Siegfried Trapp
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dreißig Jahren zu berichten, daß bei plötzlicher Arbeitszeitverkürzung selbst Gewerk- schaftsfunktionäre einen zweiten Beruf als Taxifahrer, Barkeeper oder Grund- stücksmakler in den USA ausübten. Sie taten dies nicht etwa aus Geldgier heraus. Vielmehr hatten sie das Gefühl, sie wären auf einmal von voller Arbeitszeit auf Kurzarbeit gesetzt (Riesman 1964/1973). Die Arbeitszeitverkürzung hatte für viele ein Vakuum geschaffen, das durch zusätzliche Arbeiten wieder ausgeglichen werden sollte. Bei vielen stellt sich ein fast innerer Zwang zum Jobben und Geldverdienen ein, um den gewohnten Lebensstil beibehalten zu können. Damit können sie auch psychischen Problemen aus dem Wege gehen. Insbesondere Alleinstehende sind bei Kurzarbeit vor allem an Wochen-enden von Depressionen bedroht (vgl. Opaschowski 1972, S. 505). Das Fernsehen muß dann eine „Ausfüllfunktion" übernehmen. Die berufliche Arbeit am Wochenende wird sich schrittweise  und öffentlich kaum bemerkt  zur neuen Norm entwickeln. Und mit der zunehmenden Doppel-erwerbstätigkeit von Mann und Frau steigt auch die Wahrscheinlichkeit, daß bei einem berufstätigen Paar zumindest einer der Partner am Wochenende tätig ist, auf "fast 90 Prozent" (vgl. Vaskovics/Gross 1994, s. 10). Da sich bisher die familiären Freizeitaktivitäten auf das Wochenende konzentrierten und der Sonntag als gemeinsamer Ausflugs- und Besuchstag galt, kommt es bei zunehmender Wochenendarbeit zwangsläufig zu Einschränkungen in den familiären und sozialen Kontakten. Dies bedeutet: Zunehmende Arbeitszeitflexibilisierung führt nicht  wie mitunter angenommen — zu mehr Zeitsouveränität des Arbeitnehmers. Während die betriebliche Bilanz auf Zeit- und Produktivitätsgewinne verweisen kann, geht die individuelle Bilanz mit Verlust an wertvoller Lebens- und Sozialzeit einher. Unter der wachsenden Desynchronisation der Zeit werden die Familie und die Kinder am meisten zu leiden haben. Das kann die Gesellschaft nicht gleichgültig lassen: Eine neue Zeitpolitik ist gefordert. weil die bisherige Arbeitszeitpolitik dieser Entwicklung hinterherhinkt und sich heute noch im wesentlichen an der Gewerbe- ordnung von 1891 orientiert. Die neue Zeitpolitik müßte wieder für eine Synchronisierung der Lebensbereiche Sorge tragen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß ein immer größerer Teil der Berufstätigen nicht mehr in der Normalarbeitszeit arbeitet, auf die bisher die meisten Angebote der Kinderbetreuungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen zugeschnitten sind. Konkret: Ein Kindergarten muß vielleicht in Zukunft schon um 6.00 Uhr geöffnet sein, eine Theatervorstellung auch um 16.00 Uhr beginnen und eine Jugendfreizeitstätte nach 22.00 Uhr noch zugänglich sein. Die junge Generation befindet sich derzeit auf dem Wege zu einer neuen Lebensbalance. Leistung und Lebensgenuß sind für sie keine Gegensätze mehr. Lust auf Leistung und Lust durch Leistung werden und bleiben attraktiv, wenn dabei die Lebensfreude und der Lebensgenuß nicht zu kurz kommen. Ganz anders, als es in den 70er und 80er Jahren befürchtet und diagnostiziert worden war (z. B. Noelle-Neumann 1981: „Nachlassende Freude an der Berufsarbeit" - 1983: „Entfernung vom Leistungsdenken") hat sich die Einstellung der jungen Generation zu Arbeit und Leistung entwickelt. Die befürchtete Leistungsverweigerung fand und findet nicht statt. Im Zeitvergleich