Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (2 von 6) In sozialformen, die auf magischem denken beruhen, wird der triebanteil im verhalten traditionell ritualisiert und eingefangen. Die techniken der einübung geschehen in einem relativ gleichbleibenden bezugsrahmen. Wie verhält sich das in der technisierten, zweckrationalisierten massengesellschaft, die scharf trennt zwischen einem alltagsleben, dessen instrumentarium voraussehbar funktioniert, und einem `privatleben' emotionell bestimmter entscheidungen, die sich zwar auch in der spielbreite einer vorauserwartung bewegen sollen, für die aber die sinnorientierung schwer zu finden ist? Ihre inhalte sind weitgehend herübergenommen aus historischen traditionen der magischen orientierung Die gesamtkonzeption der herrschenden moral ist tief durchdrungen von der (weitgehend unbewusst bleibenden) absicht, bestehende gewaltprivilegien den anschein der rechtmäßigkeit zu verleihen. Von der kritischen vernunft her betrachtet, nimmt sich die moralität, wie sie getätigt wird, höchst atavistisch aus; der einzelne fragwürdige vorstoß, die schlichte gemeinheit, die einer begeht, findet ihn wohl vorbereitet, er verfügt über eine gute abwehrroutine gegen schlechtes gewissen und kann sich dabei auf die doppelmoral berufen, wie sie gang und gäbe ist .... Ein langsam historisch werdendes beispiel beispiel wird dabei nur zu leicht vergessen: der faule arbeiter. Der arbeiter muss faul und dumm sein, sonst könnte die ausbeutung gegen ihn nicht so gewissenlos, gewissensbefreit vor sich gehen. Und sekundär bleibt dem arbeiter auch kein anderer weg offen, als wirklich `faul', das heisst interesselos zu werden, weil er ausgebeutet wird Die zahl der menschen, die konstitutionell den kulturanforderungen nicht gewachsen sind, scheint ungleich geringer als die jener, die aus ihrem sozialschicksal heraus liebesunfähig wurden Das nichtsozialisierte ist dann aber .... keineswegs das `natürliche' an ihm, sondern das unter den kulturzwängen entstellte. Triebverleugnung, wie sie weitgehend in unserer moral erzwungen wird, ist auch nicht identisch mit den kulturnotwendigen triebverzichten. `Verleugnung' im sinne des `nicht sein kann, was nicht sein darf' ist ein infantiler modus des umgangs mit der welt. In den moralen, wie sie in unseren breiten gelebt werden, wird der mensch psychisch infantil gehalten, um ihm den schweren verzicht leichter abfordern zu können. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die menschheit bei dieser moral die krisen der zukunft meistern wird. Sie ist zu sehr an den zwang zur bösen tat gekettet. Wir werden also zeigen müssen, dass eine moral, die zu einem anwachsen der verantwortung im ich statt zu einem verharren unter den geboten im über-ich erzieht, vom soziogenetischen prozess der evolution gefordert ist ..... Dem skeptiker .... wird man in der tat nur eben diese hoffnung als ein prinzip entgegenhalten können. Denn hoffnung ist die psychische korrespondenz zu der biologischen offenheit der menschlichen natur Die ursprüngliche unempfindlichkeit von kindern gegenüber rassenmerkmalen ist wohlbekannt Exkurs über die Triebdynamik .... In psychologischer einschätzung erscheinen bisher die intelligenzleistungen, denen wir das kulturelle inventar verdanken, ungleich besser entwickelt, als die intelligenzleistungen, die sich auf die sozialisierung des affektiven menschen, auf die soziale erzeugung einer affekt- oder gemütsverfassung richten. Die erschreckende begegnung mit der triebnatur hat nachhaltiger als alle schrecken der welt sonst seine ichfähigkeiten gelähmt. Die abwehrleistung gegen diesen schrecken ist die einübung in gewohnheiten, welche die erziehung besorgt. Im gewohnten erlischt meist die frage. Insbesondere auch die frage nach der herkunft der gewohnheit selbst. Aber selbstverständnis aus der gewohnheit ist trügerisch, denn gewohnheit verdeckt die unlust ihres