Siegfried
Trapp
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Bienvenido
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heitlich ins Lager des Erlebniskonsums wechselt. Die neue Erlebnisgeneration geht
mit Schulden ganz anders um als ihre Vorfahren. Dies bedeutet: Das Kreditkarten-
Zücken, das amerikanische, australische und englische Verbraucher heute schon so
perfekt beherrschen, kann in Zukunft sichtbarer Ausdruck einer neuen Form der
Konsumabhängigkeit werden: Kreditsucht, über die Verhältnisse leben und sich
verschulden. In Australien schon heute als „Credit Junkies" bekannt, wird die Kauflust
dieser Verbrauchergruppe meist größer als ihre Kaufkraft sein. Die Klagen über zu
hohe Geldausgaben nehmen zu - vor allem bei der jüngeren Generation. Immer
mehr leben über ihre Verhältnisse („Stil ist, nicht viel Geld zu haben, aber es
auszugeben"). Sie stürzen sich in den Kaufrausch, spielen die Rolle von
Spendaholikern, indem sie sich etwas Gutes gönnen oder leisten - und schrecken
auch vor Schulden und Krediten nicht zurück. Ihr Konsum-Credo lautet: „Ich
möchte endlich so viel Geld verdienen, wie ich ausgebe."
Sie leisten sich oft mehr, als sie sich eigentlich leisten können. Und weil sie den
Lebensstandard ihrer Eltern kaum mehr erreichen können, drohen sie zu
sozialen Absteigern zu werden, die sich mit Gelegenheitsjobs („McJobs") über
Wasser halten. Die Kindheit im Wohlstand verbracht, entwickeln sie sich zur
„Generation X", wie sie der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland in seinem
Roman beschreibt (Coupland 1992). Sie leben in einer Seifenblase, wollen „alles" —
und zwar jetzt. Sie zeigen sich in den Wünschen immer anspruchsvoller und im
Verhalten immer weniger berechenbar.
Die neue Erlebnisgeneration scheint „born to shop", zum Kaufen geboren zu sein.
Kommen amerikanische Verhältnisse auf uns zu? Jeder zweite Amerikaner kehrt vom
Shopping mit Sachen zurück, an die er vorher noch nicht gedacht hat. Shopping kann
in Zukunft immer zweierlei bedeuten: Lebenslust und Langeweilever-
hinderung. Einkaufszentren, Malls und Passagen werden nicht nur Walhallas des
Erlebniskonsums sein, sondern auch Fluchtburgen für Menschen, die der Langeweile
und Vereinsamung entfliehen wollen. Sie konsumieren „aus Frust heraus", als Ersatz
für ein gutes Lebensgefühl. Die Lust auf Konsumieren entspringt dann der Unlust an
der eigenen inneren Leere. Natürlich ist der gelegentliche Genuß nicht umsonst zu
haben. Er bedeutet Verzicht auf Mittelmaß: Sich Qualität und Luxus leisten zu
können, aber dafür auch in anderen Bereichen Billigwaren und Opferkäufe in Kauf
nehmen zu müssen. Mal Cartier und Champagner, mal Aldi und McDonalds. Billig
und teuer schließen sich nicht mehr gegenseitig aus. Im Zuge des Wertewandels
verändert sich das Konsum-Credo der 70er und 80er Jahre: Aus dem "Undund-
und"-Verbraucher (Stereo und Farbfernseher und Zweitwagen und 3-Wochen-
Reise) wird ein „Hier-mehr-, dort-weniger"-Verbraucher. Heute CD-Player, dafür
morgen die Jeans ein paar Monate länger tragen; im Frühjahr ein neuer Wagen,
dafür im Sommer weniger lang in die Ferien fahren; am Wochenende beim Ausgehen
und Shopping nicht auf den Pfennig achten, dafür eine Woche lang einfache Kost zu
Hause. Der Verbraucher wird zur gespaltenen Persönlichkeit, der das Einsparen
ebenso beherrscht wie das Verschwenden.
