Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1 von 6)
Vorläufiges zur Dynamik der Anpassung
Der mensch kommt ungebildet und unkultiviert zur welt. Er ist - wie der biologe in
anlehnung an tierische verhaltensweisen sagt - ein extremer nesthocker , das heisst, sein
reifungszustand bei der geburt ist sehr weit vom reifungsziel entfernt ....
Es ist unbekannt, wie viele menschliche verhaltensweisen angeboren sind. Sicher ist nur
eines, dass sie bei weitem nicht ausreichen, unser leben unter unseresgleichen zu regeln.
Die eigentlichen regulative unseres verhaltens, der kodex des benehmens, werden langsam
erlernt. Angeborene begabungen und erworbene fähigkeiten spielen dabei ineinander
Denn: `Darwins anpassung ist ihrem wesen nach nicht fortschrittliche veränderung,
sondern vielmehr ein dynamischer weg zur aufrechterhaltung des status quo .' .... Wenn
dagegen ein mensch jeder schwankung politischer machtverhältnisse folgt und dabei ohne
gewissenseinspruch bisherige freunde aufgibt, ist dies zwar anpassungsgewandt, wohl auch
vom standpunkt der verteidiger der macht her gesehen eine positive, von der
verlässlichkeit als tugend aus eine schlechte eigenschaft
.... wir sind endgültig spezialisten der unvollkommenheit . Der mensch kommt nicht mit
erbgenetisch verankertem verhalten auf die welt, das ihn in allen entscheidenden fragen
des lebens definitiv einer umwelt zuordnet, sondern, wie wir eingangs sagten, ungebildet
und unkultiviert. Er ist ein neuling in jeder seiner kulturen. Das ist vorerst ein
naturgeschichtliches faktum
Anpassung und Einsicht: Stufen der Bildung
....
Jede gruppe legt ihren mitgliedern verzichte auf. `Verzichten müssen' macht feindselig.
Feindseligkeit stört den inneren zusammenhalt der gruppe. Um nicht zu neuen verzichten
zwingen zu müssen, eröffnen die gruppen dem einzelnen wege, auf denen er seine
feindseligkeit ausagieren darf
Schon wegen der ausserordentlichen gefahr der täuschungsmöglichkeiten - vor allem über
sich selbst - kann bildung im menschlichen leben nie abgeschlossen sein. Es gibt eine
abgeschlossene schulbildung, aber es gibt keine abgeschlossene bildung und
selbsterziehung. Der gebildete ist als ein mensch zu charakterisieren, der seine jugendliche
ansprechbarkeit auf neues und unbekanntes behalten hat. Er ist auf der suche nach wissen
und nach den methoden, erfahrung zu prüfen. .... Alles dogmatisch gewisse ist das ende der
bildung (davon werden wir auch die religiöse bildung nicht ausnehmen). Der
bildungsphilister ist so ungebildet wie der, der gar nichts weiss
Betrachtet man diese einschüchterung des einzelnen bei seinen versuchen, den dingen, vor
allem den sakrosankten selbstverständlichkeiten in der eigenen familie, im eigenen stand,
in der politik und so weiter auf die spur zu kommen, so kann man sich nicht einem
eindruck verschließen: Es gibt offenbar sehr viel mehr menschen, die durch früh
übernommene vorurteile in ihren neigungen zerstört und in ihrer natürlichen neugier, in
ihrem suchen nicht angesprochen oder gar niedergeschrien wurden, als von der anlage her
unbegabte und unbewegliche
Die passive anpassung zur konformität wird meist mit wenig einfühlung in die eigenwelt
des anderen erzwungen, in die individuelle variante und ihre probierenden versuche, sich
zu entfalten. Erziehung ist unendlich öfter terror als führung zur selbständigkeit. Die
unüberschaubare vielschichtigkeit und widersprüchlichkeit der gegenwärtigen
großgesellschaften wird in der öffentlichen meinung kunstvoll verdeckt und verniedlicht.