der Jahre 1986 und 1992 ist bei spielsweise erkennbar, daß Leistung und Lebensgenuß immer gleichgewichtiger beurteilt werden. Ein Hang zu Hedonismus und Leistungsdistanz läßt sich hieraus nicht ableiten. Die moderate Beantwort- ung läßt eher darauf schließen, daß Leistung und Lebensgenuß ihren Alternativ- oder gar Konfrontationscharakter verloren haben. Offensichtlich gehören Leistung und Lebensgenuß einfach zum Leben dazu. Kein Lebensgenuß ohne Leistung. Umgekehrt gilt auch: Lebensgenuß lenkt nicht mehr automatisch von Leistung ab. Und wer sein Leben nicht genießen kann, wird auf Dauer auch nicht leistungsfähig sein. In die Zukunft projiziert ergibt sich das Bild eines „Arbeitsmenschen 2000", der vom Wertewandel der letzten Jahrzehnte gezeichnet ist: - Die Verlierer in der Rangskala der Arbeitstugenden werden Fleiß, Pflichterfüllung    und Leistungsstreben sein. Sie bleiben nach wie vor wichtig, bekommen aber eine    andere Bedeutung. - Ehrgeiz wird zunehmend wichtiger, weil der Verdrängungswettbewerb im   Arbeitsmarkt immer härter wird. - Selbstständigkeit heißt die wichtigste Arbeitstugend im Jahr 2000. Der un-   selbstständig Beschäftigte kann nicht mehr Leitbild sein. Der „neue Selbst-   ständige" ist gefragt, bei dem Persönlichkeitsentwicklung genauso wichtig wie   berufliche Fortbildung ist. In den achtziger Jahren stellte das B.A.T Institut erstmals in einer eigenen Zukunftsstudie die Frage: „Wie leben wir nach dem Jahr 2000?" Zur Bewältigung der anstehenden Zukunftsaufgaben wurde seinerzeit ein neuer Typus gefordert und prognostiziert: Der Typ des neuen Selbstständigen, der allerdings nicht einfach da ist, sondern „frühzeitig inspiriert und systematisch gefördert" werden muß (B.A.T-Studie 1988, S. 28). Auf dem Weg in das Jahr 2000 scheint der Zeitpunkt erreicht zu sein. Schließlich forderte auch Helmut Kohl unlängst eine „neue Kultur der Selbstständigkeit" (16. Oktober 1995). Arbeitnehmer, die Ideen und Mut haben, sollten selbst Unternehmer werden. Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr aus, wenn nur acht Prozent der Berufstätigen selbständig sind. Arbeit-nehmer müssen daher mehr als bisher etwas unternehmen, d. h. als Existenzgründer ihre neuen Arbeitsplätze selber schaffen. Vielleicht brauchen wir auch in Deutschland - wie an über 150 amerikanischen Universitäten - ein neues Lehrfach „Unternehmerschaft"/„Entrepreneurship", das lehrt, wie man Unternehmer und Existenzgründer wird. Die Erfahrung lehrt: Jeder Existenzgründer schafft.im Durchschnitt vier bis fünf weitere Arbeitsplätze. Nur so hat die bezahlte Arbeit in den westlichen Wohlstandsländern noch eine Überlebenschance. Und die Führungskraft der Zukunft wird sich vom Kontrolleur zum Animateur wandeln müssen, der die Mitarbeiter durch seine eigene Person motivieren und begeistern kann und für Betriebsklima und gute Stimmungslage im Unternehmen verantwortlich ist. Eine seiner wesentlichen Aufgaben wird es sein, die Arbeitsfreude der Mitarbeiter zu fördern oder zumindest ihnen den Spaß an der Arbeit nicht zu verderben. Unternehmer müssen umdenken. Die jungen „Karrieristen" von heute entdecken die Lust am ganzen Leben. Sie leben nicht mehr vom Job und für die Karriere allein. Für zwei Drittel der jungen -Berufstätigen im Alter bis zu 34 Jahren heißt berufliche Karriere in erster Linie, „eine Arbeit haben, die Spaß macht". Hingegen interessieren “Führungspositionen", „hohes Ansehen", „lange Arbeits-        weiterlesen
