Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (3 von 6)  Zweifellos lag der anlass der amerikanischen kulturentwicklung in der auflehnung gegen das despotische England. Was sich dann aber nach der trennung in Amerika vollzogen hat, war der vorgang des sichüberantwortens an neue praktiken der lebensbewältigung, die schliesslich die wirksamkeit eines inbegriffs der kulturellen traditionsmacht, die potestas  des vaters selbst, ungestraft paralysieren konnten - ungestraft jedenfalls durch die väter selbst. `Die schaffung eines Amerikaners', sagt Gorer, `verlangte, dass der vater sowohl als vorbild wie als quelle der autorität verworfen wurde.' `Vater wusste es nie am besten.' `Und als sich die mutation einmal herausgebildet hatte, wurde sie beibehalten: Wie viele generationen immer einen Amerikaner von seinen eingewanderten vorfahren trennen mögen, er verwirft seinen vater als autorität und vorbild und erwartet, dass seine söhne ihn verwerfen.' Die subtile analyse Gorers ist trotz allem zu generalisierungen gezwungen. In altbesiedelten bäuerlichen gegenden Amerikas nämlich, wie zum beispiel in Pennsylvanien, finden sich durchaus gruppen, in denen sich religiös verankerte sozialnormen weitgehend erhalten haben. Wie die schilderungen John Gunters deutlich machen, hat hier ein Europa der vorrevolutionären epoche überdauert, das an seinen ursprungsorten längst von späteren sozialen wirklichkeiten überdeckt wurde. Manche der Pennsylvania Dutch stehen noch unter dem diktat der väterlichen autorität wie die bauernsöhne im dem jahrhundert vor dem eindringen der maschinentechnischen revolution. Es ist also nicht das abschütteln der bevormundung durch die auctoritas des alten Europa, die in Amerika diesen schockierenden zerfall der vaterautorität mit sich gebracht hat, sondern es ist nach interessanten ansätzen einer eigenen stilentwicklung der prozess der ungehemmten ausbreitung der maschinentechnischen organisation mit ihrer diktatur der ununterbrochenen umstellung der lebensbewältigungspraktiken, der solches hervorrief. Die technische entwicklung vollzog und vollzieht weiter die auflösung jahrhundertelang tradierter handwerklicher produktionsformen und `lebensstile'. Der an sie geknüpfte konservatismus als stil sozialer erfahrung kann nicht aufrechterhalten werden. Da die verbindliche, anschauliche väterliche unterweisung im tätigen leben fehlt, hier also keine verlässliche tradition mehr besteht, orientieren sich die altersgenossen aneinander. Die peer group, das heisst die gruppe der altersgenossen in schule und nachbarschaft und im beruf, wird zur richtschnur des verhaltens. Das gilt für erwachsene wie kinder .... Von diesen beobachtungen her hat sich David Riesman zu einer neuen `kulturtypologie' vorgetastet. Neben dem typus des traditionsgelenkten menschen (`tradition-directed') unterscheidet er die typen des `inner-directed', das heisst des vorwiegend gebotsgebundenen menschen, und des `other-directed', das heisst des durch die konformität mit seinen gruppengenossen gelenkten menschen, der zugleich der durchschnittsbürger der neuen mittelklasse ist, wie sie die technische massenzivilisation heraufgebracht hat .... In diesem sehr anschaulichen vergleich spricht Riesman davon, dass bei diesem neuen menschentyp, der bei seiner massenhaften verbreitung der typus des modernen, man möchte sagen klassenlosen massenmenschen ist, die lenkung `anstelle durch lebenslang gültige ziele, auf die man sich hinbewegt, durch radar erfolgt.' Dabei kann ein dauernder richtungswechsel erfolgen: Denn zum lebensraum des `other-directed' gehört der überraschende zuruf neuer kurzfristiger ziele, die er schnell ergreift und aufgibt. Auch diese art der beeinflussung wir natürlich von kindheit an gelernt. Durch sie entsteht dann neben anderem jenes bild eines vaterverachtenden, technischen progressisten, der in sich keinen anspruch auf `entwicklung' vorfindet, sondern für den es gewissermaßen nur noch zwei kategorien der beurteilung gibt: ein soziales `in-form-sein', polpulärsein, und ein vergessen-, übergangen-, wertlossein. Der begriff des reifens als kollektiv anerkannter ausformung beginnt zu verschwimmen .... bäuerliche traditionswelt .... Vergleicht man diese welt mit der unseren, so sind in