Die öffentliche meinung gibt sich aufgeklärt, aber in wahrheit übt sie eine andere funktion
aus (wie seit je): über die abgründe, das heisst über widersprüche, unkenntnis, das
sinnlose vieler anstrengungen hinwegzutäuschen, aber doch zugleich so viel angst zu
erwecken, dass sich das individuum zur masse hält
Alte freiheitsideale werden uns nicht beschützen, wenn wir sie nicht neu an der
wirklichkeit erproben. `Freiheit' ist ein stück der wahrheit, auch sie haben wir nicht für
immer und nicht als gewissheit; wir müssen sie mit viel eingeständnis und überwindung
von angst neu erfahren, um sie verteidigen zu können
Es lässt sich jetzt schon voraussehen, dass viele mitglieder unserer gesellschaft nicht für
die religiöse glaubensgewissheit und viele andere nicht für die besitzordnung auf die
barrikaden steigen, um so weniger als die machtkämpfe, von denen hier die rede ist, ganz
im gegensatz zur öffentlichen meinung in wirklichkeit nicht durch drohgebärden und
kriegerische auseinandersetzungen, sondern vielmehr durch angleichung administrativer
praktiken, durch werbefeldzüge und sprach- beziehungsweise symbolkorruption (zum
beispiel des wortes `freiheit' oder `frieden' oder `partei' und `parlament') entschieden
werden.
Es wäre doch unrealistisch, um nicht zu sagen töricht, nun zu glauben, man könne vom
mann auf der straße, der weder hungert noch friert, weder um seine altersversorgung
bangt noch auf die nutzung seiner begabungen verzichten muss, sondern in maßen am
überfluss teilhat, verlangen, rot für rot zu erklären, wenn seine gesellschaft gebietet, dass
er rot grün nenne. Es muss schon ein entschlossener wahrheitskämpfer sein, der einer
konvention um den preis des verlustes von brot und stellung entgegentritt; und die
konvention muss schon drückend sein, damit er anderen mit seiner opposition mut macht.
Aber müssen denn die konventionen für das identitätsgefühl des sozial geborgenen
einzelnen in den überflussgesellschaften drückend sein? Welcher hunger wird hier und
welcher dort trotzdem ungestillt bleiben?
Die pädagogische absicht dieses buches ist es, dem antipsychologischen affekt in unserer
sozialbildung entgegenzuarbeiten. Unsere prämisse beruht darauf, dass nur die stärkung
wachen, kritischen denkens das erlöschen der europäischen tradition verhindern kann.
Diese tradition verlangt seit den anfängen der aufklärung selbstverantwortung neben dem
kollektiven gehorsam - ehrfurchtsloses fragen angesichts von tabus, welche fragwürdige
herrschaftsansprüche sichern
Das wichtigste kennzeichen der bildung ist demnach folgendes. Gebildet ist ein mensch,
der in affekterregenden lebenslagen über eine einigermaßen beständige selbstsicherheit im
umgang mit den eigenen triebregungen verfügt
Der mangel an erbgenetisch festgelegten auslösungen für ein artspezifisches verhalten
wird durch gruppenspezifisch erworbene verhaltensweisen ersetzt
Der Instinkt reicht nicht aus - die Evolution zum Bewusstsein
....
Die bedeutung der verhaltensrollen und der attribute der rollenmarkierung als leitlinien
für das identitätserlebnis und als aufbaustoffe der selbstgefühle kann kaum überschätzt
werden
Bestechung mit besitz oder macht, die innerhalb der gruppe rang und prestige geben,
verleiht der verführung nachdruck. Schon dass man die tatsächlich etwas
gruppenunabhängigere existenz gern als aussenseiter, bohemien, diogenesnatur, asket,
also mit zügen einer zweifelhaften vereinsamung beschreibt, verweist auf die
schwierigkeiten, denen sich das individuum gegenübersieht. Zunächst muss immer, wo
von individualismus und individueller freiheit die rede ist, geklärt werden, ob es sich nicht
um ein produkt der selbsttäuschung , des falschen bewusstseins handelt
Denn im regelfall ist das individuum erschöpfend charakterisiert, wenn man die gruppen
kennt, deren schnittpunkt es ist. Dem vorwurf solcher `niederziehenden' kritik setzt sich
niemand gerne aus, denn die machtmittel kollektiver ächtung haben auch in der moderne
nichts an gefährlichkeit verloren. Trotzdem bleibt es dabei, dass das ich seine fragile
leistung nur dann - letztlich für eine gesellschaft von etwas freierem geist - vollbringen
kann, wenn ihm nicht nur die kritik der tatbestände erlaubt ist, sondern auch die der
tabus, die nichts weniger wollen, als ihm vorschreiben, wie es sich zu verstehen habe
Der soziale rollenzwang ist wie der informationszwang (lernzwang) eine an die
erweiterung der lernfähigkeit gebundene kompensation fehlender angeborener
arteigentümlicher verhaltensschemata. Diese schemata sind, soweit sie sich auf das soziale
verhalten beziehen, wie erwähnt, in der tierwelt erblich besonders starr fixiert
Für die normale entwicklung des kindes sind beziehungspersonen von konstantem aspekt
gefordert.
