Siegfried
Trapp
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Zwangsversicherung abgedeckt: Armut und Arbeitslosigkeit, Krankheit und
Altenpflege. Mit der Rundum-Versicherung wächst die Lust am Risiko nach
Feierabend. Roman Herzog forderte kürzlich „eine neue Wagniskultur" (Okt.
1995) und Helmut Kohl ermunterte die Deutschen zu mehr „Risikobereitschaft"
(Okt. 1995). Die Deutschen werden mittlerweile immer wagemutiger und
risikobereiter - aber fast ausnahmslos in der Freizeit. Die Arbeitswelt ist offen-
sichtlich kein Erfahrungsfeld für Wagnis und Risiko mehr. Freizeit, Hobby, Sport
und Urlaubsreisen stellen die letzten Abenteuer dar.
Die Menschen bekommen zugleich ein anderes Verhältnis zur Zeit. Das
Zeitbudget wird genauso kostbar wie das Geldbudget. Zeit ist Leben und nicht
mehr nur Geld. Genauso wichtig wie das Gelddenken wird das Zeitdenken. Doch:
Auch Konsum konsumiert Zeit. Und weil wir in Zukunft immer höhere Konsum-
ansprüche stellen, nimmt unser Gefühl von Zeitknappheit zu. Was haben wir schon
von einem Einkaufsbummel, wenn wir ihn nicht in Ruhe genießen können?
Im gleichen Maße, wie die Produktivität der Arbeitszeit steigt, versuchen wir auch
die Konsumzeit zu steigern und immer mehr in gleicher Zeit zu erleben.
Konsumwünsche werden miteinander kombiniert — der Einkaufsbummel mit dem
Treffen von Freunden, das Essengehen mit dem Knüpfen geschäftlicher Verbind-
ungen oder die Urlaubsreise mit dem Erlernen neuer Sportarten. Auf diese Weise
nimmt die Konsum-Produktivität zu, aber die freie Verfügbarkeit von Zeit ab.
„Mehr tun in gleicher Zeit: Mit dieser Formel läßt sich ein Wandel in den letzten
Jahren beschreiben, der allen Freizeitbeschäftigungen den Stempel der Hektik
aufdrückt. Immer mehr Freizeitbeschäftigungen werden im Fast-food-Stil bzw.
zeitgleich erledigt. Die Schnellebigkeit nimmt überall zu. Für zeitaufwendige
Beschäftigungen bleibt uns immer weniger Zeit (oder richtiger: nehmen wir uns
weniger Zeit).
Aus einer Zeitbudget-Studie im 10-Jahres-Vergleich geht hervor: Ob Beschäftigung
allein, mit dem Partner oder mit den Kindern — alles, was über zwei Stunden
dauert, stagniert oder geht zurück. Wir sind heute für viele Tätigkeiten aufge-
schlossen - solange sie nicht über zwei Stunden dauern. Das bekommt auch der
Partner zu spüren: Die gemütlichen 3-Stunden-Abende zu Hause mit dem Partner
werden seltener. Wir leben im 2-Stunden-Takt. Spätestens alle zwei Stunden wollen
wir etwas Neues erleben. Ohne uns lange niederzulassen, springen wir von einem
Ereignis zum anderen.
Die Westdeutschen haben sich ihren Wohlstand bisher auf Kosten von Muße
"erkauft": Viele können es sich zeitlich nicht mehr leisten, ihr Leben in Ruhe zu
genießen. Der Vergleich zwischen ost- und westdeutschen Freizeitstilen zeigt:
Konsumwohlstand und Zeitwohlstand zugleich sind nicht zu haben:
— Wer viel konsumiert, leidet schnell unter Zeitnot.
— Wer viel Zeit hat, hat meist auch wenig Geld.
Die ostdeutsche Bevölkerung konnte sich beispielsweise im Herbst 1990 - kurz vor
der deutschen Vereinigung - noch den Zeitluxus erlauben, öfter Briefe zu schreiben
oder Bücher zu lesen, in Ruhe eine Tasse Kaffee oder Tee zu trinken, sich in Ruhe
zu pflegen, gemeinsam über wichtige Dinge zu reden oder ihren Gedanken
nachzugehen. Die westdeutsche Bevölkerung hingegen erledigte vieles über
Telefon, ging öfter ins Restaurant, ins Kino oder in die Kneipe und trieb viel
Sport. Manche Konsumangebote mußten Westdeutsche fast im Laufschritt
wahrnehmen, weil ihnen die Zeit beim Konsumieren davonläuft .. .