© strapp 2016
dreißig Jahren zu berichten, daß bei plötzlicher Arbeitszeitverkürzung selbst Gewerkschaftsfunktionäre einen zweiten Beruf als Taxifahrer, Barkeeper oder Grund-stücksmakler in den USA ausübten. Sie taten dies nicht etwa aus Geldgier heraus. Vielmehr hatten sie das Gefühl, sie wären auf einmal von voller Arbeitszeit auf Kurzarbeit gesetzt (Riesman 1964/1973). Die Arbeitszeitverkürzung hatte für viele ein Vakuum geschaffen, das durch zusätzliche Arbeiten wieder ausgeglichen werden sollte. Bei vielen stellt sich ein fast innerer Zwang zum Jobben und Geldverdienen ein, um den gewohnten Lebensstil beibehalten zu können. Damit können sie auch psychischen Problemen aus dem Wege gehen. Insbesondere Alleinstehende sind bei Kurzarbeit vor allem an Wochen-enden von Depressionen bedroht (vgl. Opaschowski 1972, S. 505). Das Fernsehen muß dann eine „Ausfüllfunktion" übernehmen. Die berufliche Arbeit am Wochenende wird sich schrittweise   und öffentlich kaum bemerkt  zur neuen Norm entwickeln. Und mit der zunehmenden Doppelerwerb- stätigkeit von Mann und Frau steigt auch die Wahrscheinlichkeit, daß bei einem berufstätigen Paar zumindest einer der Partner am Wochenende tätig ist, auf "fast 90 Prozent" (vgl. Vaskovics/Gross 1994, s. 10). Da sich bisher die familiären Freizeitaktivitäten auf das Wochenende konzentrierten und der Sonntag als gemeinsamer Ausflugs- und Besuchstag galt, kommt es bei zunehmender Wochenendarbeit zwangsläufig zu Einschränkungen in den familiären und sozialen Kontakten. Dies bedeutet: Zunehmende Arbeitszeitflexibilisierung führt nicht  wie mitunter angenommen — zu mehr Zeitsouveränität des Arbeitnehmers. Während die betriebliche Bilanz auf Zeit- und Produktivitätsgewinne verweisen kann, geht die individuelle Bilanz mit Verlust an wertvoller Lebens- und Sozialzeit einher. Unter der wachsenden Desynchronisation der Zeit werden die Familie und die Kinder am meisten zu leiden haben. Das kann die Gesellschaft nicht gleichgültig lassen: Eine neue Zeitpolitik ist gefordert. weil die bisherige Arbeitszeitpolitik dieser Entwicklung hinterherhinkt und sich heute noch im wesentlichen an der Gewerbe-ordnung von 1891 orientiert. Die neue Zeitpolitik müßte wieder für eine Synchronisierung der Lebensbereiche Sorge tragen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß ein immer größerer Teil der Berufstätigen nicht mehr in der Normalarbeitszeit arbeitet, auf die bisher die meisten Angebote der Kinderbetreuungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen zugeschnitten sind. Konkret: Ein Kindergarten muß vielleicht in Zukunft schon um 6.00 Uhr geöffnet sein, eine Theatervorstellung auch um 16.00 Uhr beginnen und eine Jugendfreizeitstätte nach 22.00 Uhr noch zugänglich sein. Die junge Generation befindet sich derzeit auf dem Wege zu einer neuen Lebensbalance. Leistung und Lebensgenuß sind für sie keine Gegensätze mehr. Lust auf Leistung und Lust durch Leistung werden und bleiben attraktiv, wenn dabei die Lebensfreude und der Lebensgenuß nicht zu kurz kommen. Ganz anders, als es in den 70er und 80er Jahren befürchtet und diagnostiziert worden war (z. B. Noelle- Neumann 1981: „Nachlassende Freude an der Berufsarbeit" - 1983: „Entfernung vom Leistungsdenken") hat sich die Einstellung der jungen Generation zu Arbeit und Leistung entwickelt. Die befürchtete Leistungsverweigerung fand und findet nicht statt. Im Zeitvergleich der Jahre 1986 und 1992 ist bei spielsweise erkennbar, daß