Siegfried
Trapp
Willkommen
Bienvenido
Welcome
der Stunde muß soviel wie möglich herausgeholt werden., Man lebt und konsu-
miert im Hier und Jetzt: Lebe dein Leben, genieße es — so lange du kannst:
Hauptsache, die Langeweile ist ganz weit weg. Im freizeitmobilen Kalifornien-
Syndrom spiegelt sich die Ungebundenheit der Amerikaner der Pioniertage'
wider. Aus dem Pioniergeist früherer Zeiten ist heute beinahe ein Erlebniswahn
(.,Angst, etwas zu verpassen") geworden, so wie es der amerikanische
Präsident Bill Clinton anläßlich seines Besuches in Deutschland im Juli 1994
den Berlinern auf deutsch zurief: „Nichts kann uns aufhalten. Alles ist möglich."
Konsum statt Kinder. Kinderlos in die totale Konsumwelt: Ein Klischee kann
Wirklichkeit werden. Trotz allgemein sinkender Realeinkommen begeben sich
immer mehr Singles und kinderlose Paare auf den Konsumtrip und genießen ihr
freies Leben. Zwischen Konsumstreß und Kaufrausch hin- und hergerissen
schrecken sie dabei auch vor Schulden nicht zurück. Jeder zweite Single hat
mittlerweile das Gefühl, zu viel Geld auszugeben. Im Vergleich zu den Familien
mit Kindern leben auch die kinderlosen Paare deutlich mehr über ihre
Verhältnisse.
Ein Drittel aller Singles und Kinderlosen haben bereits unter den Folgen ihres
Konsumstresses zu leiden, d. h. sie kaufen mitunter Konsumartikel (z. B. für
Hobby und Sport) — und haben „danach kaum Zeit, davon Gebrauch zu
machen". Sie werden fast ein Opfer ihrer eigenen Ansprüche und wissen kaum, wie
sie sich aus diesem Dilemma zwischen Konsum und Zeit befreien können. Die Zeit
läuft ihnen beim Konsumieren fast davon. Jeder sechste Single gibt inzwischen
unumwunden zu: „Manchmal kaufe ich wie im Rausch." Die Kaufsüchtigen stehen
unter einem unentrinnbaren inneren Zwang und geben erst dann Ruhe,
„wenn sie eine ganz bestimmte Sache gefunden haben". Unter den Kaufsüchtigen
befinden sich deutlich mehr Frauen als Männer. Frauen geben auch eher zu, daß
sie manchmal beim Einkaufen kaum zu bremsen sind. Sie wollen und müssen
„immer mehr haben".
Die wachsende Freizeit- und Konsumorientierung des Lebens verstärkt den
Trend zur Single-Gesellschaft. Der Anteil der 25- bis 49jährigen Singles hat sich
in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehr als verdoppelt, die Besucher und
Umsätze in den Kneipen, Discos, Fitness- und Shoppingcentern auch. Wer sich
für „Konsum statt Kinder" entscheidet, kann sich mehr im Leben leisten, läuft
aber auch Gefahr, über die eigenen Verhältnisse zu leben, um immer "in" und
„gut drauf" zu sein und mit den Freunden und der Freizeitclique "mithalten"
zu können. So kann die Konsumlust zum Konsumzwang werden.
Aus kultursoziologischen Forschungen geht hervor, daß es Menschen im Mittel-
bereich zwischen Not und Überfluß subjektiv am besten geht. Diesen Menschen
fehlt noch etwas, wofür sich Arbeit und Anstrengung lohnen. Ihr Leben hat
schließlich eine Richtung: nach oben. Und die Erfahrung lehrt: Menschen, die
nach oben wollen, haben eher Mittelkrisen — Menschen, die oben sind, dagegen
Sinnkrisen. Die einen sind noch unterwegs, die anderen sind schon angekommen
(vgl. Schulze 1992). Bedroht ist nicht mehr das Leben, sondern sein Sinn.
Welche Wege müssen wir gehen, um aus dieser Krise der Wohlstandsgesellschaft
herauszufinden?
