Wenn die Haifische Menschen wären (1948)
„Wenn die Haifische Menschen wären”, fragte Herrn K. die kleine Tochter
seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?”
– „Sicher”, sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im
Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand
Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass
die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt
allerhand sanitäre Massnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein
sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband
gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die
Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu grosse Wasserfeste;
denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich
auch Schulen in den grossen Kästen. In diesen Schulen würden die Fisch-
lein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden
zum Beispiel Geographie brauchen, damit sie die grossen Haifische, die faul
irgendwo liegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die
moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass
es das Grösste und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert,
und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie
sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den
Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehor-
sam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und
marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort
den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete.
Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch unter-
einander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu
erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen.
Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der
anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden
sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz ver-
schiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen.
Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in
anderer Sprache schweigende Fischlein tötete, würden sie einen kleinen
Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Hai-
fische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es
gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen
Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig
tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund
würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen
schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren
Klängen, die Kapelle voran, träumerisch und in allerangenehmste
Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten.
Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie
würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu
leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische
Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von
ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die
ein wenig grösseren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die
Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter grössere Brocken zu
fressen bekämen. Und die grösseren, Posten habenden Fischlein würden für
die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im
Kastenbau usw. werden.
Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifischen
Menschen wären.”
Bertolt Brecht (1898–1956)
Quelle: www.deutschkurse.ch
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