24:00 Mich beschleicht der Verdacht, mich einer furchtbar schrecklich kleinbürgerlich-blasierten Gesellschaft angeschlossen zu haben. Das „Handling“ der Kleinkapitalien, die Kleinbürgerlichkeit anderer Leute, das Entfliehen aus der von der Umwelt errichteteten und selbst erbauten Enge der Persönlichkeit, der aus Angst und Unsicherheit entstandenen Enge, das dahinschwindende Leben, die aus lebenstechnischen Gründen erstickten Ideale, was ist der Sinn des Lebens, auf was habe ich ihn reduziert, welche Entbehrungen haben welche tiefen Wunden geschlagen oder welche tiefen Narben hinterlassen. Ich bin froh, dass ich ein Bett habe, aber nach einigem Überlegen nicht froh, dass ich allein bin. Ich kenne aber niemanden, den ich jetzt gern bei mir hätte; eine lange Zeit fruchtbaren Verstehens müsste vorausgegangen sein. Der morgige Tag wird nicht besser sein. Am Strand zwischen Esmeraldas und Atacames, Mittwoch, 26.12.1984, 16:00 Die Flut bringt das Meer wieder näher, der Himmel ist überwiegend bedeckt, ab und an zieht eine Formation Pelikane vorüber. Das Müde- oder Nichtmüdesein, Hunger- oder Nichthungerhaben sind die einzigen Dinge, die ich recht und schlecht bewältige. Ansonsten bin ich gelähmt, vielleicht zu wenig angeregt durch die mich umgebende Gesellschaft. Ehepartner mit Kindern haben, üblicher Zuschnitt oder nicht, andere Probleme als alleinstehende Anfangsdreissiger. Auch lähmen mich wirre Träume, u.a. von Ca.. Der Fluch des Alleinseins; ich wäre, anders als früher, zu jedem Momentanabenteuer und One-night-stand bereit. Mein Zimmer hier hat zwei Betten, und auf dem anderen liegt nur mein Koffer. Atacames, Hosteria „La Pradera“, Donnerstag, 27.12.1984, 10:30 Ich will hoffen, dass der Gipfel an Entschluss- und Kraftlosigkeit, die mich seit geschlagenen zwei Wochen plagt, überschritten ist. Wir haben den Aufenthalt hier um einen Tag verlängert, hauptsächlich, weil es Spaß macht mit der Bandung des Pazifik zu kämpfen. Ich muss in nächster Zeit daran gehen, das Elementarbedürfnis, einen wohlgeformten weiblichen Körper zu fühlen, zu befriedigen. Quito, F. Andrade Marin, Freitag, 28.12.1984, 20:00 In der Wohnung nebenan heult wieder mal die Frau des jungen Ehepaares, sehr sympathisch beide, er unterrichtet an der amerikanischen Schule. „You don´t love me“ und „Nobody told you to do that“. Die Quereleien des Ehepaars Se. während der Fahrt, die unsäglichen Kompromisse. Schon lange habe ich keine Partnerschaft mehr gesehen, die mir gefiel. Ein Trost im Alleinsein. Samstag, 29.12.1984, 9:30 Ich muss einkaufen, sollte wegen der Post kurz in der Schule vorbeischauen, auch ein paar Kleinigkeiten am Santa-Clara-Markt und in der Avenida Amazonas kaufen: Es ist zum Kotzen, dass ich kein Auto habe. Mit Auto dauert das eine Stunde, ohne vier. Da vergeht mir die die Lust schon von vorneherein. Sonntag, 30.12.1984, 17:30 Ich weiß nicht weshalb, aber wenn ich Led Zeppelin höre, rührt mich etwas an, möchte ich zu trinken anfangen, froh-melancholisch, wissend um Leben und Menschen. Einen Amaretto werde ich mir genehmigen. Dienstag, 1.1.1985, 3:00 Alone again. Zwei (verheirate) Frauen beim Silvesterball der Casa Humboldt. Unsicherheit und Faszination auf beiden Seiten. Ein oder mehrere enge Tänze, fühlende. Dann der Rückgriff auf die Sicherheit, wenn die Männer gehen. In den letzten beiden Jahren war es bei Ca. genauso. Eine halbe Katastrophe für mich, dass ich schon wieder allein schlafe. 12:00 Keine Ahnung, ob die voranstehenden Vermutungen stimmen, ich war einfach besoffen; drei Tage hatte ich fast nichts gegessen. Beim Walzer mit der Bä. P. ist mir gefährlich schwindlig geworden, und ein peinlicher Sturz in die Menge, die uns umstand, stand kurz bevor. 22:00 Wie immer, wenn der Kater vorüber ist, tritt innere Ruhe ein, und ein Verlangen nach Zärtlichkeit und sanfter körperlicher Liebe. Zum Abendessen war ich im „Bavaria“: Es ist dort anders, als ich dachte, und die erhoffte Geselligkeit kam nicht zustande. Auf dem Rückweg: 11 °C und ein in Nebelschleier gehülltes Quito; in der Av. Colon flüchteten ein paar Straßennutten panisch vor der Polizei. Ansonsten wirkt die Stadt: tot.