Jetzt, fünf Jahre später, haben wir die Befragung wiederholt. Das Ergebnis: Mit der
Sogkraft des westdeutschen Konsumangebots geht die ostdeutsche Beschaulich-
keit langsam verloren. Die westliche Hektik setzt sich durch. Im Vergleich zu 1990
verzichten mittlerweile immer mehr Ostdeutsche auf das Zusammensein mit der
Familie. Auch zum Briefeschreiben und Bücherlesen bleibt jetzt weniger Zeit. Und
immer weniger Ostdeutsche nehmen sich jetzt - anders als 1990 - noch die Zeit,
ihren Gedanken nachzugehen oder sich in Ruhe zu pflegen. Zunehmend entdecken sie
die Möglichkeiten des Freizeitkonsums. Der westliche Konsumstil setzt sich durch -
vom Freizeitpark- bis zum Kinobesuch, vom Essengehen bis zum Baden-gehen im
nächsten Freizeitbad. Die Bürger in den neuen Bundesländern verlieren
weitgehend ihr Eigenprofil, ihren Zeitwohlstand. Für „eine" Sache bleibt immer
weniger Zeit.
Die neue Medienwelt
Die Medienrevolution steht angeblich vor der Tür. Doch die Computer-
freaks, die massenhaft einsam in ihren elektronischen Höhlen sitzen sollen, gibt es
eigentlich nur in der Phantasie der Industrie. In Wirklichkeit können die meisten
Bundesbürger noch nicht einmal einen Videorekorder programmieren. Und auch
die Hoffnung auf die neue Generation der „Multi-Media-Kids" wird sich so
schnell nicht erfüllen:
Der Siegeszug der Computer durch die Büros ist noch nicht in Deutschlands
Kinderzimmern angekommen. Die Jugend zieht nach wie vor Bücher den
Computern vor. Nur knapp jeder fünfte Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren
hat sich in der vergangenen Woche in seiner Freizeit mit dem Computer beschäftigt,
doppelt so viele aber fanden am Buchlesen Gefallen. Und für Videospiele kann sich
gar nur jeder achte Jugendliche begeistern, während der Anteil der Jugendlichen, die
regelmäßig Zeitung oder Zeitschriften lesen, viermal so hoch ist.
Seit mehr als dreißig Jahren favorisieren die Deutschen beim Medienkonsum
Fernsehen, Zeitunglesen und Radiohören. Daran hat sich bis heute nichts
geändert: Fernsehen, Zeitunglesen und Radiohören stellen nach wie vor die am
meisten genannten Freizeitbeschäftigungen dar. Die Technologien in der
Medienbranche ändern sich schneller als die Gewohnheiten der Konsu-
menten. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hält an ihren alten
Konsumgewohnheiten fest. Für Neuheiten auf dem Medienmarkt fehlt den
meisten das technische Verständnis, die finanziellen Mittel und auch die nötige
Zeit. Neuere Sozialforschungen (vgl. Lüdtke 1994) weisen nach, daß die intensive
Multi-Media-Nutzung in der privaten Freizeitgestaltung keine Zeitspareffekte hat,
vielmehr entgegengesetzt im Sinne einer „Zeitfalle" wirkt. Die Interaktion mit
Multi-Media vereinnahmt" die Zeitressourcen der Konsumenten. Die Folgen sind
Freizeitstreß und chronische Zeitnot.
Technologisch ist alles möglich. Doch psychologisch stößt die Medien-
revolution an ihre Grenzen. Immer mehr TV-Programme, Videofilme und
Computerspiele sowie eine wachsende Vielfalt von Möglichkeiten zu Tele-
Shopping und Telekommunikation machen auf die Konsumenten den Eindruck
der Lawinenhaftigkeit: „Man fühlt sich förmlich überrollt", sagt fast die Hälfte der
Bevölkerung in
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