der geschichte zwei stufen der entfremdung beobachtbar. Zuerst wird die arbeitswelt von der welt des familiären lebens weggerissen. Das wird als ereignis schon in der romanliteratur der ersten hälfte des 19. jahrhunderts erlebt. Für das kind ist die für die lebensfristung wichtigste lebenspraxis, die berufsausübung des vaters, nicht mehr unmittelbar anschaulich. Aber vielleicht kann der vater noch davon berichten und teile seiner erlernten handfertigkeiten im milieu der familie zur anschauung bringen. Für die väter, denen der nächste schritt der technisierung den beruf bestimmt, die in verwaltungen tätig sind, ist nicht einmal dies mehr möglich, da ihr beruf keinerlei anschaulichkeit mehr in sich birgt und also auch von ihm, ausser ärger und büroklatsch, nichts mehr in die familiäre welt mit nach hause gebracht werden kann Charakteristisch genug sind die wenigen glücklichen erinnerungen des patienten an seinen vater mit den kurzen stunden gemeinsamer bastelarbeit verbunden. Aber in dieser hinsicht gab es eben keine zusammenhängende, verbindende tätigkeit, vielmehr stand ganz die leistungsdressur als leitmotiv über der jugend dieser kinder .... Ein solches kind erfährt kein `urvertrauen', und es hat dann später keinen sicheren standort, von dem aus es seine autonomie entwickeln könnte Der ausweg, den er vorher aus dieser qual suchte, ist der, dass er die eine, die negative seite in der beziehung zu den alten beziehungspersonen - den eltern - belässt, die positive seite auf neue idealisierte vorbildfiguren überträgt Es ist wahrscheinlich keine sentimentalität, in diesen erfahrungsgrundlagen - bei denen ja zugleich die gestaltung der landschaft selbst durch arbeit mitvollzogen wird - den ursprung jenes zugehörigkeitsgefühls zu suchen, den das wort `heimat' symbolisiert .... Nun wäre es bestimmt ein verträumter irrtum, die bäuerliche welt zu verklären - ihre dörfliche enge und inzucht, ihre rigideste konformität und besitz- beziehungsweise selbstbewusstseinsstaffelung, die lastende körperarbeit, die gefühlsstumpfheit und den aberglauben. Und doch hatte sie - je ferner sie uns rückt, je mehr die technisierung die bauernwirtschaft zu einem sich spezialisierenden wirtschaftszweig neben anderen umformt - in allem permanenten elend eine chance, den ambivalenzkonflikt produktiv zu schlichten. Eben durch diesen einheitlichen handlungsraum. Die rivalität mit dem vater konnte in einer ausserverbalen, aber direkt anschaulichen konkurrenz mit ihm, im umgang mit werkzeugen ausgetragen werden. Der sohn konnte dem vater auf dessen eigenem feld vorpflügen und beweisen, was er konnte. Diese direkte konkurrenz, die zur bewältigung der affektiven gespanntheit beitrug, brauchte nicht den direkten ausdruck, den streit; sie konnte auf dem umweg über eine beiden partnern gleichvertraute tätigkeit geschehen. Die trennung der väterlichen von der kindlichen welt in unserer zivilisation lässt eine derartig anschauliche erfahrung auf beiden seiten nicht zu; das kind weiss nicht, was der vater tut; der vater nicht, wie das kind in seinen fertigkeiten heranwächst. Eine selbstgebaute scheune ist auf eine andere weise zum besitz geworden als ein eisschrank oder ein automobil .... Alles das muss ihm das gefühl der vereinsamung geben und legt ihm den schluss nahe, dass der vater schwach, unfähig ist, dass man mit ihm nicht rechnen kann. Umgekehrt fühlen die väter eine verständnislose verschlossenheit an den söhnen, die es schwer oder unmöglich macht, das rechte wort im rechten augenblick zu finden Den `feld-anthropologen' - und als solcher fühlt sich der psychoanalytisch tätige arzt - bewegen die in der einkleidung der individuellen situation sich in zahlloser variation wiederholenden gleichen entfremdungsvorgänge  Gehorsam - Autonomie - Anarchie Gehorsam ist so notwendig, wie er ganz offensichtlich nicht selbstverständlich ist. Er ist der stärksten und unversieglichen leidensquellen eine .... Recht zum ungehorsam? Das kann doch nur ein so unglaublicher sonderfall sein, dass es sich nicht lohnt, solche situationen ernstlich ins ordnungsbewusstsein aufzunehmen. Wann sind eigentlich `vormünder' so schlecht, dass ihnen der denkzettel des ungehorsams gebührt? Im rechtsmodell ist das vielleicht nicht allzu schwer