Verfremden sie sich periodisch unter bestimmten reizsituationen, so wird das kind eben
jene gespaltenheit als identifikationsangebot übernehmen müssen
Verglichen etwa mit den dörflichen verhältnissen, von denen man, ohne sie zu
beschönigen, sagen kann, dass sie durch jahrtausende eine relativ konstante umwelt boten,
ist der aktionsraum des bekannten und gefühlshaft vertrauten für das stadtkind wesentlich
geschrumpft. Die ausweichmöglichkeiten auf mitglieder der weiteren familie sind geringer.
Mit anderen worten, die ganze ambivalente gefühlsspannung des kindes konzentriert sich
überwiegend auf die mutter, die sich dadurch oft überfordert fühlt und ihrerseits
ambivalenter dem kind gegenüber wird. Zudem ist kinder zu haben eine unterbrechung
der arbeitstätigkeit, eine schwächung der wirtschaftskraft der familie und bringt die mutter
wieder in größere finanzielle abhängigkeit
Das veranlasst zu dem schluss, dass die möglichkeit zur entwicklung des spezifischen
affektiven sozialkontaktes, den wir mit den worten `liebe zur mutter' umschreiben, nur in
einer beschränkten, definierbaren periode
besteht. Die erfüllung der bedürfnisse, die sich mit der gestalt der mutter verbindet, muss
in den erfahrungen dieses lebensabschnittes gegeben sein; Harlow meint dabei für den
Rhesusaffen die zeit zwischen erstem und viertem, für den menschen die spanne zwischen
drittem und zwölftem lebensmonat. Danach ist eine prägung, wie sie zuerst Konrad Lorenz
in seinen versuchen mit enten gezeigt hat, in dieser richtung nicht mehr möglich. `Hat das
kind in dieser zeit nicht zu lieben gelernt, so wird es niemals lieben können.'
Wer nicht die erfahrung des vertrauens sammeln konnte, dem gelingt es offenbar nur
schwer, sich selbst über die entwicklungskrisen hinweg immer deutlicher als identisches
wesen zu begreifen
Die affen, die unter menschenähnlichen bedingungen insofern aufwachsen, als ihnen ein
verlust der mutter zustösst, den sie in ihrer umwelt nicht überleben würden, oder die auf
eine mutterattrappe angewiesen sind, die in etwa einer ihrem kind entfremdeten
menschenmutter gleichgesetzt werden kann - diese affen enwickeln im späteren leben
seelische reaktionsdefekte, die menschlichen aufs haar gleichen. Wir müssen hinzufügen,
dass diese defekte beim menschen durch die spezifischen ichleistungen, etwa durch
einsicht, nicht korrigiert werden können. Diesen verödungen gegenüber ist einsicht
machtlos. .... Harlows rhesusaffen sind inzwischen, wie er unlängst mitteilte, zu physisch
voll gereiften tieren in bestem zustand herangewachsen. Aber trotzdem zeigen sie keinerlei
neigung zu einem paarungsverhalten. .... Harlow nimmt an, dass es sich dabei um einen
folgezustand der mutterlosigkeit handelt. `Auf irgendeinem uns noch unbekannten weg
übermittelt die mutter dem kind die fähigkeit zu normalem geschlechtsverhalten.'