Siegfried Trapp
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24:00 Mich beschleicht der Verdacht, mich einer furchtbar schrecklich kleinbürgerlich-blasierten Gesellschaft angeschlossen zu haben. Das „Handling“ der Kleinkapitalien, die Kleinbürgerlichkeit anderer Leute, das Entfliehen aus der von der Umwelt errichteteten und selbst erbauten Enge der Persönlichkeit, der aus Angst und Unsicherheit entstandenen Enge, das dahinschwindende Leben, die aus lebenstechnischen Gründen erstickten Ideale, was ist der Sinn des Lebens, auf was habe ich ihn reduziert, welche Entbehrungen haben welche tiefen Wunden geschlagen oder welche tiefen Narben hinterlassen. Ich bin froh, dass ich ein Bett habe, aber nach einigem Überlegen nicht froh, dass ich allein bin. Ich kenne aber niemanden, den ich jetzt gern bei mir hätte; eine lange Zeit fruchtbaren Verstehens müsste vorausgegangen sein. Der morgige Tag wird nicht besser sein. Am Strand zwischen Esmeraldas und Atacames, Mittwoch, 26.12.1984, 16:00 Die Flut bringt das Meer wieder näher, der Himmel ist überwiegend bedeckt, ab und an zieht eine Formation Pelikane vorüber. Das Müde- oder Nichtmüdesein, Hunger- oder Nichthungerhaben sind die einzigen Dinge, die ich recht und schlecht bewältige. Ansonsten bin ich gelähmt, vielleicht zu wenig angeregt durch die mich umgebende Gesellschaft. Ehepartner mit Kindern haben, üblicher Zuschnitt oder nicht, andere Probleme als alleinstehende Anfangsdreissiger. Auch lähmen mich wirre Träume, u.a. von Ca.. Der Fluch des Alleinseins; ich wäre, anders als früher, zu jedem Momentanabenteuer und One-night- stand bereit. Mein Zimmer hier hat zwei Betten, und auf dem anderen liegt nur mein Koffer. Atacames, Hosteria „La Pradera“, Donnerstag, 27.12.1984, 10:30 Ich will hoffen, dass der Gipfel an Entschluss- und Kraftlosigkeit, die mich seit geschlagenen zwei Wochen plagt, überschritten ist. Wir haben den Aufenthalt hier um einen Tag verlängert, hauptsächlich, weil es Spaß macht mit der Bandung des Pazifik zu kämpfen. Ich muss in nächster Zeit daran gehen, das Elementarbedürfnis, einen wohlgeformten weiblichen Körper zu fühlen, zu befriedigen. Quito, F. Andrade Marin, Freitag, 28.12.1984, 20:00 In der Wohnung nebenan heult wieder mal die Frau des jungen Ehepaares, sehr sympathisch beide, er unterrichtet an der amerikanischen Schule. „You don´t love me“ und „Nobody told you to do that“. Die Quereleien des Ehepaars Se. während der Fahrt, die unsäglichen Kompromisse. Schon lange habe ich keine Partnerschaft mehr gesehen, die mir gefiel. Ein Trost im Alleinsein. Samstag, 29.12.1984, 9:30 Ich muss einkaufen, sollte wegen der Post kurz in der Schule vorbeischauen, auch ein paar Kleinigkeiten am Santa- Clara-Markt und in der Avenida Amazonas kaufen: Es ist zum Kotzen, dass ich kein Auto habe. Mit Auto dauert das eine Stunde, ohne vier. Da vergeht mir die die Lust schon von vorneherein. Sonntag, 30.12.1984, 17:30 Ich weiß nicht weshalb, aber wenn ich Led Zeppelin höre, rührt mich etwas an, möchte ich zu trinken anfangen, froh- melancholisch, wissend um Leben und Menschen. Einen Amaretto werde ich mir genehmigen. Dienstag, 1.1.1985, 3:00 Alone again. Zwei (verheirate) Frauen beim Silvesterball der Casa Humboldt. Unsicherheit und Faszination auf beiden Seiten. Ein oder mehrere enge Tänze, fühlende. Dann der Rückgriff auf die Sicherheit, wenn die Männer gehen. In den letzten beiden Jahren war es bei Ca. genauso. Eine halbe Katastrophe für mich, dass ich schon wieder allein schlafe. 12:00 Keine Ahnung, ob die voranstehenden Vermutungen stimmen, ich war einfach besoffen; drei Tage hatte ich fast nichts gegessen. Beim Walzer mit der Bä. P. ist mir gefährlich schwindlig geworden, und ein peinlicher Sturz in die Menge, die uns umstand, stand kurz bevor. 22:00 Wie immer, wenn der Kater vorüber ist, tritt innere Ruhe ein, und ein Verlangen nach Zärtlichkeit und sanfter körperlicher Liebe. Zum Abendessen war ich im „Bavaria“: Es ist dort anders, als ich dachte, und die erhoffte Geselligkeit kam nicht zustande. Auf dem Rückweg: 11 °C und ein in Nebelschleier gehülltes Quito; in der Av. Colon flüchteten ein paar Straßennutten panisch vor der Polizei. Ansonsten wirkt die Stadt: tot.
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