Dies erklärt auch die mitunter widersprüchlich erscheinenden Prognosen, wonach es
einen Trend zur neuen Bescheidenheit und gleichzeitig einen Trend zur neuen
Üppigkeit geben solle. Die Erklärung: Das Mittelmaß ist „out" und extrem-teuer
und super-billig „in". Mal Luxus, mal Askese - der neue Trend heißt eher
„Luxese"! Vielleicht kommen ja bald italienische Verhältnisse auf uns zu: In Neapel
soll es Fußballfans geben, die lieber eine kleinere Wohnung nehmen, um für das
Ersparte ins Fußballstadion rennen zu können.
Der Verbraucher von morgen stellt zugleich die protestantisch-puritanische
Konsummoral auf den Kopf: Die “Verzicht-kommt-vor-Genuß"-Moral entwickelt
er zur „Erst-Genuß-dann-Verzicht"-Einstellung. Aus dem End-Verbraucher wird
ein „Vorab-Forderer" (G. Gerken). Schecks und Kreditkarten machen es möglich:
„Genieße das Leben jetzt — zahle später." Eine Mischung aus Gefühl und Genuß,
Lebenslust und Lebensstil läßt die Menschen zeitweilig in einem Schloß romantischer
Träume schwelgen — wohl wissend, daß jedes Schwelgen auch wieder in einem Darben
endet. Aber man hat dann wenigstens etwas erlebt und gelebt: „Ich habe dann nicht
das Gefühl, daß das Geld futsch ist. Ich bin vielmehr froh, daß ich das erleben durfte"
oder frei nach dem Wort von Oscar Wilde: „Ich brauche nur Luxus, auf das
Notwendige kann ich verzichten."
Der englische Konsumforscher John Campbell sieht die psychologischen Wurzeln
dieser neuen Konsumethik in der Zeit der Romantik. In der Romantik begann der
Genuß. Der Verbraucher von morgen wird in seinem Verhalten zunehmend durch eine
romantische Konsumethik geprägt, in der der Genuß eine tragende Säule ist.
Insofern zeichnet sich für die Zukunft eine Verbraucherrevolution ab, in der neben
Nützlichkeit und Notwendigkeit auch Vergnügen und Genuß einen eigenen,
gleichwertigen Stellenwert bekommen. Dies erklärt beispielsweise, warum heute
mindestens genausoviel Autos zum eigenen Vergnügen und nicht nur aus Not-
wendigkeit gekauft werden. Die protestantische und die romantische Konsum-
ethik gehen eine Vernunftehe ein. Und der Verbraucher von morgen lebt in der
Spannung zwischen Lebensnotwendigkeit und Illusionierung des Lebens. Diese
Spannung zwischen zwei kulturellen Traditionen gleicht einem Tanz auf dem heißen
Vulkan. Im täglichen Leben muß jeder Verbraucher seine ganz persönliche
Abstimmung treffen. Der Verbraucher von morgen wohnt und lebt in zwei
Gebäuden: Im eisernen Käfig der wirtschaftlichen Notwendigkeit und im
luxuriösen Schloß romantischer Träume und Genüsse.
Wie unsere neue Untersuchung über die Massenmobilität auf den Straßen ergibt,
ist die Zeit heute subjektiv so wertvoll geworden, daß sie einfach „genutzt" werden muß
— um möglichst viel zu erleben und möglichst wenig zu verpassen. Weder der Drang
ins Grüne oder Freie noch der Wunsch nach Orts- oder Tapetenwechsel
motiviert die Menschen am meisten zu massenhafter Mobilität. Was nach Meinung
der Bevölkerung das Mobilitätsbedürfnis nach Feierabend, am Wochenende und
im Urlaub am ehesten erklärt, ist die „Angst, etwas zu verpassen". Gut ein
Viertel der Bundesbürger haben die Befürchtung, am Leben vorbeizuleben, wenn sie
sich nicht regelmäßig in ihrer Freizeit in Bewegung setzen.
Die vorliegenden Befragungsergebnisse bestätigen Analysen des Amerikaners Vance
Packard aus den siebziger Jahren, der seinerzeit der Frage nachging, warum die
Menschen immer mobiler werden — im Grunde genommen nicht auf irgendein Ziel
hin, sondern immer von etwas weg. V. Packard nannte dieses-Phänomen das
„Kalifornien-Syndrom" (Packard 1973). Das Kalifornien-Syndrom basiert auf den
beiden Wohlstandssäulen Geld (hohes Einkommen) und Zeit (wachsende Freizeit):
Aus jedem Tag und je- weiterlesen