Quito, Sonntag, 09.06.1985, 23:30
Ich komme momentan kaum zum Schreiben, weder des Tagebuchs, noch von Briefen.
Überfällig und notwendig wäre längst ein Brief an Bn.. But let it flow.
Bevor die Erinnerung noch mehr ihre Frische verliert und verblasst, trotz Müdigkeit rasch noch
einige Anmerkungen zum Illiniza-Unternehmen.
Wir standen also im Páramo, stolperten eine Zeitlang über Büsche. Links zog sich eine
Schlucht hin, uns den vermuteten Weg versperrend. Schnell, wie immer am Äquator, brach
die Nacht herein. Eine mondlose Nacht, zu der Weglosigkeit gesellte sich also ägyptische
Finsternis; dieses Duo bezwang sogar unseren unbekümmerten Optimismus. Wir hatten die
Sache doch zu burschikos, zu unvorbereitet, zu selbstsicher angepackt. Es blieb nichts, als
den Rückzug anzutreten. Fast wieder unten am Fahrzeug, entdeckten wir eine Abzweigung,
die uns beim Hochgehen entgangen war. Führte dieser Weg zur Schutzhütte?
Obgleich keine große Begeisterung vorhanden war, den ungewissen Weg mit den schweren
Rucksäcken anzugehen, taten wir´s doch, „höchstens für ein Stündchen“, „um zu sehen,
wohin er führt“.
In der Folge gabelten sich die Pfade mehrmals. Bei einer Kurzmahlzeit im Gebüsch holte ich
endlich meine Stirnlampe aus dem Rucksack. Wir gingen weiter, rational unverständlich,
irgendeine Hoffnung, irgendein Ehrgeiz trieb uns in der Dunkelheit weiter, vermutete Pfade
oder ausgetrocknete, schmale und tiefe Bachläufe entlang, immer aufwärts. Die Richtung des
Pfades konnte überhaupt nicht stimmen, wir mussten viel zu weit nach rechts gekommen
sein, wir hatten weitgehend die Orientierung verloren. Meine Stirnlampe hatte einen
Wackelkontakt, fiel ganz aus, war trotz verzweifelter und wütender Bemühungen nicht wieder
in Gang zu bringen. Ich stolperte. Stolperte weiter. Plötzlich ragten links vor uns, schwach
leuchtend, schneedeckt, zwei Bergriesen aus dem Dunkel. Es konnten nur die Illinizas sein,
wir konnten es kaum fassen, dass wir derart die Orientierung verloren hatten. Um ganze 90°
hatten wir uns in der Richtung geirrt.
Es wurde immer steiler. Stunde um Stunde stolperten Ri. und ich im Dunkeln über Steine,
fußballgroße, aber auch wesentlich größere. Ch. hatte Licht, er eilte voran. Wir konnten sein
Tempo nicht mithalten. Es ging ans Eingemachte. Jedes Stolpern, vor allem Stürze,
verursachte Schwächegefühle. Mitunter war Ch.´s Licht weit über uns am Berg zu sehen,
dann war es ganz verschwunden. Es bestand auch kein Rufkontakt mehr.
Nach etwa 5-6 Stunden unter den Rucksäcken, es ging auf Mitternacht zu, bewegten Ri. und
ich uns dagegen auf unsere Grenzen zu. Alle zehn Schritte mussten Rasten eingelegt werden.
Einmal war Ri. im Dunkeln am Grat zu weit rechts gekommen, fast abgerutscht.
Ch. kam zurück. Eine halbe Stunde aufwärts war er auf eine senkrechte Wand gestoßen.
Keine Hütte. Der Nebel war die ganze Zeit hinter uns her gewesen und hatte uns jetzt in der
Schlucht zur Rechten überholt. Zwar mussten wir ungefähr auf 4800 m Höhe sein, auf der
Höhe, auf der sich das Refugio befinden musste, allein es war aussichtslos, die Hütte zu
finden.
Abstieg oder Biwak im Freien?
Ri. schreckte ein eventueller Schneefall; ein nasser Schlafsack bei der herrschenden
Temperatur von etwa -5 °C wäre sicher äußerst unangenehm gewesen. Ch. und ich waren für
das Biwak. Der Gedanke an eine Stolperei zurück war für mich kaum ertragbar.
Etwas weiter oben fanden wir auf dem abschüssigen Pfad einen zweimannshohen Felsblock
von annähernd kugelförmiger Gestalt. Ch. zwängte sich unter ihn und errichtete aus
Skistöcken und Anorak einen Schneeschutz. Ri. und ich krochen in den Biwaksack, den ich
glücklicherweise erst einige Tage zuvor nebst anderen Ausrüstungsgegenständen Peter M.
abgekauft hatte.