zu präzisieren - aber in der unwürdigen lage selbst gehört kälteres blut, als die meisten haben, dazu, sich der paragraphen zu erinnern, die von der würde handeln, von der würde des schwächeren. Man arrangiert sich auf den krummen wegen Die schwächliche nachsicht der folgenden generation gegenüber entstammt aber auch einem zunehmenden, aber vagen unbehagen und schuldgefühl, in einer der tradierten bekanntheit entschlüpfenden welt dem kind ebensowenig wie sich selbst eine innere ordnung vermitteln zu können, was von vielen menschen regressiv mit einem rückzug auf egoistische befriedigung ihrer triebwünsche beantwortet wird. Weil dieses aus narzisstischer interesselosigkeit am anderen und aus hilflosigkeit gemischte gewährenlassen wie güte aussieht und sich unversehens mit errungenschaften fortschrittlicher erziehung vermengt, lohnt es sich, hartnäckig die zwei grundtatsachen, an denen keine gesellschaft vorbeikommt, zu betonen: Sie muss auch versagend ihren gliedern gegenüber sein, muss sie lehren, versagungen zu verarbeiten, ohne sich dabei von sich selbst zu entfremden, also weder nur passiv sich anzupassen noch sozial zu ignorieren; und sie muss lehren, wie gruppen mit der durch diese versagungen erregten ambivalenz der gefühlseinstellung fertig werden, wie sie sich produktive lösungen durch sublimierung erarbeiten können. Dazu wird nicht zuletzt gehöhren, dass man den gehorsam nicht als selbstverständlichkeit ansieht und nicht als dressat durch einseitiges kommunizieren vom befehlenden zum gehorchenden erzwingt, sondern bewusste rücksicht auf den schwächeren nimmt. Der jetzt noch schwächere soll aber einst kraftvoll, nicht unangemessen anspruchsvoll werden Unverstand und brutalität, die wir in der kindheit erfahren, hinterlassen für immer spuren in unserem charakter. Wir sind eingedenk des früher erwähnten Pascalschen satzes: `Niemals tut man so vollständig und so gut das böse, als wenn man es mit gutem gewissen tut.' Jetzt ermessen wir die ganze schwierigkeit der orientierung durch das ich, die im verhalten der erwachsenen und der kinder zutage tritt. Das `böse' ist für die eltern Luthers das moralisch gerechtfertigte gute. Für das kindliche ich entsteht die unendlich lebenserschwerende aufgabe, zwei unvereinbar antagonistische introjektionen als zentren seiner verhaltenssteuerung zu gehorchen: dem introjekt, das gehorsam fordert und sich darauf beruft, es `herzlich gut' zu meinen, und dem anderen, das unersättlich strafend, demütigend gegen das selbst vorgeht, unversöhnlich bleibt, einschüchtert und den selbstwert zerstört. Das sind die aspekte des entarteten gewissens, dessen gehorsamsforderung nicht von einsicht gelenkt ist, sondern wiederum ein unzugängliches absolutum darstellt Unsere wege zur einsicht, unsere einübung zur selbstkontrolle in den sozialen kontakten vollzieht sich gleichsam eingehüllt in affekte, die uns von anderen menschen entgegenkommen ... wurde mit dem begriff des `introjektes' angedeutet; er meint, dass in sehr frühen etappen der erfahrung eine forderung, der wir in der umwelt begegnen, während wir unseren bedürfnissen folgen, zu einer inneren stimme zu werden vermag .... die introjekte werden teile des selbst, des ganzen charakters, und halten das ich so fest umklammert, dass es ihm kaum oder gar nicht gelingt, zu ihnen in kritischen abstand zu gelangen Freud hat darauf hingewiesen, dass `das über-ich des kindes eigentlich nicht nach dem vorbild der eltern, sondern des elterlichen über-ich aufgebaut' wird.; das über-ich wird damit `zum träger der tradition, all der zeitbeständigen wertungen, die sich auf diesem wege über generationen fortgepflanzt haben'. Die trennung von arbeits- und wohnplatz schafft die entfremdung in der familiengruppe, die identifikationslockerung macht den einzelnen anpassungsgeschmeidiger, aber auch kritik- und verantwortungsscheuer. Das wieder treibt bemächtigungspraktiken im sozialen grossraum hervor, die eine verfassung des einzelnen zur voraussetzung haben, in der die inhalte des über-ichs leicht austauschbar sind. Erinnert man sich der eide, die einem heute sechzigjährigen im laufe seines lebens abgenötigt werden konnten und die er meist widerspruchslos leistete, so erkennt man einen fast attrappenhaften charakter