Siegfried Trapp
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Eisenhüttentag 1995 Wie leben und arbeiten wir morgen? Vorgetragen in der Hauptsitzung des Eisenhüttentages des VDEh am 17. November 1995. Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, Wissenschaftlicher Leiter. B.A.T. Freizeit- Forschungsinstitut. Hamburg. Wie leben und arbeiten wir morgen?" Diese Frage steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Vortrages. Er gibt einen Ausblick über die Veränderungen in der Arbeitswelt, auf das Leben in einer Zeit wachsender Freizeit, einer rasch expandierenden Freizeitindustrie und eines immer umfassenderen Angebotes der Medien. Die Wohlstandsgesellschaft ist in einer Krise. Um diese zu überwinden, stellt der Vortragende vier Forderungen: Die materialisierte Lebenshaltung muß überdacht werden; die Schule soll wieder für das ganze Leben lehren; es werden neue soziale und familienfreundliche Leitbilder benötigt; das freiwillige Ehrenamt muß gesellschaftlich aufgewertet werden. Ein Nordlicht aus Hamburg soll Ihnen heimleuchten auf dem Weg in die Zukunft. Ja, geht das eigentlich? Kann man die Elbchaussee mit dem Rheinufer vergleichen? Beim Stichwort „Eisen" denkt ein Hanseat doch nur an „Eiserne Lady" oder „Eiserne Ration". Ist das alles? Immerhin bin ich im oberschlesischen Kohlerevier Beuthen geboren, meine Frau lernte ich als Schüler in Hagen-Haspe kennen. Meine Kinder wuchsen in Siegen-Hüttental oberhalb der Birlenbacher- Hütte auf. Und mein erstes größeres Forschungsprojekt führte ich in den siebziger Jahren in DuisburgHamborn durch. Und im Juni d. J. hielt ich mich auch ein paar Stunden unter Tage in Walsum auf. Und die Folgen? Meine Tochter ist hübsch, mein Sohn gerade gewachsen und meine Ehe hält eisern seit 28 Jahren. Ebenfalls seit 27 Jahren erforsche ich die Lebensgewohnheiten der Deutschen im Umfeld von Arbeit, Konsum und Freizeit. Was verändert sich schon heute? Und was kommt morgen auf uns zu? Produktivität, Beschäftigung, neue Arbeitszeitmodelle Stellen Sie sich einmal folgende Zukunftsperspektive vor: Die technologische Entwicklung ermöglichte nur mehr 40 Prozent der Bevölkerung eine bezahlte Tätigkeit am Arbeitsplatz. Diese gingen regelmäßig ihrer Alltagspflicht nach, um die übrigen 60 Prozent der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen: „Das soziale Netz wäre nicht mehr so engmaschig wie früher, der Lebensstandard geringer, die Lebensweise bescheidener. Arbeit wäre nur mehr für wenige da. Die Arbeitsgesellschaft würde — unter Einbußen zwar weiterleben können, doch die Vollbeschäftigungsgesellschaft wäre am Ende, die Anspruchsgesellschaft auch. Wird der Einstieg in die 35-Stunden-Woche zum sozialen Abstieg? Weniger arbeiten und weniger verdienen gehören wohl unmittelbar zusammen. An einer Senkung der Realeinkommen kommt kaum einer vorbei." Dies ist keine Beschreibung von heute, war vielmehr meine Prognose für heute - geschrieben vor über zehn Jahren im Jahre 1983. Andererseits: Sind wir nicht schon auf dem besten Wege dorthin? Wie sähe das Szenario eigentlich heute - aus der Sicht von 1995 - aus? Genauso! Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Zur Zeit werden immer mehr Autos mit immer weniger Mitarbeitern gebaut. Und in den nächsten fünf Jahren soll die Produktivität weiter gesteigert werden. Jeder Arbeiter soll dann pro Jahr 22 Autos (und nicht mehr nur wie heute 14) bauen. Die Produktivität nähme in fünf Jahren um über 50 Prozent zu, obwohl im gleichen Zeitraum nur 26 Prozent mehr Autos benötigt würden. Daraus folgt: Die Produktivität steigt in Zukunft schneller als der Absatz und die Nachfrage. Wenn also Autos in immer kürzerer Zeit gebaut werden, muß auch die Arbeitszeit bei gleicher Beschäftigtenzahl anders verteilt werden. Andere Arbeitszeitverteilung, also flexiblere Arbeitszeiten und mehr Teilzeitarbeitsplätze oder zunehmende Massenarbeitslosigkeit heißt die Alternative. Immer mehr Arbeitnehmer müssen also in Zukunft mit veränderten Arbeitszeitmodellen leben: Die Beschäftigten behalten ihren Job, arbeiten immer kürzer, verdienen aber auch weniger. Wie würden sich die Arbeitnehmer eigentlich entscheiden, wenn sie über längere oder kürzere Arbeitszeiten selber bestimmen könnten? Zunächst einmal will etwa jeder dritte Arbeitnehmer möglichst „alles beim alten" belassen, ist also mit den bisherigen Regelungen durchaus zufrieden. Die überwiegende Mehrheit aber wünscht sich für die Zukunft neue Arbeitszeitmodelle. So wollen zwei von fünf Arbeitnehmern auch weiterhin genausoviel arbeiten und verdienen wie bisher, aber die Arbeitszeit „flexibler und individueller einteilen". Sie wollen lieber Freiraum statt Freizeit. Und je jünger die Arbeitnehmer sind, um so stärker sind ihre Individualisierungswünsche ausgeprägt. Immer mehr Arbeitnehmer müssen die schmerzliche Erfahrung machen: „Mehr Freizeit ist ohne mehr Geld immer weniger wert." Damit sich ihr Niedriglohn nicht in gravierende Einbußen an Lebensqualität verwandelt, halten sie in ihrer Geldnot Ausschau nach neuen Einnahmequellen und Erwerbsmöglich- keiten: Vom Zweitberuf und Teilzeitjob über Nebentätigkeiten bis hin zur Schwarzarbeit. Der amerikanische Soziologe David Riesman wußte schon vor weiterlesen
© strapp 2016
Eisenhüttentag 1995 Wie leben und arbeiten wir morgen? Vorgetragen in der Hauptsitzung des Eisenhüttentages des VDEh am 17. November 1995. Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, Wissenschaftlicher Leiter. B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut. Hamburg. Wie leben und arbeiten wir morgen?" Diese Frage steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Vortrages. Er gibt einen Ausblick über die Veränderungen in der Arbeitswelt, auf das Leben in einer Zeit wachsender Freizeit, einer rasch expandierenden Freizeitindustrie und eines immer umfassenderen Angebotes der Medien. Die Wohlstandsgesellschaft ist in einer Krise. Um diese zu überwinden, stellt der Vortragende vier Forderungen: Die materialisierte Lebenshaltung muß überdacht werden; die Schule soll wieder für das ganze Leben lehren; es werden neue soziale und familienfreundliche Leitbilder benötigt; das freiwillige Ehrenamt muß gesellschaftlich aufgewertet werden. Ein Nordlicht aus Hamburg soll Ihnen heimleuchten auf dem Weg in die Zukunft. Ja, geht das eigentlich? Kann man die Elbchaussee mit dem Rheinufer vergleichen? Beim Stichwort „Eisen" denkt ein Hanseat doch nur an „Eiserne Lady" oder „Eiserne Ration". Ist das alles? Immerhin bin ich im oberschlesischen Kohlerevier Beuthen geboren, meine Frau lernte ich als Schüler in Hagen-Haspe kennen. Meine Kinder wuchsen in Siegen-Hüttental oberhalb der Birlenbacher-Hütte auf. Und mein erstes größeres Forschungsprojekt führte ich in den siebziger Jahren in DuisburgHamborn durch. Und im Juni d. J. hielt ich mich auch ein paar Stunden unter Tage in Walsum auf. Und die Folgen? Meine Tochter ist hübsch, mein Sohn gerade gewachsen und meine Ehe hält eisern seit 28 Jahren. Ebenfalls