Er bewährte sich: Tatsächlich fing es an zu schneien. Wir steckten unsere Köpfe unter den
Fels; der Biwaksack bedeckte sich mit Schnee. Es war keine gemütliche Nacht. Zwar
verschwanden die anfangs auftretenden Kondenswasserprobleme im Biwaksack, jedoch war
unser Lager so abschüssig, dass wir ständig Stück für Stück abrutschten, unsere Köpfe dann
des schützenden Felsens entbehrten und vor allem die Gefahr bestand, dass es in den
Biwaksack hineinschneite. Wir mussten uns deshalb etwa jede Stunde wieder auf den
Ellbogen hocharbeiten. Gegen Morgen stäubte der stärker werdende Wind uns auch unter
dem Fels Schnee ins Gesicht, zerrte am Biwaksack und blähte ihn auf.
Etwa um sieben Uhr verließen wir das Schlaflager und packten bei beißendem Wind
zusammen. Mich packte nochmal eine andere Lust, nämlich nach der Hütte Ausschau zu
halten, trotz des Nebels, und ich stieg an. An der von Ch. erwähnten Wand angekommen
wandte ich mich zuerst nach links, dann nach rechts. Nur milchiges Weiß, Schnee und Nebel
verschmolzen ineinander. Die anderen kamen nach, wir gingen
nochmals nach rechts, eine dunkle Silhouette tauchte auf, da war die
Hütte! Eingeschneit, ein fast gänzlich vereistes Rinnsal floss an ihr
vorbei.
Wir suchten und fanden noch den Einstieg in den Gletscher des Illiniza
Sur, aber es wäre mehr als leichtsinnig
gewesen, den sehr steilen Gletscher bei
Neuschnee zu betreten. Wir traten den
Rückweg an.
Dienstag, 11.06.1985, 20:30
Wenn mich was zur Weißglut treiben kann, dann ist es Unzuverlässlichkeit.
Freitag, 14.06.1985, 20:00
Packen für den morgigen Illiniza-Versuch: Das zweite Mal. Rachowiecki schreibt in „Hiking and
climbing in Ecuador“: „Ice screws or snow stakes will be required by all except extremely
experienced climbers. Avalanches occur often enough to pose a danger……”
“Some of the steeper sections are about sixty degrees…..” “…Rockfall can be a hazard and a
helmet is suggested…..”
Mittwoch, 26.06.1985, 23:00
Mein Traum ist: zu zelten, möglichst am Krater, oder in der Nähe der Yanasacha, kaum ganz
auf dem Gipfel, auf dem Cotopaxi.
Freitag, 12.07.1985, 21:00
Appetitlos seit Wochen, mitunter Magenunwohlsein. Ich weiß nicht, was die Stunde schlägt,
was Trumpf ist. Ich möchte etwas kaputtschlagen. Ich war zu viel allein in letzter Zeit und ich
sehne mich. Es gibt hier in Quito niemanden, zu dem ich mich hingezogen fühle. Zwei junge
Mädchen, achtzehn und fünfzehn (!) Jahre alt, es droht das Schreckgespenst „Unzucht mit
Abhängigen“. Es sind Schülerinnen.
Die Arbeit gefällt mir hier, doch leide ich periodisch, mir scheint die Amplituden der
Schwingungen nehmen stetig zu, an Einsamkeitsgefühlen, an elementaren Bedürfnissen nach
Liebe und Zärtlichkeit, nach einem warmen Körper, einem weichen.
Bisweilen träume ich nachts schon davon, neben einem Mädchen zu liegen, es sind immer
junge.
Ein Kuss, ein wildes Fest mit irischer folk music, mit Rotwein, Bier, Gitarren, Flöten, Tanz.
Ich wäre gerne heute Abend in die Sauna gegangen,; etwas Wärme, etwas Abwechslung,
doch nicht alleine.
Nein.
Muss das alles sein?
Über der Karibik, Montag, 22.07.1985, 13:00
Wieder im Jumbo, diesmal der Lufthansa, wieder im Anflug auf San Juan/Puerto Rico. Diesmal
vom südamerikanischen Festland aus.
Viel ist nachzutragen, doch: Null Bock.
Außerdem macht mir meine Influenza zu schaffen.
Dienstag, 23.07.1985, 04:30
Wir befinden uns irgendwo vor der nordfranzösischen Küste. Sechs Stunden Nacht, sechs
Stunden Schlaf sind verloren: Die Reise nach Osten verursachte eine nur etwas mehr als zwei
Stunden andauernde Dunkelheit. Abend- und Morgendämmerung mit eindrucksvollen Farben,
fast unnatürlich wirkendes Kirschrot, viele Orangetöne, Olivgrün in Stahlblau übergehend,
jeweils Farbstreifen, die voneinander abgesetzt sind, die nur schmale Übergangszonen
aufweisen. Zuunterst über der graublau werdenden Wolkendecke, ein schmales Band, wie ein
Bodensatz von roten Blutkörperchen.
Ein Reizhusten quält mich seit mehreren Stunden, und die Augen schmerzen in ihren Höhlen.
Siegfried
Trapp
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