Er musste sich irgendwann während der Fahrt losgerissen haben. Inhalt: Mein
Lieblingspullover, meine Isoliermatte, mein neuer teurer Schlafsack.
Umzukehren, um ihn zu suchen, schien unmöglich. Wir hatten gerade einige Kilometer lang
Dünen überquert, wo selbst der allradgetriebene Land Rover durch Schieben unterstützt
werden musste. Ich erwog unter den Sherry-Nebeln für einen Moment mir eines der Pferde
zu leihen und zurück zu reiten, allein auch dieses schien aussichtslos, da sicherlich schon
jemand von den nachfolgenden Wallfahrern den Sack an sich genommen hatte.
Mir wurde klar, dass ich ihn abschreiben musste.
Die Karawane schaffte an diesem Tag etwa 30 km. Nach Einbruch der
Nacht erreichten wir Palacio de Doñana, ein großes
Gebäude inmitten des Nationalparks. Zahlreiche
Fahrende umlagerten dieses Gebäude, überall
loderten Lagerfeuer, überall waren die
Flamencotrommeln zu vernehmen, die eine viel
größere Rolle spielen als die Gitarren.
Der Alkohol- und vor allem der unbotmäßige Zigarettenkonsum im Verein mit der Aufregung
über den Verlust des Schlafsackes hatte mir migräneartige Kopfschmerzen eingebrockt, das
erste Erlebnis dieser Art auf der Reise. Man wies mir irgendwo einen Platz zu, ich stellte in
der Dunkelheit unter größter Konzentration das Zelt auf, kroch hinein und wickelte mich, der
Schlafsack war ja weg, in meine Aluminiumfolie, die ich sonst immer in letzter Zeit zur
Thermoreflektion über das Kuppelzelt gespannt hatte. Der beißende Geruch eines nahen
Lagerfeuers drang in das Zelt. Erbrechen wäre wahrscheinlich nützlich gewesen, ich hatte
jedoch keine Kraft mehr das Zelt zu verlassen. Ich zerbrach eine Aspirin-Brausetablette und
ließ sie aus Ermangelung von etwas Trinkbarem im Mund zergehen. Schäumend, und unter
Flamencogetrommel, verlor ich das Bewusstsein.
Die Alufolie hielt die (auch sonst während der gesamten Aufenthaltszeit im Süden)
empfindliche Nachtkühle gut von mir, Socken wären jedoch vorteilhaft gewesen. Ich erwachte
am nächsten Morgen in einer schmalen Passage zwischen zwei Pferdekoppeln, neben den
Pferdeknechten. Die Señores schliefen, so hatte man mir mitgeteilt, in El Rocio, würden dann
per Land Rover wieder zurückkehren um dann mit dem „Cavallo“ „langsam“ nach Rocio
reiten. Ich hätte auch in El Rocio übernachten können, wollte aber hier noch nach dem
Schlafsack Ausschau halten.
Es war aussichtslos. Dutzende von Sippen waren da; wenn ihn nicht jemand demonstrativ
vor seine Lagerstatt gestellt hatte, war er nicht aufzufinden.
Als auch noch die Kamera streikte (Sand hatte den Auslöserknopf blockiert, so dass der
Belichtungsmesser ständig in Betrieb war und die Batterie erschöpfte) fasste ich den
Beschluss heimzukehren.
Der Beschluss kam plötzlich, doch nicht überraschend.
Seit Tagen hatte ich keine Lust zum Radfahren mehr. Das hintere Rad ist so verbogen, dass
es nicht mehr zu justieren ist, ohne dass es irgendwo streift. Seit Málaga, seit zwei Wochen,
hatte ich fast tagtäglich Gegenwind gehabt. Ich war nach neuneinhalb Wochen Radfahren
müde geworden; am Vorabend hatte ich mich zum ersten Mal richtig auf zu Hause gefreut.
Ich hätte mir nun, bei meinen mageren finanziellen Verhältnissen, einen neuen Schlafsack
kaufen müssen; dies gab den Ausschlag.
Ich wartete die Ankunft der Señores nicht mehr ab und packte. Die Pferdeknechte machten
mir noch einen Café, ich gab ihnen meine Adresse für Juan (falls „el saco“ doch noch
auftauchen sollte), verabschiedete mich herzlich von ihnen und fuhr los.