Wir müssen erstens unsere materialisierte Lebenshaltung überdenken.
Sich „ein wenig" bescheidener geben reicht allein nicht aus. Die Konsum-
gesellschaft muß endlich ihren Anspruch auf Lebensqualität einlösen, wenn sie
eine Zukunft haben will. Das heißt: Wir müssen uns fragen:
- Tragen Konsumangebote wirklich zu unserem persönlichen Wohlbefinden bei
oder lassen sie uns aus dem inneren Gleichgewicht geraten?
- Fördern Konsumangebote das Zusammensein in Partnerschaft. Familie und
Freundeskreis oder wirken sie eher gemeinschaftsschwächend?
- Lassen sich Konsumangebote mit unseren persönlichen Bedürfnissen und
Interessen verbinden oder verhindern sie gar eine persönliche Weiterent-
wicklung?
Zweitens müssen wir endlich Ernst machen mit der Forderung, in der
Schule für das „ganze Leben" zu lernen. Aus der Lernschule muß wieder eine
Lebensschule werden. Lernfragen sind wichtig, Lebensfragen aber genauso. Viele
Schüler haben nach Verlassen der Schule den Kopf voll mit Formeln und Vokabeln,
stolpern aber ansonsten ziemlich orientierungslos durch das wirkliche Leben.
Die Schule muß sich neben der Wissensvermittlung mehr Zeit für den Erzieh-
ungsauftrag nehmen — sonst droht sie lebensfremd und nebensächlich zu
werden, also an der Hauptsache der jugendlichen Interessen, nämlich Fernsehen,
Video und Computer, Sport, Hobby und Konsum, Clique und Freundeskreis
vorbeizuleben Die Gefahr besteht, daß die Schüler vormittags gelangweilt die
Schulbank drücken und erst nachmittags ihre eigentlichen Erfahrungen machen
und für das Leben lernen.
Noch nie hat es eine Generation gegeben. die mit so einer hohen Lebens-
erwartung aufgewachsen ist. Das Lernziel Leben muß neu definiert werden.
Neben allgemeinen Kulturtechniken und beruflichem Basiswissen wird die
Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und Gemeinschaftsfähigkeit immer
wichtiger. Die Lehrer sind als Persönlichkeitstrainer genauso gefordert wie als
Wissensvermittler.
Die dritte Forderung lautet: Wir brauchen neue sozial-und
familienfreundliche Leitbilder. Viele Konsumangebote fördern das
Auseinanderdriften der Familienmitglieder. „Tu was für dich selbst", „Erlebe
dein Leben" und „Verwirkliche deine Träume" — egal, ob Partnerschaft oder
Familie darunter leiden: Das Konsum-Credo wird zur Konsumpflicht. Der
subjektive Eindruck entsteht: Die Familie raubt und soziale Verpflichtungen
verhindern den individuellen Konsumgenuß. Sie kosten Zeit, Nerven — und vor
allem Geld. Immer mehr junge Leute im Alter bis zu 34 Jahren finden mittler-
weile Freunde, Sport, Hobbies und Urlaubsreisen wichtiger als Heiraten und
eine Familie gründen. Auf dem Weg in das Jahr 2000 geht es nicht um ein
„Zurück zur alten Familie", sondern um eine Aufhebung ideeller, vor allem aber
auch materieller Benachteiligungen von Familien gegenüber Singles und
Kinderlosen.
Die vierte Forderung lautet: Das freiwillige Ehrenamt gesellschaftlich
aufwerten. Wir sollten in Zukunft eine neue Profession mit Ernstcharakter
schaffen, eine Art Zweitkarriere jenseits des Gelderwerbs — ein soziales,
kulturelles und ökologisches Voluntariat, das auf dem Prinzip der Freiwilligkeit
basiert. Millionen von Voluntären (engl. „volunteers", frz. „voluntaires") — ob als
Schüler, Teilzeitarbeiter oder Frührentner — könnten freiwillig in Sozial-, Kultur-
und Umweltdiensten tätig sein, wenn sie dafür die entsprechende gesellschaftliche
Anerkennung bekämen. Damit
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