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Postfaktische Tendenzen schon seit 1980
18. Januar 2022
„Wir folgern“ oder „Ich glaube“? Im postfaktischen Zeitalter werden individuelle
Meinungen und Befindlichkeiten oft stärker gewichtet als rationale Analysen und
Fakten. Einer Literaturanalyse zufolge hat dieser Trend schon vor rund 40 Jahren
begonnen, lange vor dem Aufkommen sozialer Medien. Sowohl in Fachbüchern, als
auch in der Belletristik sowie in Artikeln der „New York Times“ nahmen demnach
seit 1850 zunächst Wörter zu, die mit Rationalität und Logik in Verbindung gebracht
werden. Seit 1980 jedoch kehrte sich dieser Trend um, zugunsten von
emotionsbetonten Begriffen.
In sozialen Netzwerken tun Millionen von Menschen ihre Ansichten, Gefühle und
individuellen Erfahrungen kund. Während sich Gerüchte und Falschmeldungen schnell
verbreiten, haben es Fakten und rationale Argumente oft schwer. Besonders ins
öffentliche Bewusstsein gerückt ist dieses Phänomen seit der Amtszeit des ehemaligen
US-Präsidenten Donald Trump, der auf Twitter seine subjektiven Überzeugungen
verbreitete, die in vielen Fällen wissenschaftlich belegten Fakten widersprachen.
Von Logik zu Gefühl
Doch der Trend weg von rationalen Argumenten hin zu persönlichen Ansichten begann
schon deutlich eher, zeigt nun eine Analyse. „Um herauszufinden, wie Fakten und Gefühle
jeweils historisch gewichtet wurden, haben wir den Wortgebrauch in Millionen von
Büchern in englischer und spanischer Sprache aus der Zeit von 1850 bis 2019
systematisch analysiert“, berichtet ein Team um Marten Scheffer von der Universität
Wageningen in den Niederlanden. „Die Printkultur kann zwar nicht als unmittelbares
Spiegelbild der Kultur interpretiert werden, doch Häufigkeitsveränderungen bei großen
Wortmengen geben bis zu einem gewissen Grad Aufschluss darüber, wie die Menschen
die Welt sehen und woran sie zu der Zeit Interesse hatten.“
Als Datengrundlage nutzten die Forscher das Programm Google Ngram, das auf der Basis
von Google Books ermöglicht, Millionen von Büchern computergestützt zu analysieren.
Die Analysen zeigten: Zwischen 1850 und 1980 nahmen in den analysierten englischen
und spanischen Publikationen Wörter zu, die mit logischem Denken in Verbindung
gebracht werden, etwa „feststellen“, „Schlussfolgerung“, und „Analyse“. Wörter dagegen,
die mit menschlicher Erfahrung in Zusammenhang stehen, etwa „fühlen“, „glauben“ und
„Hoffnung“, gingen in dieser Zeit zurück. Ab 1980 jedoch kehrte sich dieser Trend um –
mit einem steilen Anstieg emotionsgeladener Begriffe und einem Rückgang solcher, die
den Fokus auf Rationalität legen.
Entwicklung rational geprägter Ausdrücke gegenüber intuitiv geprägten. (Bild: Marten Scheffer, Ingrid van de
Leemput, Johan Bollen)
Trends in Fachliteratur, Belletristik und Presse
Um auszuschließen, dass diese Veränderung lediglich darauf zurückgeht, dass es sich bei
den älteren in Google Books aufgenommenen Publikationen vorwiegend um Fachliteratur
handelte, während in neueren Zeiten mehr fiktionale Werke hinzugekommen sind, die
naturgemäß emotionsbetonter sind, analysierten die Forscher zum einen fiktionale und
nicht-fiktionale Literatur noch einmal getrennt – mit dem gleichen Ergebnis. Zum anderen
führten sie die gleiche Untersuchung mit Artikeln der „New York Times“ seit 1850 durch.
Auch hier zeigte sich das gleiche Muster. Zudem beobachteten die Forscher, dass in der
neuen Literatur häufiger „ich“ statt „wir“ verwendet wird – eine Verschiebung von einem
kollektivistischen zu einem individualistischen Schwerpunkt.
„Die Deutung dieses synchronen Wandels in der Buchsprache bleibt eine
Herausforderung“, schreiben die Autoren. „Eine Möglichkeit, was die Trends von 1850 bis
1980 betrifft, ist, dass die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und ihre
sozioökonomischen Vorteile zu einer Aufwertung des wissenschaftlichen Ansatzes
führten, der allmählich die Kultur, die Gesellschaft und ihre Institutionen von der Bildung
bis zur Politik durchdrang.“ In den 1980er Jahren allerdings führte eine neoliberale Politik
zu gesellschaftlichen Spannungen. Diese Politik berief sich auf rationale Argumente, doch
ihre Vorteile waren nicht gleichmäßig verteilt. Dies könnte aus Sicht der Autoren dazu
beigetragen haben, dass der gefühlte Wert von Rationalität in der öffentlichen
Wahrnehmung abnahm – was sich wiederum in Literatur und Presse niederschlug.
Langfristiger Wandel
Dass in den 1980er Jahren auch das Internet aufkam, halten die Autoren in diesem
Kontext für untergeordnet. Die Verbreitung sozialer Medien ab Mitte der 2000er Jahre
hingegen sehen sie als sehr wahrscheinlichen Einflussfaktor. So zeigt sich, dass sich die
Verschiebung von Rationalität zu Gefühlen in der Buchsprache seit etwa 2007 deutlich
beschleunigte. „Auch die globale Finanzkrise könnte dabei einen Einfluss gehabt haben“,
so die Autoren. „Wichtig ist, dass die festgestellte Trendumkehr Jahrzehnte vor dem
Aufkommen der sozialen Medien ihren Ursprung hat, was darauf hindeutet, dass die
sozialen Medien zwar ein Verstärker gewesen sein mögen, aber andere Faktoren der
Auslöser gewesen sein müssen.“
Die Forscher verstehen die Betonung von Ansichten statt Fakten als Teil eines tieferen,
langfristigen Wandels: „Was auch immer die Ursachen sein mögen – unsere Ergebnisse
legen nahe, dass das Phänomen der Postwahrheit mit einer historischen Verschiebung
des Gleichgewichts zwischen unseren beiden grundlegenden Denkweisen
zusammenhängt: Denken und Intuition.“ In diesem Fall könnte es den Autoren zufolge
schwierig sein, diesen Wandel umzukehren. „Stattdessen müssen die Gesellschaften
möglicherweise ein neues Gleichgewicht finden, indem sie die Bedeutung von Intuition
und Emotionen ausdrücklich anerkennen und gleichzeitig die dringend benötigte Kraft
von Rationalität und Wissenschaft nutzen, um Themen in ihrer ganzen Komplexität zu
behandeln“, empfehlen sie.
Quelle: Marten Scheffer (Universität Wageningen, Niederlande) et al., Proceedings of the National Academy of
Sciences, doi: 10.1073/pnas.2107848118
© wissenschaft.de - Elena Bernard