zustandekommens. Das ist ihre ökonomische ersparnis, unter umständen aber auch ihre fatale intelligenzlosigkeit Die tendenzen einer erziehung zur einsicht sind insofern dieser erziehungspraxis konträr, als sie die erweckung von schuldangst, soweit es uns möglich ist, in der führung des kindes zu meiden suchen. Die affektive zuwendung läuft nicht auf eine besitznahme des kindes hinaus, sondern auf die freilassung zu eigener initiative Um das zärtliche verhalten als beispiel zu nehmen: Wo es kulturell minder geachtet wird, unterbleibt eine form der triebbefriedigung, in der aggressive triebwünsche von libidinösen gemildert werden und eine ganz bestimmte, eben die zärtliche äusserungsform annehmen. Es entfällt damit aber ebenso die icherfahrung, die aggressive und sexuelle regungen bremsen und in einer neuen verhaltensgestalt - der zärtlichkeit - vereinen kann. Weil die erinnerungsspuren dieser leistung fehlen, kann später in situationen, die ein solches verhalten nahelegen würden, auf sie nicht zurückgegriffen werden. Je intensiver diese neigungen in der kindheit verdrängt werden mussten, je stärker die reaktionsbildung dagegen ist - zum beispiel abscheu vor weichlichkeit -, desto weniger können zärtliche gefühle später erlernt, überhaupt erlebt, geschweige denn kundgegeben werden In abwandlung des Kantischen satzes `Begriffe ohne anschauung sind leer' kann man sagen: Ein ich ohne die erfahrung der im selbst wirkenden libidinösen und aggressiven triebregungen (und ihres speziellen gehabens) wäre leer; triebimpulse schaffen erst die verbindung zur welt und lassen zugleich das ich sich selbst erfahrbar werden Man bedenke, zu welcher rücksichtslosen strenge im urteil unsere gesellschaft sexuellen perversionen gegenüber bereit ist und wieviel entschuldigungen bei politisch- ideologisch begründeten untaten größten ausmaßes geltend gemacht und akzeptiert werden Viel kollektives ritual, viele von der gesellschaft gestützte meinungs- und lebensformen sind ebenso krank, wie einzelpersonen krankhaft sein können .... Weiterer konfliktstoff zwischen eltern und ihren kindern entsteht, wenn diese mehr oder weniger eingestanden oder unbewusst gehasst werden, weil sie einen abgelehnten teil der eigenen person verkörpern und in ihrem verhalten szenisch darstellen. Also in ihrer haltung, ihrem aussehen schwächen und mängel anschaulich machen, an denen mutter oder vater selbst gelitten und für die sie sich später blind gemacht haben. Auf die unvorhergesehene wiederbegegnung in den eigenen kindern reagieren sie hassvoll. Dies ist wahrscheinlich der häufigste störfaktor. Durch ihn wird die möglichkeit einer positiven identifizierung mit dem eigenen kinde eingeschränkt; das kind widerspricht dem ichideal, das man in sich selbst als reaktionsbildung gegen die eigene schwäche errichtet hatte In vorwiegend bäuerlichen kulturen sind kinder kapital, natürliche, billige hilfskräfte, eine sicherung für das alter; in der modernen industriegesellschaft verzehrt ihre immer länger dauernde ausbildung kapital, die alterssicherung ist weitgehend auf institutionen übergegangen; jede generation muss die sicherung für sich selbst schaffen Ich und Ichideal .... Der vater, der den kindern zurückhaltung und bescheidenheit predigt, um dann bei tisch sich als erster das beste stück zu nehmen, übermittelt beides: die norm und den trick, wie man sie umgeht. Das erklärt die haltbarkeit gerade der identifizierungen mit den (von der gesellschaftlichen norm aus beurteilt) `negativen' zügen eines vorbildes Ein mensch, der sich mit `leidenschaft' oder dauerndem interesse auch an schwierigen aufgaben versucht und der zugleich die realität angemessen einzuschätzen lernt, kann lust aus diesen tätigkeiten gewinnen - und zwar ausgesprochene `ich-lust'. Er wird die momentane unlust aus dem es, die nicht zu vermeiden ist, wo befriedigungsaufschub verlangt wird, besser hinnehmen. Ein