Die Piste war ab hier einigermaßen befahrbar. Wellblechpiste (vorbeifahrende LKWs konnten
höchstens mein doppeltes Tempo fahren), aber sehr wenig Sand. Nach 12 km erreichte ich
die geteerte Straße und brach darob in Jubel aus.
Die folgenden 25 km bis Almonte hatte ich Gegenwind, aber ich wusste dass dies der letzte
Gegenwindtag der Reise sein würde.
In Rocio unterbrach ich die Fahrt. Ein 2000-Seelendorf, ohne Asphaltstraße im Ort, Sand-
und Staubpisten, die von Wasserwagen besprengt wurden. Um die Kirche herum ein großer
Trubel: Prozession, Knallkörper. So stelle ich mir Mexiko vor.
„El saco“ stand leider nicht vor der Kirche.
Im Ort bekam ich noch ein Brot und einige Kekse, denn ich hatte keinen Proviant bei mir.
Wäre ich allein mit dem Rad durch den Nationalpark gezogen, wäre dies sehr leichtsinnig
gewesen: Ohne jegliche Nahrungsmittel und nur mit einem dreiviertel Liter Wasser!
Von Almonte bis Sevilla: Ein versöhnlicher Abschluss des Radfahrens, mit einem
Rückenwindabschnitt von vielleicht 35 km! Endlose Orangenfelder links und rechts des
Wegs, die Bäume in gepflügter roter Erde, am Wegrand farbenprächtige Blumen, leuchtender
Klatschmohn und intensiv blaue Wegwarten.
Gegen fünf Uhr nachmittags erreichte ich Sevilla und war gescheit genug, mich nicht in den
nächstmöglichen Zug zu setzen, sondern ein Hotel aufzusuchen. Das „Hostal de Naranjos“
erweckte zwar keinerlei Assoziationen zu Orangenbäumen, verfügte aber über ein
geräumiges Zimmer und vor allem über eine gute heiße Dusche.
Am Abend genoss ich es noch einmal, als sprachunkundiger Fremder, als einsamer Wolf,
durch eine Großstadt zu wandern.
Im bereit stehenden Zug in Cerbére, Sonntag, 22.05.1983, 21:15; 73,5 kg
Am nächsten Morgen suchte ich das RENFE-Büro auf und kaufte das Ticket. Das Rad
schloss ich an eine Parkbank; dann machte ich mich auf, den Sehenswürdigkeiten Sevillas
meinen Tribut zu zollen.
Das „Museo de bella Arte“ war direkt gegenüber und kam als erstes dran. Die Gemälde, u.a.
von Murillo und Zurbarán, stellten ganz überwiegend religiöse Motive dar. Der gekreuzigte
Christus war mehr als zwanzigmal abgebildet, überhaupt die Leidensgeschichte, daneben
zahlreiche Heilige, auch bei ihren Visionen. Nachdem ich die Hälfte der der vorhandenen
Gemälde und Skulpturen betrachtet hatte war ich bereits stark ermüdet.
Die Kathedrale, einer der größten
gotischen Dome überhaupt, war um die
Mittagszeit leider geschlossen. Wahrlich
ein Riesending; interessant besonders
der Gegensatz zwischen dem
Minarettunterbau und dem darauf
aufgesetzten gotischen Glockenraum bei
La Giralda, dem 93 m hohen Turm.
Das ehemalige Königsschloss Alcázar war ebenfalls
gerade geschlossen. An ihm vorbei gelangte ich, eher per Zufall, in das
schöne Stadtviertel Santa Cruz.
Es wurde Zeit, den Bahnhof „Plaza de Armas“ aufzusuchen; dort
klappte auch alles.
Bis Barcelona waren wir nur zu zweit im Abteil: Schlafmöglichkeit!
Mein Gegenüber war ein 31jähriger Ire, seinen Worten nach eine Mischung aus Reisendem
und Journalisten. Wir unterhielten uns prächtig, hörten ab und an Musik über Kopfhörer aus
seinem Stereotaschenrekorder, u.a. Klaviersonaten von Ravel, tranken Cervezas, vielleicht
ein halbes Dutzend. Er sprach einiges Spanisch (war jetzt neun Monate in Spanien) und
unterhielt sich mit vier jungen Burschen von den kanarischen Inseln, die nach Lerida wollten.
Auf den Kanaris herrscht große Arbeitslosigkeit, sie hatten gehört, dass es in Lerida Arbeit
gäbe, in der Landwirtschaft oder auch sonst wo, und wollten dahin. Vom Süden in den
Norden, ohne Arbeitsvertrag. Parallelen zu Steinbecks „Früchte des Zorns“ drängten sich mir
auf.
