Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
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In sozialformen, die auf magischem denken beruhen, wird der triebanteil im verhalten
traditionell ritualisiert und eingefangen. Die techniken der einübung geschehen in
einem relativ gleichbleibenden bezugsrahmen. Wie verhält sich das in der
technisierten, zweckrationalisierten massengesellschaft, die scharf trennt zwischen
einem alltagsleben, dessen instrumentarium voraussehbar funktioniert, und einem
`privatleben' emotionell bestimmter entscheidungen, die sich zwar auch in der
spielbreite einer vorauserwartung bewegen sollen, für die aber die sinnorientierung
schwer zu finden ist? Ihre inhalte sind weitgehend herübergenommen aus historischen
traditionen der magischen orientierung
Die gesamtkonzeption der herrschenden moral ist tief durchdrungen von der
(weitgehend unbewusst bleibenden) absicht, bestehende gewaltprivilegien den
anschein der rechtmäßigkeit zu verleihen. Von der kritischen vernunft her betrachtet,
nimmt sich die moralität, wie sie getätigt wird, höchst atavistisch aus; der einzelne
fragwürdige vorstoß, die schlichte gemeinheit, die einer begeht, findet ihn wohl
vorbereitet, er verfügt über eine gute abwehrroutine gegen schlechtes gewissen und
kann sich dabei auf die doppelmoral berufen, wie sie gang und gäbe ist ....
Ein langsam historisch werdendes beispiel beispiel wird dabei nur zu leicht vergessen:
der faule arbeiter. Der arbeiter muss faul und dumm sein, sonst könnte die ausbeutung
gegen ihn nicht so gewissenlos, gewissensbefreit vor sich gehen. Und sekundär bleibt
dem arbeiter auch kein anderer weg offen, als wirklich `faul', das heisst interesselos zu
werden, weil er ausgebeutet wird
Die zahl der menschen, die konstitutionell den kulturanforderungen nicht gewachsen
sind, scheint ungleich geringer als die jener, die aus ihrem sozialschicksal heraus
liebesunfähig wurden
Das nichtsozialisierte ist dann aber .... keineswegs das `natürliche' an ihm, sondern das
unter den kulturzwängen entstellte.
Triebverleugnung, wie sie weitgehend in unserer moral erzwungen wird, ist auch nicht
identisch mit den kulturnotwendigen triebverzichten. `Verleugnung' im sinne des
`nicht sein kann, was nicht sein darf' ist ein infantiler modus des umgangs mit der welt.
In den moralen, wie sie in unseren breiten gelebt werden, wird der mensch psychisch
infantil gehalten, um ihm den schweren verzicht leichter abfordern zu können. Es ist
mehr als zweifelhaft, ob die menschheit bei dieser moral die krisen der zukunft
meistern wird. Sie ist zu sehr an den zwang zur bösen tat gekettet. Wir werden also
zeigen müssen, dass eine moral, die zu einem anwachsen der verantwortung im ich
statt zu einem verharren unter den geboten im über-ich erzieht, vom soziogenetischen
prozess der evolution gefordert ist ..... Dem skeptiker .... wird man in der tat nur eben
diese hoffnung als ein prinzip entgegenhalten können. Denn hoffnung ist die
psychische korrespondenz zu der biologischen offenheit der menschlichen natur
Die ursprüngliche unempfindlichkeit von kindern gegenüber rassenmerkmalen ist
wohlbekannt
Exkurs über die Triebdynamik
....
In psychologischer einschätzung erscheinen bisher die intelligenzleistungen, denen wir
das kulturelle inventar verdanken, ungleich besser entwickelt, als die
intelligenzleistungen, die sich auf die sozialisierung des affektiven menschen, auf die
soziale erzeugung einer affekt- oder gemütsverfassung richten. Die erschreckende
begegnung mit der triebnatur hat nachhaltiger als alle schrecken der welt sonst seine
ichfähigkeiten gelähmt.