gutes gegenbeispiel sind die lernschwierigkeiten vieler kinder. Der drohende verlust des gruppenkontaktes ist ein erschreckendes erlebnis und löst panische angst und jede erdenkliche anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden - nur nicht die zu einer besonnenen kontrolle der lage .... Die mittelalterliche strafe der ächtung zeigt, dass die gefahr, die dem individuum bei verlust der gruppenzugehörigkeit droht, tod heisst. Und das wissen selbstverständlich diejenigen, die die große menge zu manipulieren verstehen, genau Die statische sozialstruktur, die fatalistisch hingenommen werden musste, fand eine dynamische gegentendenz, die dem einzelnen einen relativ großen bewegungsspielraum zwischen leistungsrollen eröffnet hat. Damit wird aber die ichidealbildung nicht einfacher. Nicht nur hat jeder den marschallstab im tornister, was heute heisst, er hat die chance, auf allen möglichen ebenen des establishment - etablierter sozialer machtgruppen - mitspielen zu können; es fällt ihm zugleich auch die möglichkeit, scheitern zu können, in reicher vielfalt zu. In diesen fällen des misslingens, des zurückbleibens hinter idealentwürfen des erfolges, verfestigt sich die regressive, realitätsabgewandte neigung jeder ichidealbildung. Dem phantastisch aus der wirklichkeit entfernten ideal entspricht im verhalten regelhaft das ressentiment, das noch einmal verhindert, erreichbares zu erreichen. Da dieser fehlzirkel ein wichtiges ingrediens neurotischer charakterentwicklung ist - das ideal, das im dienste passiv phantasierter ersatzbefriedigung steht, statt als vorentwurf aktiver , realitätsgerechter `selbstverwirklichung' mit all ihren enttäuschungen zu wirken .... Zwei entwicklungslinien sind durch die verfolgbare geschichte der menschheit hindurch als konstanten erkennbar: dass sie in geometrischer progression anwächst, dass aber der anteil des ichs am seelischen geschehen nur sehr viel langsamer wächst Keine der älteren sozialformen hatte eine machtausstattung, die der unseren vergleichbar war. Keine bedurfte so zwingend der vernunft, das heisst entwickelter ichleistungen bei jedermann. Dieser unterschied ist es, der eine orientierung an tradierten ordnungsformen nur recht beschränkt fruchtbar erscheinen lässt. Aus unseren Überlegungen folgern wir deshalb die notwendigkeit, einen erziehungsstil zu entwickeln, der sich schon in den frühesten entwicklungsschritten des menschen seiner `ichbedürfnisse' annimmt. Die ist der erkenntnisbeitrag, den die psychoanalyse zur lehre vom menschen geleistet hat: Wir haben mit der stärke der triebregungen und der art, wie sie ans ziel zu kommen trachten, als einer überhistorischen macht zu rechnen und deshalb die notwendigkeit sozialer zwänge, welche ein leben in der gruppe erst möglich machen, anzuerkennen. Worum es geht ist, welche art von sozialzwängen den triebzwängen entgegengestellt wird Mit dem erlebnis, in seinen ichbedürfnissen verstanden zu sein - auch wenn er sich ganz anderen gegenständen, tätigkeiten zuwendet als der vater -, erwirbt der sohn eine lebenserfahrung, mit der er immer, in jedem beruf, in jeder sozialen stellung, etwas anzufangen vermag und die ihn nicht zuletzt davor bewahren wird, einst den eigenen kindern unter allerlei rational klingenden (in wahrheit rationalisierenden) begründungen das bestreiten zu wollen, was ihm selbst nicht zuteil wurde. Erziehung zur Ichstärkung Es kann keinem zweifel unterliegen, dass die erziehung zur ichstärkung in dem gesamt von tradierten und aktuell wirksamen stereotypen unserer gesellschaft schwach, sehr schwach gesichert ist. Das wird nicht durch den kult der persönlichkeit, als höchstes glück der erdenkinder, widerlegt Der unsichtbare Vater .... Hier sei angefügt, dass wir in diesem kapitel nur eine soziale beziehung, die zwischen vater und sohn, behandeln. Sie steht beispielhaft für die anderen verhältnisse in der familiengruppe .... Wenn wir gerade die kommunikation von vater und sohn herausgegriffen haben, so hat dies seine ursache in der gesellschaftlichen sonderstellung dieser beziehung in einer paternistischen gesellschaft. An der veränderung, welche die gesellschaftlichen prozesse in diesem verhältnis erzwungen haben, kann man mit besonderer deutlichkeit ablesen, wie die paternitäre gesellschaftsordnung sich selbst in eine kritische lage manövriert hat. Aus ihr wird sie nicht mit dem gleichen festgegründeten bewusstsein einer unumstößlichen ordnungsform hervorgehen, das der hinter uns liegende äon besaß .... Je vielfältiger sich eine zivilisation entfaltet, in desto mehr situationen übernehmen andere die lehraufgabe des vaters - bis es schliesslich den lehrer als selbständigen beruf gibt. Lehrer verkörpern dabei genaugenommen aspekte des fehlenden vaters Das arbeitsbild des vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von geschichtlichen prozessen erzwungenen verlust der anschauung schlägt die wertung um. Der hymnischen verherrlichung des vaters - und des vaterlandes! - folgt in der breite ein `sozialisierter vaterhass', die `verwerfung des vaters', die entfremdung und deren seelische entsprechungen: `angst' und `aggressivität'. Die vorgefasste meinung, die paternitäre ordnungsreform sei gleichsam das unumstößliche strukturprinzip jeder gesellschaft, wird leicht dazu führen, diesen entfremdungsvorgang zwischen vätern und söhnen zu bagatellisieren. Die auffallende unzugänglichkeit vieler jugendlicher, ihre provokatorischen allüren, ihre indifferenz für alles, was den Älteren wertvoll war, ihr leiden unter einer einsamkeit, die sie in hektischem erlebnishunger zu übertönen suchen - kurz, der schwere und lange verlauf der adoleszenzkrise geht dann als psychopathologisches phänomen auf das konto der jugendlichen. Bei ihnen liegt das übel, zu dessen erklärung hauptsächlich vererbungsmythologien (der tunichtgut im stammbaum) ins feld geführt werden. Die heiklere frage, ob nicht etwa die lebensgewohnheiten der familie an diesem überraschenden ergebnis, dass gute vorbilder so bedauerliche folgen zeitigen, schuld sind, bleibt ausgeklammert. Ausgeklammert bleibt auch die logischerweise daraus folgende frage, inwieweit gesamtgesellschaftliche prozesse an der gestaltung der familiären lebensgewohnheiten mitwirken. Die affektive fixierung auf das tradierte modell einer gesellschaft, in der väter vorherrschen, vorleben, erschwert es so, die realität zu beobachten, in der von solcher sinnfälligkeit wenig geblieben ist   .... hätte als das reale erlebnis des vaters im kinde zwei spuren hinterlassen. Ein entfaltungsschema geordneten verhaltens, das wir gewissen (`über-ich') nennen, wäre angelegt, und zweitens: Ein stück bewältigungspraxis des lebens wäre vom vater auf den sohn übermittelt worden. In sozialen verhältnissen, in denen der bestand an jahreszeitlich gebundenen aufgaben gleichförmig durch die generationen hindurch weitergegeben wird, scheint diese bildende seite der erziehung kaum der beachtung wert. Sie ist dann eine art sozialer selbstverständlichkeit. Erst wenn diese bewältigungspraxis dauernden revolutionen unterliegt, wird sie zum problem. Besteht dann noch die revolutionierung der praktiken des tätigen lebens in einer fragmentierung der arbeitsleistung und in einem anwachsen `nicht-anschaulicher' sozialleistungen - wie sie zum beispiel die ganze verwaltungsarbeit darstellt -, so ist die folge davon ein defizit an anschaulichkeit. Für den heranwachsenden menschen bedeutet das ein defizit an sozialbildung. Dieser mangel - und dies wäre die these unserer überlegungen - bleibt nicht ohne rückwirkungen auf die gesamte formung und prägung der jeweiligen generation der söhne durch ihre väter weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
Siegfried Trapp