der über-ich leistungen .... Damit ist das eigentliche merkmal der `kulturheuchelei' angedeutet. Die kulturforderung ist nicht assimiliert, mit dem ich leistungsverknüpft, sondern ihr wird nur zeitweilig gehorcht. Der `aussengelenkte' mensch in der Riesmannschen terminologie darf kein über-ich bleibender inhalte haben. Oder genauer: seine inneren leitwerte entwickeln sich nicht evolutionär, sondern sie werden katastrophisch aneinandergereiht, wie die katastrophengeborenen ideologien es fordern. Das mag im prinzip seine gültigkeit in allen zeiten gehabt haben, und nur die häufung dieser um- und zusammenbrüche in kurzem zeitraum kann als besonderheit unserer epoche gelten. Aber solche häufigkeit der neuorientierungszwänge hat eben doch qualitative auswirkungen auf die strukturierung der charaktere, die sie zu bewältigen haben Das faktische gegenbild zu den für unsere zeitläufte typischen helden der massen sind die initiativearmen `frühpensionäre', die in ihren wohlfahrtsstaaten nie flügge werden wollen In einer spezialistisch organisierten grossgesellschaft mit rascher wandlung des technischen produktionsinventars spielt gehorsam eine nicht geringere, wahrscheinlich eine bedeutendere rolle als in einer statusgefestigten, in begrenztere funktionsräme gegliederten gesellschaft Die einfühlung in das kleinkind und in den jugendlichen in den krisen der pubertät ist die unterentwickeltste sozialbeziehung in unserer gesellschaft Weil die sozialisierung des menschen unserer gesellschaft teils verbietend, teils achtlos geschieht und die haltgebenden kontakte fehlen, weil dem kinde von frühester jugend an schuldgefühle eingeflößt werden, ohne dass ihm zugleich guter rat und eine sanfte hand zuteil würden, die ihm zeigen würden, wie man schuld vermeidet und wie man überhaupt zu unterscheiden lernt, wo schuld und wo ein einschüchterungsversuch vorliegt, schließlich: weil eine arbeitsteilige sozialstruktur den verengten spezialisten braucht, der nur auf einem kleinen sektor kritisch denken, sonst aber in unauffälligem konformismus gehorsam zeigen soll - weil diese einflüsse sich überschichten und verwirren, vermag die mehrheit der menschen nicht vernünftige möglichkeiten zu verwirklichen, deren sie potentiell fähig wäre. Das erprobte system, frühzeitig `denkhemmungen' zu setzen, das durch jahrhunderte von den herrschenden gruppen als erziehungsleitsatz für die massen entwickelt wurde, wird gegenwärtig mit hilfe der massenmedien, ihrer art der nachrichtenaufbereitung, mit hilfe des einschleifens von konsumgewohnheiten auf allen ebenen erfolgreich fortgesetzt .... Nur wer dem prinzip der denkhemmung früh unterworfen wurde, neigt dazu, die eigene unvollkommenheit dem anderen anzuhängen - und darüber ziemlich gewiss die wahrung der eigentlichen chancen zu verpassen .... Einfühlung und Distanz Das erlebnis der nähe setzt die überwindung des triebgehorsams voraus, in dem der andere immer nur funktionswert - und nicht mehr - für mich hat, ein mittel zum zweck meiner befriedigung ist. Wo das aufsuchen des mitmenschen, wie auch immer vor uns selbst begründet, aus diesem motiv erfolgt, bleibt der andere fremd; und indem wir uns in der rechenschaft über unsere motivation betrügen, bleiben wir uns dunkel. Mit grosser scharfsicht hat Goethe in einem brief diesen unterschied formuliert zwischen einsicht (und damit annäherung) und einem autistisch triebhaft motivierten verhalten, das sich im überwurf der mitmenschlichen rücksicht versteckt: ``Und was das gute herz, den trefflichen charakter betrifft, so sage ich nur so viel: wir handeln eigentlich nur gut insofern wir mit uns selbst bekannt sind; dunkelheit über uns selbst lässt uns nicht leicht zu, das gute recht zu tun, und so ist es denn ebenso viel, als wenn das gute nicht gut wäre.'' Charakterologisch können wir die selbstgewissheit, mit der an der rationalisierung festgehalten wird, als ``dünkel'' bezeichnen. Goethe fährt entsprechend fort: ``Der dünkel aber führt uns gewiss zum bösen, ja, wenn er unbedingt ist, zum schlechten, ohne dass man gerade sagen könnte, dass der mensch, der schlecht handelt, schlecht sei.'' weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
Siegfried Trapp
Willkommen Bienvenido Welcome  
Suche auf den Seiten von strapp.de:
© strapp 2011
Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (3 von 6)   Zweifellos lag der anlass der amerikanischen kulturentwicklung in der auflehnung gegen das despotische England. Was sich dann aber nach der trennung in Amerika vollzogen hat, war der vorgang des sichüberantwortens an neue praktiken der lebensbewältigung, die schliesslich die wirksamkeit eines inbegriffs der kulturellen traditionsmacht, die potestas des vaters selbst, ungestraft paralysieren konnten - ungestraft jedenfalls durch die väter selbst. `Die schaffung eines Amerikaners', sagt Gorer, `verlangte, dass der vater sowohl als vorbild wie als quelle der autorität verworfen wurde.' `Vater wusste es nie am besten.' `Und als sich die mutation einmal herausgebildet hatte, wurde sie beibehalten: Wie viele generationen immer einen Amerikaner von seinen eingewanderten vorfahren trennen mögen, er verwirft seinen vater als autorität und vorbild und erwartet, dass seine söhne ihn verwerfen.' Die subtile analyse Gorers ist trotz allem zu generalisierungen gezwungen. In altbesiedelten bäuerlichen gegenden Amerikas nämlich, wie zum beispiel in Pennsylvanien, finden sich durchaus gruppen, in denen sich religiös verankerte sozialnormen weitgehend erhalten haben. Wie die schilderungen John Gunters deutlich machen, hat hier ein Europa der vorrevolutionären epoche überdauert, das an seinen ursprungsorten längst von späteren sozialen wirklichkeiten überdeckt wurde. Manche der Pennsylvania Dutch stehen noch unter dem diktat der väterlichen autorität wie die bauernsöhne im dem jahrhundert vor dem eindringen der maschinentechnischen revolution. Es ist also nicht das abschütteln der bevormundung durch die auctoritas des alten Europa, die in Amerika diesen schockierenden zerfall der vaterautorität mit sich gebracht hat, sondern es ist nach interessanten ansätzen einer eigenen stilentwicklung der prozess der ungehemmten ausbreitung der maschinentechnischen organisation mit ihrer diktatur der ununterbrochenen umstellung der lebensbewältigungspraktiken, der solches hervorrief. Die technische entwicklung vollzog und vollzieht weiter die auflösung jahrhundertelang tradierter handwerklicher produktionsformen und `lebensstile'. Der an sie geknüpfte konservatismus als stil sozialer erfahrung kann nicht aufrechterhalten werden. Da die verbindliche, anschauliche väterliche unterweisung im tätigen leben fehlt, hier also keine verlässliche tradition mehr besteht, orientieren sich die altersgenossen aneinander. Die peer group, das heisst die gruppe der altersgenossen in schule und nachbarschaft und im beruf, wird zur richtschnur des verhaltens. Das gilt für erwachsene wie kinder .... Von diesen beobachtungen her hat sich David Riesman zu einer neuen `kulturtypologie' vorgetastet. Neben dem typus des traditionsgelenkten menschen (`tradition-directed') unterscheidet er die typen des `inner-directed', das heisst des vorwiegend gebotsgebundenen  menschen, und des `other-directed', das heisst des durch die konformität mit seinen gruppengenossen gelenkten menschen, der zugleich der durchschnittsbürger der neuen mittelklasse ist, wie sie die technische massenzivilisation heraufgebracht hat .... In diesem sehr anschaulichen vergleich spricht Riesman davon, dass bei diesem neuen menschentyp, der bei seiner massenhaften verbreitung der typus des modernen, man möchte sagen klassenlosen massenmenschen ist, die lenkung `anstelle durch lebenslang gültige ziele, auf die man sich hinbewegt, durch radar erfolgt.' Dabei kann ein dauernder richtungswechsel erfolgen: Denn zum lebensraum des `other- directed' gehört der überraschende zuruf neuer kurzfristiger ziele, die er schnell ergreift und aufgibt. Auch diese art der beeinflussung wir natürlich von kindheit an gelernt. Durch sie entsteht dann neben anderem jenes bild eines vaterverachtenden, technischen progressisten, der in sich keinen anspruch auf `entwicklung' vorfindet, sondern für den es gewissermaßen nur noch zwei kategorien der beurteilung gibt: ein soziales `in-form-sein', polpulärsein, und ein vergessen-, übergangen-, wertlossein. Der begriff des reifens als kollektiv anerkannter ausformung beginnt zu verschwimmen .... bäuerliche traditionswelt .... Vergleicht man diese welt mit