seit 27 Jahren erforsche ich die Lebensgewohnheiten der Deutschen im Umfeld von Arbeit, Konsum und Freizeit. Was verändert sich schon heute? Und was kommt morgen auf uns zu? Produktivität, Beschäftigung, neue Arbeitszeitmodelle Stellen Sie sich einmal folgende Zukunftsperspektive vor: Die technologische Entwicklung ermöglichte nur mehr 40 Prozent der Bevölkerung eine bezahlte Tätigkeit am Arbeitsplatz. Diese gingen regelmäßig ihrer Alltagspflicht nach, um die übrigen 60 Prozent der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen: „Das soziale Netz wäre nicht mehr so engmaschig wie früher, der Lebensstandard geringer, die Lebensweise bescheidener. Arbeit wäre nur mehr für wenige da. Die Arbeitsgesellschaft würde — unter Einbußen zwar weiterleben können, doch die Vollbeschäftigungsgesellschaft wäre am Ende, die Anspruchsgesellschaft auch. Wird der Einstieg in die 35- Stunden-Woche zum sozialen Abstieg? Weniger arbeiten und weniger verdienen gehören wohl unmittelbar zusammen. An einer Senkung der Realeinkommen kommt kaum einer vorbei." Dies ist keine Beschreibung von heute, war vielmehr meine Prognose für heute - geschrieben vor über zehn Jahren im Jahre 1983. Andererseits: Sind wir nicht schon auf dem besten Wege dorthin? Wie sähe das Szenario eigentlich heute - aus der Sicht von 1995 - aus? Genauso! Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Zur Zeit werden immer mehr Autos mit immer weniger Mitarbeitern gebaut. Und in den nächsten fünf Jahren soll die Produktivität weiter gesteigert werden. Jeder Arbeiter soll dann pro Jahr 22 Autos (und nicht mehr nur wie heute 14) bauen. Die Produktivität nähme in fünf Jahren um über 50 Prozent zu, obwohl im gleichen Zeitraum nur 26 Prozent mehr Autos benötigt würden. Daraus folgt: Die Produktivität steigt in Zukunft schneller als der Absatz und die Nachfrage. Wenn also Autos in immer kürzerer Zeit gebaut werden, muß auch die Arbeitszeit bei gleicher Beschäftigtenzahl anders verteilt werden. Andere Arbeitszeitverteilung, also flexiblere Arbeitszeiten und mehr Teilzeitarbeitsplätze oder zunehmende Massenarbeitslosigkeit heißt die Alternative. Immer mehr Arbeitnehmer müssen also in Zukunft mit veränderten Arbeitszeitmodellen leben: Die Beschäftigten behalten ihren Job, arbeiten immer kürzer, verdienen aber auch weniger. Wie würden sich die Arbeitnehmer eigentlich entscheiden, wenn sie über längere oder kürzere Arbeitszeiten selber bestimmen könnten? Zunächst einmal will etwa jeder dritte Arbeitnehmer möglichst „alles beim alten" belassen, ist also mit den bisherigen Regelungen durchaus zufrieden. Die überwiegende Mehrheit aber wünscht sich für die Zukunft neue Arbeitszeitmodelle. So wollen zwei von fünf Arbeitnehmern auch weiterhin genausoviel arbeiten und verdienen wie bisher, aber die Arbeitszeit „flexibler und individueller einteilen". Sie wollen lieber Freiraum statt Freizeit. Und je jünger die Arbeitnehmer sind, um so stärker sind ihre Individualisierungswünsche ausgeprägt. Immer mehr Arbeitnehmer müssen die schmerzliche Erfahrung machen: „Mehr Freizeit ist ohne mehr Geld immer weniger wert." Damit sich ihr Niedriglohn nicht in gravierende Einbußen an Lebensqualität verwandelt, halten sie in ihrer Geldnot Ausschau nach neuen Einnahmequellen und Erwerbsmöglich-keiten: Vom Zweitberuf und Teilzeitjob über Nebentätigkeiten bis hin zur Schwarzarbeit. Der amerikanische Soziologe David Riesman wußte schon vor weiterlesen
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