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Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (2 von 6) In sozialformen, die auf magischem denken beruhen, wird der triebanteil im verhalten traditionell ritualisiert und eingefangen. Die techniken der einübung geschehen in einem relativ gleichbleibenden bezugsrahmen. Wie verhält sich das in der technisierten, zweckrationalisierten massengesellschaft, die scharf trennt zwischen einem alltagsleben, dessen instrumentarium voraussehbar funktioniert, und einem `privatleben' emotionell bestimmter entscheidungen, die sich zwar auch in der spielbreite einer vorauserwartung bewegen sollen, für die aber die sinnorientierung schwer zu finden ist? Ihre inhalte sind weitgehend herübergenommen aus historischen traditionen der magischen orientierung Die gesamtkonzeption der herrschenden moral ist tief durchdrungen von der (weitgehend unbewusst bleibenden) absicht, bestehende gewaltprivilegien den anschein der rechtmäßigkeit zu verleihen. Von der kritischen vernunft her betrachtet, nimmt sich die moralität, wie sie getätigt wird, höchst atavistisch aus; der einzelne fragwürdige vorstoß, die schlichte gemeinheit, die einer begeht, findet ihn wohl vorbereitet, er verfügt über eine gute abwehrroutine gegen schlechtes gewissen und kann sich dabei auf die doppelmoral berufen, wie sie gang und gäbe ist .... Ein langsam historisch werdendes beispiel beispiel wird dabei nur zu leicht vergessen: der faule arbeiter. Der arbeiter muss faul und dumm sein, sonst könnte die ausbeutung gegen ihn nicht so gewissenlos, gewissensbefreit vor sich gehen. Und sekundär bleibt dem arbeiter auch kein anderer weg offen, als wirklich `faul', das heisst interesselos zu werden, weil er ausgebeutet wird Die zahl der menschen, die konstitutionell den kulturanforderungen nicht gewachsen sind, scheint ungleich geringer als die jener, die aus ihrem sozialschicksal heraus liebesunfähig wurden Das nichtsozialisierte ist dann aber .... keineswegs das `natürliche' an ihm, sondern das unter den kulturzwängen entstellte. Triebverleugnung, wie sie weitgehend in unserer moral erzwungen wird, ist auch nicht identisch mit den kulturnotwendigen triebverzichten. `Verleugnung' im sinne des `nicht sein kann, was nicht sein darf' ist ein infantiler modus des umgangs mit der welt. In den moralen, wie sie in unseren breiten gelebt werden, wird der mensch psychisch infantil gehalten, um ihm den schweren verzicht leichter abfordern zu können. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die menschheit bei dieser moral die krisen der zukunft meistern wird. Sie ist zu sehr an den zwang zur bösen tat gekettet. Wir werden also zeigen müssen, dass eine moral, die zu einem anwachsen der verantwortung im ich statt zu einem verharren unter den geboten im über-ich erzieht, vom soziogenetischen prozess der evolution gefordert ist ..... Dem skeptiker .... wird man in der tat nur eben diese hoffnung als ein prinzip entgegenhalten können. Denn hoffnung ist die psychische korrespondenz zu der biologischen offenheit der menschlichen natur Die ursprüngliche unempfindlichkeit von kindern gegenüber rassenmerkmalen ist wohlbekannt Exkurs über die Triebdynamik .... In psychologischer einschätzung erscheinen bisher die intelligenzleistungen, denen wir das kulturelle inventar verdanken, ungleich besser entwickelt, als die intelligenzleistungen, die sich auf die sozialisierung des affektiven menschen, auf die soziale erzeugung einer affekt- oder gemütsverfassung richten. Die erschreckende begegnung mit der triebnatur hat nachhaltiger als alle schrecken der welt sonst seine ichfähigkeiten gelähmt. Die abwehrleistung gegen diesen schrecken ist die einübung in gewohnheiten, welche die erziehung besorgt. Im gewohnten erlischt meist die frage. Insbesondere auch die frage nach der herkunft der gewohnheit selbst. Aber selbstverständnis aus der gewohnheit ist trügerisch, denn gewohnheit verdeckt die unlust ihres zustandekommens. Das ist ihre