der unseren, so sind in der geschichte zwei stufen der entfremdung beobachtbar. Zuerst wird die arbeitswelt von der welt des familiären lebens weggerissen. Das wird als ereignis schon in der romanliteratur der ersten hälfte des 19. jahrhunderts erlebt. Für das kind ist die für die lebensfristung wichtigste lebenspraxis, die berufsausübung des vaters, nicht mehr unmittelbar anschaulich. Aber vielleicht kann der vater noch davon berichten und teile seiner erlernten handfertigkeiten im milieu der familie zur anschauung bringen. Für die väter, denen der nächste schritt der technisierung den beruf bestimmt, die in verwaltungen tätig sind, ist nicht einmal dies mehr möglich, da ihr beruf keinerlei anschaulichkeit mehr in sich birgt und also auch von ihm, ausser ärger und büroklatsch, nichts mehr in die familiäre welt mit nach hause gebracht werden kann Charakteristisch genug sind die wenigen glücklichen erinnerungen des patienten an seinen vater mit den kurzen stunden gemeinsamer bastelarbeit verbunden. Aber in dieser hinsicht gab es eben keine zusammenhängende, verbindende tätigkeit, vielmehr stand ganz die leistungsdressur als leitmotiv über der jugend dieser kinder .... Ein solches kind erfährt kein `urvertrauen', und es hat dann später keinen sicheren standort, von dem aus es seine autonomie entwickeln könnte Der ausweg, den er vorher aus dieser qual suchte, ist der, dass er die eine, die negative seite in der beziehung zu den alten beziehungspersonen - den eltern - belässt, die positive seite auf neue idealisierte vorbildfiguren überträgt Es ist wahrscheinlich keine sentimentalität, in diesen erfahrungsgrundlagen - bei denen ja zugleich die gestaltung der landschaft selbst durch arbeit mitvollzogen wird - den ursprung jenes zugehörigkeitsgefühls zu suchen, den das wort `heimat' symbolisiert .... Nun wäre es bestimmt ein verträumter irrtum, die bäuerliche welt zu verklären - ihre dörfliche enge und inzucht, ihre rigideste konformität und besitz- beziehungsweise selbstbewusstseinsstaffelung, die lastende körperarbeit, die gefühlsstumpfheit und den aberglauben. Und doch hatte sie - je ferner sie uns rückt, je mehr die technisierung die bauernwirtschaft zu einem sich spezialisierenden wirtschaftszweig neben anderen umformt - in allem permanenten elend eine chance, den ambivalenzkonflikt produktiv zu schlichten. Eben durch diesen einheitlichen handlungsraum. Die rivalität mit dem vater konnte in einer ausserverbalen, aber direkt anschaulichen konkurrenz mit ihm, im umgang mit werkzeugen ausgetragen werden. Der sohn konnte dem vater auf dessen eigenem feld vorpflügen und beweisen, was er konnte. Diese direkte konkurrenz, die zur bewältigung der affektiven gespanntheit beitrug, brauchte nicht den direkten ausdruck, den streit; sie konnte auf dem umweg über eine beiden partnern gleichvertraute tätigkeit geschehen. Die trennung der väterlichen von der kindlichen welt in unserer zivilisation lässt eine derartig anschauliche erfahrung auf beiden seiten nicht zu; das kind weiss nicht, was der vater tut; der vater nicht, wie das kind in seinen fertigkeiten heranwächst. Eine selbstgebaute scheune ist auf eine andere weise zum besitz geworden als ein eisschrank oder ein automobil .... Alles das muss ihm das gefühl der vereinsamung geben und legt ihm den schluss nahe, dass der vater schwach, unfähig ist, dass man mit ihm nicht rechnen kann. Umgekehrt fühlen die väter eine verständnislose verschlossenheit an den söhnen, die es schwer oder unmöglich macht, das rechte wort im rechten augenblick zu finden Den `feld-anthropologen' - und als solcher fühlt sich der psychoanalytisch tätige arzt - bewegen die in der einkleidung der individuellen situation sich in zahlloser variation wiederholenden gleichen entfremdungsvorgänge  Gehorsam - Autonomie - Anarchie Gehorsam ist so notwendig, wie er ganz offensichtlich nicht selbstverständlich ist. Er ist der stärksten und unversieglichen leidensquellen eine .... Recht zum ungehorsam? Das kann doch nur ein so unglaublicher sonderfall sein, dass es sich nicht lohnt, solche situationen ernstlich ins ordnungsbewusstsein aufzunehmen. Wann sind eigentlich `vormünder' so schlecht, dass ihnen der denkzettel des ungehorsams gebührt? Im rechtsmodell ist das vielleicht