früh unterworfen wurde, neigt dazu, die eigene
unvollkommenheit dem anderen anzuhängen - und darüber ziemlich gewiss die wahrung
der eigentlichen chancen zu verpassen ....
Einfühlung und Distanz
Das erlebnis der nähe setzt die überwindung des triebgehorsams voraus, in dem der andere
immer nur funktionswert - und nicht mehr - für mich hat, ein mittel zum zweck meiner
befriedigung ist. Wo das aufsuchen des mitmenschen, wie auch immer vor uns selbst
begründet, aus diesem motiv erfolgt, bleibt der andere fremd; und indem wir uns in der
rechenschaft über unsere motivation betrügen, bleiben wir uns dunkel. Mit grosser
scharfsicht hat Goethe in einem brief diesen unterschied formuliert zwischen einsicht (und
damit annäherung) und einem autistisch triebhaft motivierten verhalten, das sich im
überwurf der mitmenschlichen rücksicht versteckt: ``Und was das gute herz, den trefflichen
charakter betrifft, so sage ich nur so viel: wir handeln eigentlich nur gut insofern wir mit uns
selbst bekannt sind; dunkelheit über uns selbst lässt uns nicht leicht zu, das gute recht zu
tun, und so ist es denn ebenso viel, als wenn das gute nicht gut wäre.'' Charakterologisch
können wir die selbstgewissheit, mit der an der rationalisierung festgehalten wird, als
``dünkel'' bezeichnen. Goethe fährt entsprechend fort: ``Der dünkel aber führt uns gewiss
zum bösen, ja, wenn er unbedingt ist, zum schlechten, ohne dass man gerade sagen könnte,
dass der mensch, der schlecht handelt, schlecht sei.''
weiterlesen
Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
Siegfried
Trapp
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