Die abwehrleistung gegen diesen schrecken ist die einübung in gewohnheiten, welche
die erziehung besorgt. Im gewohnten erlischt meist die frage. Insbesondere auch die
frage nach der herkunft der gewohnheit selbst. Aber selbstverständnis aus der
gewohnheit ist trügerisch, denn gewohnheit verdeckt die unlust ihres
zustandekommens. Das ist ihre ökonomische ersparnis, unter umständen aber auch
ihre fatale intelligenzlosigkeit
Die tendenzen einer erziehung zur einsicht sind insofern dieser erziehungspraxis
konträr, als sie die erweckung von schuldangst, soweit es uns möglich ist, in der
führung des kindes zu meiden suchen. Die affektive zuwendung läuft nicht auf eine
besitznahme des kindes hinaus, sondern auf die freilassung zu eigener initiative
Um das zärtliche verhalten als beispiel zu nehmen: Wo es kulturell minder geachtet
wird, unterbleibt eine form der triebbefriedigung, in der aggressive triebwünsche von
libidinösen gemildert werden und eine ganz bestimmte, eben die zärtliche
äusserungsform annehmen. Es entfällt damit aber ebenso die icherfahrung, die
aggressive und sexuelle regungen bremsen und in einer neuen verhaltensgestalt - der
zärtlichkeit - vereinen kann. Weil die erinnerungsspuren dieser leistung fehlen, kann
später in situationen, die ein solches verhalten nahelegen würden, auf sie nicht
zurückgegriffen werden. Je intensiver diese neigungen in der kindheit verdrängt
werden mussten, je stärker die reaktionsbildung dagegen ist - zum beispiel abscheu vor
weichlichkeit -, desto weniger können zärtliche gefühle später erlernt, überhaupt erlebt,
geschweige denn kundgegeben werden
In abwandlung des Kantischen satzes `Begriffe ohne anschauung sind leer' kann man
sagen: Ein ich ohne die erfahrung der im selbst wirkenden libidinösen und aggressiven
triebregungen (und ihres speziellen gehabens) wäre leer; triebimpulse schaffen erst die
verbindung zur welt und lassen zugleich das ich sich selbst erfahrbar werden
Man bedenke, zu welcher rücksichtslosen strenge im urteil unsere gesellschaft
sexuellen perversionen gegenüber bereit ist und wieviel entschuldigungen bei politisch-
ideologisch begründeten untaten größten ausmaßes geltend gemacht und akzeptiert
werden
Viel kollektives ritual, viele von der gesellschaft gestützte meinungs- und lebensformen
sind ebenso krank, wie einzelpersonen krankhaft sein können ....
Weiterer konfliktstoff zwischen eltern und ihren kindern entsteht, wenn diese mehr
oder weniger eingestanden oder unbewusst gehasst werden, weil sie einen abgelehnten
teil der eigenen person verkörpern und in ihrem verhalten szenisch darstellen. Also in
ihrer haltung, ihrem aussehen schwächen und mängel anschaulich machen, an denen
mutter oder vater selbst gelitten und für die sie sich später blind gemacht haben. Auf
die unvorhergesehene wiederbegegnung in den eigenen kindern reagieren sie hassvoll.
Dies ist wahrscheinlich der häufigste störfaktor. Durch ihn wird die möglichkeit einer
positiven identifizierung mit dem eigenen kinde eingeschränkt; das kind widerspricht
dem ichideal, das man in sich selbst als reaktionsbildung gegen die eigene schwäche
errichtet hatte
In vorwiegend bäuerlichen kulturen sind kinder kapital, natürliche, billige hilfskräfte,
eine sicherung für das alter; in der modernen industriegesellschaft verzehrt ihre immer
länger dauernde ausbildung kapital, die alterssicherung ist weitgehend auf
institutionen übergegangen; jede generation muss die sicherung für sich selbst schaffen
Ich und Ichideal
....
Der vater, der den kindern zurückhaltung und bescheidenheit predigt, um dann bei
tisch sich als erster das beste stück zu nehmen, übermittelt beides: die norm und den
trick, wie man sie umgeht. Das erklärt die haltbarkeit gerade der identifizierungen mit
den (von der gesellschaftlichen norm aus beurteilt) `negativen' zügen eines vorbildes
Ein mensch, der sich mit `leidenschaft' oder dauerndem interesse auch an schwierigen
aufgaben versucht und der zugleich die realität angemessen einzuschätzen lernt, kann
lust aus diesen tätigkeiten gewinnen - und zwar ausgesprochene `ich-lust'. Er wird die
momentane unlust aus dem es, die nicht zu vermeiden ist, wo befriedigungsaufschub
verlangt wird, besser hinnehmen. Ein gutes gegenbeispiel sind die lernschwierigkeiten
vieler kinder.