Aber mehr noch: Es gelang Harlow (1961), ein mutterlos im drahtkäfig und mehrere mit
attrappen [der mutter] aufgezogene weibchen schließlich zur paarung zu bringen; wenn
auch ihr verhalten nicht dem wilder affen glich, so wurden sie doch trächtig. Zwei der tiere
gebaren junge. Sowohl das ganz mutterlos aufgewachsene tier wie das mit einer
stoffattrappe aufgezogene verhielten sich `völlig teilnahmslos' beziehungsweise
`reagierten überhaupt nicht auf ihr neugeborenes kind, obwohl das kind normal auf sie
reagierte'. Sie sahen nie auf das kind, `sondern starrten ins leere'. Die mutterlos
aufgewachsene mutter `wischte das kind von ihrem bauch oder rücken ab in derselben
gleichgültigen art, mit der sie fliegen abwischen würde.' `Ihr verhalten zeigte eine
auffallende ähnlichkeit mit dem eines völlig affektlosen schizophrenen menschen.'
Man sagt etwa, es sei einem menschen nicht gegeben, zärtlich zu sein; es wurde ihm aber
nicht von der natur, sondern von der mitwelt nicht gegeben. ....
Es scheint, wie bei den mutterlosen affen des experiments, kollektive charakterprägungen
zu geben, die fühllos und unzugänglich für das erlebnis großer bereiche der sozialen
wirklichkeit machen. Der affektive appell, der von ideologisch markierten gruppen von
mitmenschen[,] etwa von missachteten minoritäten kommt, erreicht dann das individuum
nicht mehr; ihrer not gegenüber verhält es sich wahrnehmungsblind
``Kurz gesagt, der viktorianische mensch sah die sexualität nicht sosehr als sünde,
sondern als etwas bestialisches, verachtenswürdiges an.'' Nun, diese verachtung ist
abgeklungen; sie hat in den roaring twenties ihren gegenschlag in hektischer
geschlechtsanarchie gefunden und ist teils zu einer kleinbürgerlichen moralität, teils zu
einer auffassung verlaufen, in der geschlechtsgenuss nahe dem genuss anderer
konsumgüter rangiert, weder poetisch verklärt noch gewissensbelastet, einfach langweilig
Das neurotische elend unserer zeit liegt in der präokkupation mit geld und sexualität. Das
anale besitzstreben kompensiert die sexuelle versagung; andererseits sichert der besitz den
genuss der `schlechten' frauen
Mit zunehmender vereinzelung der lebensformen ist der schutz gegen die individuell
neurotischen einflüsse nicht gewährleistet, weil jetzt die sicherung durch kollektive
handlungsanweisungen fehlt. Das korrektiv der vereinzelung sind zunehmend die
wissenschaftlichen ansschauungen und ihre verbreitung .... Da es ein irrtum ist, die
gesellschaftliche vereinzelung unserer zivilisation einfach mit individualisierung im sinne
einer verstärkung der ichfunktionen im zusammenspiel mit den triebregungen
gleichzusetzen, ist die lage kritischer als in den zeiten geschlossener sippen-, stammes- und
provinzialkulturen
Von der Hinfälligkeit der Moralen
....
Manche erziehungsformen wirken offenbar toxisch
Mit dem wort identität ist also zugleich die fertigkeit gemeint, sich durch integration neuer
erfahrungen wandeln zu können
Ein solches training zu triebaufschub, zur askese verschiedener härte - und das ist kultur -
ist für ein alleinlebendes wesen undenkbar, weil es unnötig wäre. Erst die notwendigkeit,
mit anderen teilen zu müssen, fordert den verzicht; aber nur dort kann mit dem verzicht
ein sinn verknüpft, kann verzicht selbst befriedigend erlebt werden, wo die mitwelt
bedeutung für den einzelnen hat, oder sagen wir unverhohlen: wo er grund hat, diesen und
jenen menschen zu lieben
Die vorherrschaft des lieblosen gewaltdenkens gehört vielmehr zu einer umwelt, in der die
deckung vitaler grundbedürfnisse schwerfällt und periodisch oder dauernd materielle
armut die große menge drückt. Armut ist das produkt einer begrenzten kulturentwicklung
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Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
Siegfried
Trapp
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