ökonomische ersparnis, unter umständen aber auch ihre fatale intelligenzlosigkeit Die tendenzen einer erziehung zur einsicht sind insofern dieser erziehungspraxis konträr, als sie die erweckung von schuldangst, soweit es uns möglich ist, in der führung des kindes zu meiden suchen. Die affektive zuwendung läuft nicht auf eine besitznahme des kindes hinaus, sondern auf die freilassung zu eigener initiative Um das zärtliche verhalten als beispiel zu nehmen: Wo es kulturell minder geachtet wird, unterbleibt eine form der triebbefriedigung, in der aggressive triebwünsche von libidinösen gemildert werden und eine ganz bestimmte, eben die zärtliche äusserungsform annehmen. Es entfällt damit aber ebenso die icherfahrung, die aggressive und sexuelle regungen bremsen und in einer neuen verhaltensgestalt - der zärtlichkeit - vereinen kann. Weil die erinnerungsspuren dieser leistung fehlen, kann später in situationen, die ein solches verhalten nahelegen würden, auf sie nicht zurückgegriffen werden. Je intensiver diese neigungen in der kindheit verdrängt werden mussten, je stärker die reaktionsbildung dagegen ist - zum beispiel abscheu vor weichlichkeit -, desto weniger können zärtliche gefühle später erlernt, überhaupt erlebt, geschweige denn kundgegeben werden In abwandlung des Kantischen satzes `Begriffe ohne anschauung sind leer' kann man sagen: Ein ich ohne die erfahrung der im selbst wirkenden libidinösen und aggressiven triebregungen (und ihres speziellen gehabens) wäre leer; triebimpulse schaffen erst die verbindung zur welt und lassen zugleich das ich sich selbst erfahrbar werden Man bedenke, zu welcher rücksichtslosen strenge im urteil unsere gesellschaft sexuellen perversionen gegenüber bereit ist und wieviel entschuldigungen bei politisch-ideologisch begründeten untaten größten ausmaßes geltend gemacht und akzeptiert werden Viel kollektives ritual, viele von der gesellschaft gestützte meinungs- und lebensformen sind ebenso krank, wie einzelpersonen krankhaft sein können .... Weiterer konfliktstoff zwischen eltern und ihren kindern entsteht, wenn diese mehr oder weniger eingestanden oder unbewusst gehasst werden, weil sie einen abgelehnten teil der eigenen person verkörpern und in ihrem verhalten szenisch darstellen. Also in ihrer haltung, ihrem aussehen schwächen und mängel anschaulich machen, an denen mutter oder vater selbst gelitten und für die sie sich später blind gemacht haben. Auf die unvorhergesehene wiederbegegnung in den eigenen kindern reagieren sie hassvoll. Dies ist wahrscheinlich der häufigste störfaktor. Durch ihn wird die möglichkeit einer positiven identifizierung mit dem eigenen kinde eingeschränkt; das kind widerspricht dem ichideal, das man in sich selbst als reaktionsbildung gegen die eigene schwäche errichtet hatte In vorwiegend bäuerlichen kulturen sind kinder kapital, natürliche, billige hilfskräfte, eine sicherung für das alter; in der modernen industriegesellschaft verzehrt ihre immer länger dauernde ausbildung kapital, die alterssicherung ist weitgehend auf institutionen übergegangen; jede generation muss die sicherung für sich selbst schaffen Ich und Ichideal .... Der vater, der den kindern zurückhaltung und bescheidenheit predigt, um dann bei tisch sich als erster das beste stück zu nehmen, übermittelt beides: die norm und den trick, wie man sie umgeht. Das erklärt die haltbarkeit gerade der identifizierungen mit den (von der gesellschaftlichen norm aus beurteilt) `negativen' zügen eines vorbildes Ein mensch, der sich mit `leidenschaft' oder dauerndem interesse auch an schwierigen aufgaben versucht und der zugleich die realität angemessen einzuschätzen lernt, kann lust aus diesen tätigkeiten gewinnen - und zwar ausgesprochene `ich-lust'. Er wird die momentane unlust aus dem es, die nicht zu vermeiden ist, wo befriedigungsaufschub verlangt wird, besser hinnehmen. Ein gutes gegenbeispiel sind die