Der drohende verlust des gruppenkontaktes ist ein erschreckendes erlebnis und löst
panische angst und jede erdenkliche anstrengung aus, die Übereinstimmung
wiederzufinden - nur nicht die zu einer besonnenen kontrolle der lage .... Die
mittelalterliche strafe der ächtung zeigt, dass die gefahr, die dem individuum bei
verlust der gruppenzugehörigkeit droht, tod heisst. Und das wissen selbstverständlich
diejenigen, die die große menge zu manipulieren verstehen, genau
Die statische sozialstruktur, die fatalistisch hingenommen werden musste, fand eine
dynamische gegentendenz, die dem einzelnen einen relativ großen
bewegungsspielraum zwischen leistungsrollen eröffnet hat. Damit wird aber die
ichidealbildung nicht einfacher. Nicht nur hat jeder den marschallstab im tornister,
was heute heisst, er hat die chance, auf allen möglichen ebenen des establishment -
etablierter sozialer machtgruppen - mitspielen zu können; es fällt ihm zugleich auch die
möglichkeit, scheitern zu können, in reicher vielfalt zu. In diesen fällen des misslingens,
des zurückbleibens hinter idealentwürfen des erfolges, verfestigt sich die regressive,
realitätsabgewandte neigung jeder ichidealbildung. Dem phantastisch aus der
wirklichkeit entfernten ideal entspricht im verhalten regelhaft das ressentiment, das
noch einmal verhindert, erreichbares zu erreichen.
Da dieser fehlzirkel ein wichtiges ingrediens neurotischer charakterentwicklung ist -
das ideal, das im dienste passiv phantasierter ersatzbefriedigung steht, statt als
vorentwurf aktiver , realitätsgerechter `selbstverwirklichung' mit all ihren
enttäuschungen zu wirken ....
Zwei entwicklungslinien sind durch die verfolgbare geschichte der menschheit
hindurch als konstanten erkennbar: dass sie in geometrischer progression anwächst,
dass aber der anteil des ichs am seelischen geschehen nur sehr viel langsamer wächst
Keine der älteren sozialformen hatte eine machtausstattung, die der unseren
vergleichbar war. Keine bedurfte so zwingend der vernunft, das heisst entwickelter
ichleistungen bei jedermann. Dieser unterschied ist es, der eine orientierung an
tradierten ordnungsformen nur recht beschränkt fruchtbar erscheinen lässt.
Aus unseren Überlegungen folgern wir deshalb die notwendigkeit, einen erziehungsstil
zu entwickeln, der sich schon in den frühesten entwicklungsschritten des menschen
seiner `ichbedürfnisse' annimmt. Die ist der erkenntnisbeitrag, den die psychoanalyse
zur lehre vom menschen geleistet hat: Wir haben mit der stärke der triebregungen und
der art, wie sie ans ziel zu kommen trachten, als einer überhistorischen macht zu
rechnen und deshalb die notwendigkeit sozialer zwänge, welche ein leben in der gruppe
erst möglich machen, anzuerkennen. Worum es geht ist, welche art von sozialzwängen
den triebzwängen entgegengestellt wird
Mit dem erlebnis, in seinen ichbedürfnissen verstanden zu sein - auch wenn er sich
ganz anderen gegenständen, tätigkeiten zuwendet als der vater -, erwirbt der sohn eine
lebenserfahrung, mit der er immer, in jedem beruf, in jeder sozialen stellung, etwas
anzufangen vermag und die ihn nicht zuletzt davor bewahren wird, einst den eigenen
kindern unter allerlei rational klingenden (in wahrheit rationalisierenden)
begründungen das bestreiten zu wollen, was ihm selbst nicht zuteil wurde.
Erziehung zur Ichstärkung
Es kann keinem zweifel unterliegen, dass die erziehung zur ichstärkung in dem gesamt
von tradierten und aktuell wirksamen stereotypen unserer gesellschaft schwach, sehr
schwach gesichert ist. Das wird nicht durch den kult der persönlichkeit, als höchstes
glück der erdenkinder, widerlegt
Der unsichtbare Vater
....