In Barcelona-Sants stieg ich um, nach Barcelona-Termino, meinem Lieblingsbahnhof. Prompt
gab es wieder einige Unklarheiten, bis Abfahrtzeit und Abfahrtgleis nach Cerbére
feststanden.
Wieder spürte ich die knisternde Erotik, die von den Spanierinnen Barcelonas ausgeht; ich
ziehe sie eindeutig den Spanierinnen des tiefen Südens vor.
In Cerbére: Vier Stunden Aufenthalt, Gelegenheit also eine Paella de Valencia
„französischer“ Machart einzunehmen und sie mit der am Vortag in Sevilla verspeisten zu
vergleichen: Anderthalb mal so gut, dreimal so teuer.
Genf, Pfingstmontag, 23.05.1983, 08:00
Graue Wolkenschleier ziehen über grauweißen Himmel, es regnet, und es ist kalt, vielleicht
um die 10 °C.
Der Verlust der Wetterqualität schmerzt, ich kann und mag mich nicht an diese
mitteleuropäischen Wetterverhältnisse gewöhnen.
Etwas Wehmut kam auch im Zug kurz hinter Sevilla auf: Die mit dem Rad so mühselig
erkämpfte südliche Breite wird mit dem Zug so schnell und leicht zunichte gemacht. Es
erwarten mich kein neues Land, keine neuen Erkenntnisse, sondern ein Zurück in
Altbekanntes und Gewohntes, auch viel Verkorkstes. Das Bangen um den Arbeitsplatz wird
dräuender. Die Beschneidung meiner Freiheit durch mich selbst droht ebenfalls.
Ich muss mit nach Hause nehmen, was ich gelernt habe. Dass ich wesentlich mehr
persönliche Freiheit besitze, als ich bisher für mich in Anspruch genommen habe, ist eines
der wesentlichsten Erkenntnisse der Reise. Es gehört nur Mut und etwas Vertrauen dazu, es
zu verwirklichen.
Ständiges Ausschauhalten nach Kontaktmöglichkeiten, eine ziemliche Notwendigkeit für den
Alleinreisenden, wird möglicherweise am schwierigsten mit hinüberzunehmen sein. Ich hoffe,
die um einiges vertiefte Wahrnehmung hilft mir meine Anstrengungen zu vermehrfachen.
Wichtig auch: Es muss nicht alles so gehen, wie es geplant war, ja es braucht oft keinen
Plan. Ein nicht einfaches Axiom für einen naturwissenschaftlich orientierten Menschen.
Eigentliches Ziel der Reise war das Durchfahren der Algarve; ich habe es, nicht einmal
schweren Herzens, geschafft eine einzige Tagesreise vor der portugiesischen Grenze
aufzugeben. Nachzugeben musste ich lernen, z.B. bei starkem Gegenwind, oder sonstigem
ungünstigen Wetter. Manche Dinge gelassen hinzunehmen, sich in diesen Momenten dann
an was anderem zu erfreuen ist was Herrliches. Der Versuch der Freude am Jetzt und Hier:
Etwas, das mich schon seit einem dreiviertel Jahr stark fasziniert.
Bahnhof Basel, Pfingstmontag, 23.05.1983, 11:00
Die französische Schweiz liegt nun hinter mir, deutsche Ansagen und Auskünfte sind jetzt
üblich.
Strümpfelbach, Dienstag, 25.05.1983, 11:30
In Stuttgart, ich hatte gerade die Fahrkarte nach Schw. Gmünd erstanden, umarmte mich
plötzlich meine Schwester: Sie und mein Schwager Roger hatten über einen Anruf in
Heubach und am Bahnhof meine Ankunftszeit erfahren und waren mich abholen gekommen.
Wir fuhren nach Strümpfelbach zu C., später zu einem Konzert der “Allgemeinen
Verunsicherung” nach Schorndorf.
C. und ich schliefen die ersten beiden Stunden des neuen Tages leidenschaftlich
miteinander, und wir tauschten unsere Gefühle und sexuellen Beziehungen der vergangenen
drei Monate aus; auf ihr Bestreben.
Die Reise ging zu Ende. Ich bin dankbar und empfinde es als Gnade, dass ich sie machen
durfte und konnte.
Eine neue, andere Reise beginnt.
Siegfried
Trapp
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