lernschwierigkeiten vieler kinder. Der drohende verlust des gruppenkontaktes ist ein erschreckendes erlebnis und löst panische angst und jede erdenkliche anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden - nur nicht die zu einer besonnenen kontrolle der lage .... Die mittelalterliche strafe der ächtung zeigt, dass die gefahr, die dem individuum bei verlust der gruppenzugehörigkeit droht, tod heisst. Und das wissen selbstverständlich diejenigen, die die große menge zu manipulieren verstehen, genau Die statische sozialstruktur, die fatalistisch hingenommen werden musste, fand eine dynamische gegentendenz, die dem einzelnen einen relativ großen bewegungsspielraum zwischen leistungsrollen eröffnet hat. Damit wird aber die ichidealbildung nicht einfacher. Nicht nur hat jeder den marschallstab im tornister, was heute heisst, er hat die chance, auf allen möglichen ebenen des establishment - etablierter sozialer machtgruppen - mitspielen zu können; es fällt ihm zugleich auch die möglichkeit, scheitern zu können, in reicher vielfalt zu. In diesen fällen des misslingens, des zurückbleibens hinter idealentwürfen des erfolges, verfestigt sich die regressive, realitätsabgewandte neigung jeder ichidealbildung. Dem phantastisch aus der wirklichkeit entfernten ideal entspricht im verhalten regelhaft das ressentiment, das noch einmal verhindert, erreichbares zu erreichen. Da dieser fehlzirkel ein wichtiges ingrediens neurotischer charakterentwicklung ist - das ideal, das im dienste passiv phantasierter ersatzbefriedigung steht, statt als vorentwurf aktiver , realitätsgerechter `selbstverwirklichung' mit all ihren enttäuschungen zu wirken .... Zwei entwicklungslinien sind durch die verfolgbare geschichte der menschheit hindurch als konstanten erkennbar: dass sie in geometrischer progression anwächst, dass aber der anteil des ichs am seelischen geschehen nur sehr viel langsamer wächst Keine der älteren sozialformen hatte eine machtausstattung, die der unseren vergleichbar war. Keine bedurfte so zwingend der vernunft, das heisst entwickelter ichleistungen bei jedermann. Dieser unterschied ist es, der eine orientierung an tradierten ordnungsformen nur recht beschränkt fruchtbar erscheinen lässt. Aus unseren Überlegungen folgern wir deshalb die notwendigkeit, einen erziehungsstil zu entwickeln, der sich schon in den frühesten entwicklungsschritten des menschen seiner `ichbedürfnisse' annimmt. Die ist der erkenntnisbeitrag, den die psychoanalyse zur lehre vom menschen geleistet hat: Wir haben mit der stärke der triebregungen und der art, wie sie ans ziel zu kommen trachten, als einer überhistorischen macht zu rechnen und deshalb die notwendigkeit sozialer zwänge, welche ein leben in der gruppe erst möglich machen, anzuerkennen. Worum es geht ist, welche art von sozialzwängen den triebzwängen entgegengestellt wird Mit dem erlebnis, in seinen ichbedürfnissen verstanden zu sein - auch wenn er sich ganz anderen gegenständen, tätigkeiten zuwendet als der vater -, erwirbt der sohn eine lebenserfahrung, mit der er immer, in jedem beruf, in jeder sozialen stellung, etwas anzufangen vermag und die ihn nicht zuletzt davor bewahren wird, einst den eigenen kindern unter allerlei rational klingenden (in wahrheit rationalisierenden) begründungen das bestreiten zu wollen, was ihm selbst nicht zuteil wurde. Erziehung zur Ichstärkung Es kann keinem zweifel unterliegen, dass die erziehung zur ichstärkung in dem gesamt von tradierten und aktuell wirksamen stereotypen unserer gesellschaft schwach, sehr schwach gesichert ist. Das wird nicht durch den kult der persönlichkeit, als höchstes glück der erdenkinder, widerlegt Der unsichtbare Vater .... Hier sei angefügt, dass wir in diesem kapitel nur eine soziale beziehung, die zwischen vater und sohn, behandeln. Sie steht beispielhaft für die anderen verhältnisse in der familiengruppe .... Wenn wir gerade die kommunikation