nicht allzu schwer zu präzisieren - aber in der unwürdigen lage selbst gehört kälteres blut, als die meisten haben, dazu, sich der paragraphen zu erinnern, die von der würde handeln, von der würde des schwächeren. Man arrangiert sich auf den krummen wegen Die schwächliche nachsicht der folgenden generation gegenüber entstammt aber auch einem zunehmenden, aber vagen unbehagen und schuldgefühl, in einer der tradierten bekanntheit entschlüpfenden welt dem kind ebensowenig wie sich selbst eine innere ordnung vermitteln zu können, was von vielen menschen regressiv mit einem rückzug auf egoistische befriedigung ihrer triebwünsche beantwortet wird. Weil dieses aus narzisstischer interesselosigkeit am anderen und aus hilflosigkeit gemischte gewährenlassen wie güte aussieht und sich unversehens mit errungenschaften fortschrittlicher erziehung vermengt, lohnt es sich, hartnäckig die zwei grundtatsachen, an denen keine gesellschaft vorbeikommt, zu betonen: Sie muss auch versagend ihren gliedern gegenüber sein, muss sie lehren, versagungen zu verarbeiten, ohne sich dabei von sich selbst zu entfremden, also weder nur passiv sich anzupassen noch sozial zu ignorieren; und sie muss lehren, wie gruppen mit der durch diese versagungen erregten ambivalenz der gefühlseinstellung fertig werden, wie sie sich produktive lösungen durch sublimierung erarbeiten können. Dazu wird nicht zuletzt gehöhren, dass man den gehorsam nicht als selbstverständlichkeit ansieht und nicht als dressat durch einseitiges  kommunizieren vom befehlenden zum gehorchenden erzwingt, sondern bewusste rücksicht auf den schwächeren nimmt. Der jetzt noch schwächere soll aber einst kraftvoll, nicht unangemessen anspruchsvoll werden Unverstand und brutalität, die wir in der kindheit erfahren, hinterlassen für immer spuren in unserem charakter. Wir sind eingedenk des früher erwähnten Pascalschen satzes: `Niemals tut man so vollständig und so gut das böse, als wenn man es mit gutem gewissen tut.' Jetzt ermessen wir die ganze schwierigkeit der orientierung durch das ich, die im verhalten der erwachsenen und der kinder zutage tritt. Das `böse' ist für die eltern Luthers das moralisch gerechtfertigte gute. Für das kindliche ich entsteht die unendlich lebenserschwerende aufgabe, zwei unvereinbar antagonistische introjektionen als zentren seiner verhaltenssteuerung zu gehorchen: dem introjekt, das gehorsam fordert und sich darauf beruft, es `herzlich gut' zu meinen, und dem anderen, das unersättlich strafend, demütigend gegen das selbst vorgeht, unversöhnlich bleibt, einschüchtert und den selbstwert zerstört. Das sind die aspekte des entarteten gewissens, dessen gehorsamsforderung nicht von einsicht gelenkt ist, sondern wiederum ein unzugängliches absolutum darstellt Unsere wege zur einsicht, unsere einübung zur selbstkontrolle in den sozialen kontakten vollzieht sich gleichsam eingehüllt in affekte, die uns von anderen menschen entgegenkommen ... wurde mit dem begriff des `introjektes' angedeutet; er meint, dass in sehr frühen etappen der erfahrung eine forderung, der wir in der umwelt begegnen, während wir unseren bedürfnissen folgen, zu einer inneren stimme zu werden vermag .... die introjekte werden teile des selbst, des ganzen charakters, und halten das ich so fest umklammert, dass es ihm kaum oder gar nicht gelingt, zu ihnen in kritischen abstand zu gelangen Freud hat darauf hingewiesen, dass `das über-ich des kindes eigentlich nicht nach dem vorbild der eltern, sondern des elterlichen über-ich aufgebaut' wird.; das über-ich wird damit `zum träger der tradition, all der zeitbeständigen wertungen, die sich auf diesem wege über generationen fortgepflanzt haben'. Die trennung von arbeits- und wohnplatz schafft die entfremdung in der familiengruppe, die identifikationslockerung macht den einzelnen anpassungsgeschmeidiger, aber auch kritik- und verantwortungsscheuer. Das wieder treibt bemächtigungspraktiken im sozialen grossraum hervor, die eine verfassung des einzelnen zur voraussetzung haben, in der die inhalte des über-ichs leicht austauschbar sind. Erinnert man sich der eide, die einem heute sechzigjährigen im laufe seines lebens abgenötigt werden konnten und die er meist widerspruchslos leistete, so erkennt man einen fast