Leistung und Lebensgenuß immer gleichgewichtiger beurteilt werden. Ein Hang zu Hedonismus und Leistungsdistanz läßt sich hieraus nicht ableiten. Die moderate Beantwort- ung läßt eher darauf schließen, daß Leistung und Lebensgenuß ihren Alternativ- oder gar Konfrontationscharakter verloren haben. Offensichtlich gehören Leistung und Lebensgenuß einfach zum Leben dazu. Kein Lebensgenuß ohne Leistung. Umgekehrt gilt auch: Lebensgenuß lenkt nicht mehr automatisch von Leistung ab. Und wer sein Leben nicht genießen kann, wird auf Dauer auch nicht leistungsfähig sein. In die Zukunft projiziert ergibt sich das Bild eines „Arbeitsmenschen 2000", der vom Wertewandel der letzten Jahrzehnte gezeichnet ist: - Die Verlierer in der Rangskala der Arbeitstugenden werden Fleiß, Pflichterfüllung    und Leistungsstreben sein. Sie bleiben nach wie vor wichtig, bekommen aber eine    andere Bedeutung. - Ehrgeiz wird zunehmend wichtiger, weil der Verdrängungswettbewerb im   Arbeitsmarkt immer härter wird. - Selbstständigkeit heißt die wichtigste Arbeitstugend im Jahr 2000. Der un-   selbstständig Beschäftigte kann nicht mehr Leitbild sein. Der „neue Selbst-   ständige" ist gefragt, bei dem Persönlichkeitsentwicklung genauso wichtig wie   berufliche Fortbildung ist. In den achtziger Jahren stellte das B.A.T Institut erstmals in einer eigenen Zukunftsstudie die Frage: „Wie leben wir nach dem Jahr 2000?" Zur Bewältigung der anstehenden Zukunftsaufgaben wurde seinerzeit ein neuer Typus gefordert und prognostiziert: Der Typ des neuen Selbstständigen, der allerdings nicht einfach da ist, sondern „frühzeitig inspiriert und systematisch gefördert" werden muß (B.A.T-Studie 1988, S. 28). Auf dem Weg in das Jahr 2000 scheint der Zeitpunkt erreicht zu sein. Schließlich forderte auch Helmut Kohl unlängst eine „neue Kultur der Selbstständigkeit" (16. Oktober 1995). Arbeitnehmer, die Ideen und Mut haben, sollten selbst Unternehmer werden. Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr aus, wenn nur acht Prozent der Berufstätigen selbständig sind. Arbeit- nehmer müssen daher mehr als bisher etwas unternehmen, d. h. als Existenzgründer ihre neuen Arbeitsplätze selber schaffen. Vielleicht brauchen wir auch in Deutschland - wie an über 150 amerikanischen Universitäten - ein neues Lehrfach „Unternehmerschaft"/„Entrepreneurs hip", das lehrt, wie man Unternehmer und Existenzgründer wird. Die Erfahrung lehrt: Jeder Existenzgründer schafft.im Durchschnitt vier bis fünf weitere Arbeitsplätze. Nur so hat die bezahlte Arbeit in den westlichen Wohlstandsländern noch eine Überlebenschance. Und die Führungskraft der Zukunft wird sich vom Kontrolleur zum Animateur wandeln müssen, der die Mitarbeiter durch seine eigene Person motivieren und begeistern kann und für Betriebsklima und gute Stimmungslage im Unternehmen verantwortlich ist. Eine seiner wesentlichen Aufgaben wird es sein, die Arbeitsfreude der Mitarbeiter zu fördern oder zumindest ihnen den Spaß an der Arbeit nicht zu verderben. Unternehmer müssen umdenken. Die jungen „Karrieristen" von heute entdecken die Lust am ganzen Leben. Sie leben nicht mehr vom Job und für die Karriere allein. Für zwei Drittel der jungen -Berufstätigen im Alter bis zu 34 Jahren heißt berufliche Karriere in erster Linie, „eine Arbeit haben, die Spaß macht". Hingegen interessieren “Führungspositionen", „hohes Ansehen", „lange Arbeits-     weiterlesen
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