Hier sei angefügt, dass wir in diesem kapitel nur eine soziale beziehung, die zwischen
vater und sohn, behandeln. Sie steht beispielhaft für die anderen verhältnisse in der
familiengruppe .... Wenn wir gerade die kommunikation von vater und sohn
herausgegriffen haben, so hat dies seine ursache in der gesellschaftlichen
sonderstellung dieser beziehung in einer paternistischen gesellschaft. An der
veränderung, welche die gesellschaftlichen prozesse in diesem verhältnis erzwungen
haben, kann man mit besonderer deutlichkeit ablesen, wie die paternitäre
gesellschaftsordnung sich selbst in eine kritische lage manövriert hat. Aus ihr wird sie
nicht mit dem gleichen festgegründeten bewusstsein einer unumstößlichen
ordnungsform hervorgehen, das der hinter uns liegende äon besaß ....
Je vielfältiger sich eine zivilisation entfaltet, in desto mehr situationen übernehmen
andere die lehraufgabe des vaters - bis es schliesslich den lehrer als selbständigen beruf
gibt. Lehrer verkörpern dabei genaugenommen aspekte des fehlenden vaters
Das arbeitsbild des vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von
geschichtlichen prozessen erzwungenen verlust der anschauung schlägt die wertung
um. Der hymnischen verherrlichung des vaters - und des vaterlandes! - folgt in der
breite ein `sozialisierter vaterhass', die `verwerfung des vaters', die entfremdung und
deren seelische entsprechungen: `angst' und `aggressivität'.
Die vorgefasste meinung, die paternitäre ordnungsreform sei gleichsam das
unumstößliche strukturprinzip jeder gesellschaft, wird leicht dazu führen, diesen
entfremdungsvorgang zwischen vätern und söhnen zu bagatellisieren. Die auffallende
unzugänglichkeit vieler jugendlicher, ihre provokatorischen allüren, ihre indifferenz für
alles, was den Älteren wertvoll war, ihr leiden unter einer einsamkeit, die sie in
hektischem erlebnishunger zu übertönen suchen - kurz, der schwere und lange verlauf
der adoleszenzkrise geht dann als psychopathologisches phänomen auf das konto der
jugendlichen. Bei ihnen liegt das übel, zu dessen erklärung hauptsächlich
vererbungsmythologien (der tunichtgut im stammbaum) ins feld geführt werden. Die
heiklere frage, ob nicht etwa die lebensgewohnheiten der familie an diesem
überraschenden ergebnis, dass gute vorbilder so bedauerliche folgen zeitigen, schuld
sind, bleibt ausgeklammert. Ausgeklammert bleibt auch die logischerweise daraus
folgende frage, inwieweit gesamtgesellschaftliche prozesse an der gestaltung der
familiären lebensgewohnheiten mitwirken. Die affektive fixierung auf das tradierte
modell einer gesellschaft, in der väter vorherrschen, vorleben, erschwert es so, die
realität zu beobachten, in der von solcher sinnfälligkeit wenig geblieben ist
.... hätte als das reale erlebnis des vaters im kinde zwei spuren hinterlassen. Ein
entfaltungsschema geordneten verhaltens, das wir gewissen (`über-ich') nennen, wäre
angelegt, und zweitens: Ein stück bewältigungspraxis des lebens wäre vom vater auf
den sohn übermittelt worden. In sozialen verhältnissen, in denen der bestand an
jahreszeitlich gebundenen aufgaben gleichförmig durch die generationen hindurch
weitergegeben wird, scheint diese bildende seite der erziehung kaum der beachtung
wert. Sie ist dann eine art sozialer selbstverständlichkeit. Erst wenn diese
bewältigungspraxis dauernden revolutionen unterliegt, wird sie zum problem. Besteht
dann noch die revolutionierung der praktiken des tätigen lebens in einer
fragmentierung der arbeitsleistung und in einem anwachsen `nicht-anschaulicher'
sozialleistungen - wie sie zum beispiel die ganze verwaltungsarbeit darstellt -, so ist die
folge davon ein defizit an anschaulichkeit. Für den heranwachsenden menschen
bedeutet das ein defizit an sozialbildung. Dieser mangel - und dies wäre die these
unserer überlegungen - bleibt nicht ohne rückwirkungen auf die gesamte formung und
prägung der jeweiligen generation der söhne durch ihre väter
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Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)
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