attrappenhaften charakter der über-ich leistungen .... Damit ist das eigentliche merkmal der `kulturheuchelei' angedeutet. Die kulturforderung ist nicht assimiliert, mit dem ich leistungsverknüpft, sondern ihr wird nur zeitweilig gehorcht. Der `aussengelenkte' mensch in der Riesmannschen terminologie darf kein über-ich bleibender inhalte haben. Oder genauer: seine inneren leitwerte entwickeln sich nicht evolutionär, sondern sie werden katastrophisch aneinandergereiht, wie die katastrophengeborenen ideologien es fordern. Das mag im prinzip seine gültigkeit in allen zeiten gehabt haben, und nur die häufung dieser um- und zusammenbrüche in kurzem zeitraum kann als besonderheit unserer epoche gelten. Aber solche häufigkeit der neuorientierungszwänge hat eben doch qualitative auswirkungen auf die strukturierung der charaktere, die sie zu bewältigen haben Das faktische gegenbild zu den für unsere zeitläufte typischen helden der massen sind die initiativearmen `frühpensionäre', die in ihren wohlfahrtsstaaten nie flügge werden wollen In einer spezialistisch organisierten grossgesellschaft mit rascher wandlung des technischen produktionsinventars spielt gehorsam eine nicht geringere, wahrscheinlich eine bedeutendere rolle als in einer statusgefestigten, in begrenztere funktionsräme gegliederten gesellschaft Die einfühlung in das kleinkind und in den jugendlichen in den krisen der pubertät ist die unterentwickeltste sozialbeziehung in unserer gesellschaft Weil die sozialisierung des menschen unserer gesellschaft teils verbietend, teils achtlos geschieht und die haltgebenden kontakte fehlen, weil dem kinde von frühester jugend an schuldgefühle eingeflößt werden, ohne dass ihm zugleich guter rat und eine sanfte hand zuteil würden, die ihm zeigen würden, wie man schuld vermeidet und wie man überhaupt zu unterscheiden lernt, wo schuld und wo ein einschüchterungsversuch vorliegt, schließlich: weil eine arbeitsteilige sozialstruktur den verengten spezialisten braucht, der nur auf einem kleinen sektor kritisch denken, sonst aber in unauffälligem konformismus gehorsam zeigen soll - weil diese einflüsse sich überschichten und verwirren, vermag die mehrheit der menschen nicht vernünftige möglichkeiten zu verwirklichen, deren sie potentiell fähig wäre. Das erprobte system, frühzeitig `denkhemmungen' zu setzen, das durch jahrhunderte von den herrschenden gruppen als erziehungsleitsatz für die massen entwickelt wurde, wird gegenwärtig mit hilfe der massenmedien, ihrer art der nachrichtenaufbereitung, mit hilfe des einschleifens von konsumgewohnheiten auf allen ebenen erfolgreich fortgesetzt .... Nur wer dem prinzip der denkhemmung früh unterworfen wurde, neigt dazu, die eigene unvollkommenheit dem anderen anzuhängen - und darüber ziemlich gewiss die wahrung der eigentlichen chancen zu verpassen .... Einfühlung und Distanz Das erlebnis der nähe setzt die überwindung des triebgehorsams voraus, in dem der andere immer nur funktionswert - und nicht mehr - für mich hat, ein mittel zum zweck meiner befriedigung ist. Wo das aufsuchen des mitmenschen, wie auch immer vor uns selbst begründet, aus diesem motiv erfolgt, bleibt der andere fremd; und indem wir uns in der rechenschaft über unsere motivation betrügen, bleiben wir uns dunkel. Mit grosser scharfsicht hat Goethe in einem brief diesen unterschied formuliert zwischen einsicht (und damit annäherung) und einem autistisch triebhaft motivierten verhalten, das sich im überwurf der mitmenschlichen rücksicht versteckt: ``Und was das gute herz, den trefflichen charakter betrifft, so sage ich nur so viel: wir handeln eigentlich nur gut insofern wir mit uns selbst bekannt sind; dunkelheit über uns selbst lässt uns nicht leicht zu, das gute recht zu tun, und so ist es denn ebenso viel, als wenn das gute nicht gut wäre.'' Charakterologisch können wir die selbstgewissheit, mit der an der rationalisierung festgehalten wird, als ``dünkel'' bezeichnen. Goethe fährt entsprechend fort: ``Der dünkel aber führt uns gewiss zum bösen, ja, wenn er unbedingt ist, zum schlechten, ohne dass man gerade sagen könnte, dass der mensch, der schlecht handelt, schlecht sei.''  weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
 
Suche auf den Seiten von strapp.de:
© strapp 2011