von vater und sohn herausgegriffen haben, so hat dies seine ursache in der gesellschaftlichen sonderstellung dieser beziehung in einer paternistischen gesellschaft. An der veränderung, welche die gesellschaftlichen prozesse in diesem verhältnis erzwungen haben, kann man mit besonderer deutlichkeit ablesen, wie die paternitäre gesellschaftsordnung sich selbst in eine kritische lage manövriert hat. Aus ihr wird sie nicht mit dem gleichen festgegründeten bewusstsein einer unumstößlichen ordnungsform hervorgehen, das der hinter uns liegende äon besaß .... Je vielfältiger sich eine zivilisation entfaltet, in desto mehr situationen übernehmen andere die lehraufgabe des vaters - bis es schliesslich den lehrer als selbständigen beruf gibt. Lehrer verkörpern dabei genaugenommen aspekte des fehlenden vaters Das arbeitsbild des vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von geschichtlichen prozessen erzwungenen verlust der anschauung schlägt die wertung um. Der hymnischen verherrlichung des vaters - und des vaterlandes! - folgt in der breite ein `sozialisierter vaterhass', die `verwerfung des vaters', die entfremdung und deren seelische entsprechungen: `angst' und `aggressivität'. Die vorgefasste meinung, die paternitäre ordnungsreform sei gleichsam das unumstößliche strukturprinzip jeder gesellschaft, wird leicht dazu führen, diesen entfremdungsvorgang zwischen vätern und söhnen zu bagatellisieren. Die auffallende unzugänglichkeit vieler jugendlicher, ihre provokatorischen allüren, ihre indifferenz für alles, was den Älteren wertvoll war, ihr leiden unter einer einsamkeit, die sie in hektischem erlebnishunger zu übertönen suchen - kurz, der schwere und lange verlauf der adoleszenzkrise geht dann als psychopathologisches phänomen auf das konto der jugendlichen. Bei ihnen liegt das übel, zu dessen erklärung hauptsächlich vererbungsmythologien (der tunichtgut im stammbaum) ins feld geführt werden. Die heiklere frage, ob nicht etwa die lebensgewohnheiten der familie an diesem überraschenden ergebnis, dass gute vorbilder so bedauerliche folgen zeitigen, schuld sind, bleibt ausgeklammert. Ausgeklammert bleibt auch die logischerweise daraus folgende frage, inwieweit gesamtgesellschaftliche prozesse an der gestaltung der familiären lebensgewohnheiten mitwirken. Die affektive fixierung auf das tradierte modell einer gesellschaft, in der väter vorherrschen, vorleben, erschwert es so, die realität zu beobachten, in der von solcher sinnfälligkeit wenig geblieben ist   .... hätte als das reale erlebnis des vaters im kinde zwei spuren hinterlassen. Ein entfaltungsschema geordneten verhaltens, das wir gewissen (`über-ich') nennen, wäre angelegt, und zweitens: Ein stück bewältigungspraxis des lebens wäre vom vater auf den sohn übermittelt worden. In sozialen verhältnissen, in denen der bestand an jahreszeitlich gebundenen aufgaben gleichförmig durch die generationen hindurch weitergegeben wird, scheint diese bildende seite der erziehung kaum der beachtung wert. Sie ist dann eine art sozialer selbstverständlichkeit. Erst wenn diese bewältigungspraxis dauernden revolutionen unterliegt, wird sie zum problem. Besteht dann noch die revolutionierung der praktiken des tätigen lebens in einer fragmentierung der arbeitsleistung und in einem anwachsen `nicht-anschaulicher' sozialleistungen - wie sie zum beispiel die ganze verwaltungsarbeit darstellt -, so ist die folge davon ein defizit an anschaulichkeit. Für den heranwachsenden menschen bedeutet das ein defizit an sozialbildung. Dieser mangel - und dies wäre die these unserer überlegungen - bleibt nicht ohne rückwirkungen auf die gesamte formung und prägung der jeweiligen generation der söhne durch ihre väter         weiterlesen Alexander Mitscherlich, `Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft', (1963), R. Piper, München (1996)   
 
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