Donnerstag, 4.10.1984, 18:30 Auf dem Flachdach meines Hauses wohnt in einer winzigen Kammer ein alter Mann: Der „Empleado“, der alle möglichen Dienste im Haus verrichtet. Zerlumpt und barfüßig, in der empfindlichen Nachtkühle steht er auf dem Zementboden der Dachterrasse, und sieht auf die Stadt hinab. Werden die Verdammten einmal die Erde erben? Vierzig „Paquetas“ Holz habe ich gestern einer Indiofamilie abgekauft. Selbst der etwa zwölfjährige Sohn musste die schweren Holzpakete hochschleppen. Zuerst wollte ich, als sie an der Tür klingelten, gar kein Brennholz kaufen, aber jetzt bin ich froh, dass ich es habe. Ruhig strahlte das Gesicht des Vaters, als ich „buen“ sagte. In der Schule läuft es sehr gut, und alle helfen mir. Ich bin immer wieder auf´s Neue erstaunt, wie viel Tatkraft, Initiative, Selbstständigkeit ich hier entwickele. Eine tüchtige Portion Glück stand mir bisher auch immer bei. Ich kann gelassen vor jedem Hindernis stehen, es tut sich jedes Mal unvermittelt eine Tür auf. Der Unterricht in den ecuadorianischen Klassen ist für mich nicht anstrengender als in den deutschen; es lässt sich allerdings dort nur etwa  1/3 bis 1/4 des Stoffs im Vergleich zu den deutschen Klassen bewältigen. Auch finanziell tun sich Türen auf: Die Hotelkosten wurden komplett von der Schule übernommen. Fo. (er bemüht sich wirklich) hat auch DM 1000.- Einrichtungsbeihilfe herausgeholt. Noch ein Hoffnungsfunken: Die Be. A. hat mich bezüglich Deutschland-Fahrten von Klassen angesprochen. Vielleicht komme ich  als Reisebegleiter in den Sommerferien kostenlos nach Deutschland. Aus der Schulbibliothek habe ich mir Bölls „Ansichten eines Clowns“ ausgeliehen. Parallelen zu Ba. und mir. Die fehlende Frau ist mein Hauptproblem. Fast hätte ich einen Brief abgeschickt, in dem ich Bn. bat, sich aus Südafrika loszueisen versuchen und herzukommen. Die Post hat bis heute gestreikt. Ich werde diesen Brief nicht abschicken. Aber hoffentlich kann sie an Weihnachten kommen. Oder soll ich nach Südafrika? 19:00 Eben habe ich zum ersten Mal ein Feuer im offenen Kamin entzündet: „Manchmal, da fallen mir Bilder ein …. von Feuern in offenen Kaminen, von Betten mit Baldachinen“. Es sieht traumhaft aus. Man könnte die Wohnung gemeinsam wunderschön einrichten, man könnte hier zu zweit ein paar wundervolle Jahre verbringen. In der leeren Wohnung: Laut hallt das Knacken der Holzscheite im Feuer. Leer. Freitag, 5.10.1984, 18:30 Die erste Schulwoche ist vorüber. 22 von meinen 23 Stunden habe ich gehalten. Es ist sehr gut gegangen; die Schüler sind fragend-dozierenden Unterricht gewohnt, der im Moment, wo die Fachräume noch nicht genutzt werden können und ich keine guten Materialien zur Unterrichtsvorbereitung habe, unerlässlich ist. Hauptproblem ist die Chemie in der VA; dort fehlen so viele Kenntnisse, und das nicht nur bezüglich der deutschen Fachbegriffe; ich kann nicht, auch nicht nur auszugsweise, den Stoff der Klassen 9 und 10 noch zusätzlich einflechten. Heute hatte ich 6 Stunden Unterricht, Pausenaufsicht in der ersten und eine Besprechung wegen der 6DK in der zweiten großen Pause. Dass ich nachmittags noch einkaufen muss, schwere Taschen über einen Kilometer trage, mich um Abspülen, Waschen, Essen bereiten, Schuhe putzen (bei den staubigen Straßen Quitos jeden Tag vonnöten), das macht alles so anstrengend. Schon mit einem Auto wäre manches viel einfacher. Und dass abends niemand in der Wohnung ist, wenn ich reinkomme. Auch meine Gitarre vermisse ich. Sonntag, 14.10.1984, 23:30 Es ist nicht nötig, dass ich hier allein lebe. Sehr gut könnte man Schönes hier erleben. Ich kann´s allein, aber zu zweien wär´s besser. Ich bin mit der Unterrichtsvorbereitung fertig, ich hab´s in den bisherigen zwei Wochen immer im Griff gehabt, auch mit zeitweiliger Erkältung und leichtem Fieber. Ich habe endlich gelernt, die Arbeit in den Griff zu kriegen. Zeit für anderes, Andere zu haben. Gemeinsam Musik zu hören, während der Nebel über Quito zieht, Hochhäuser und Pichincha im Dunst verschwinden, während das Feuer im Kamin noch schwach aufleuchtet. Frisch gepresster Orangensaft mit Wodka. Land und Leute zusammen erkunden. Verstehen lernen. Aber auch das Gefühl, das Leben meistern zu können. Und das Gefühl: „Give me a ticket for an aeroplane, ain´t no time to get a fast train, for my baby, she wrote me a letter.” Mittwoch, 17.10.1984, 20:00 Die Musikkassette, die bei meinem Abschiedsfest in der Scheune des SV Lautern lief, läuft auch jetzt gerade. Uriah Heep, „The Park“.                   Auch beim Wahrnehmen der Deutschlandkarten, die in einigen Klassenzimmern hängen, kommt immer für ein paar Sekunden Wehmut auf. Einen Monat ist seither vergangen, seit ich von der „Heimat“ weg bin. Die Zeit vergeht schnell. Mucho trabajo im Moment, da Biologie- und Chemiesammlung geordnet und eingeräumt werden müssen. Viel Arbeit, sicher noch einige Wochen. Dann gebe ich Nachhilfeunterricht in Deutsch, vier Stunden die Woche. Ob sich das lohnt, wegen der DM 240,- mehr im Monat? Wahrscheinlich hat es sich aber deshalb gelohnt, weil die sehr zuvorkommenden Eltern der Jungs mir Möbel und Geschirr für die zwei Jahre in Ecuador zur Verfügung gestellt haben! Man kann durchaus positive Überraschungen hier erleben. Seltsamerweise vermisse ich inzwischen eine Frau weniger, als ich dachte.  Obschon es natürlich nicht schlecht wäre. Sonntag, 28.10.1984, 21:30 Eine recht gute Woche liegt hinter mir. Positive Perspektiven vor mir. Fünf und eine halbe Woche bin ich jetzt hier, und ich habe mich gut eingelebt. Kein Vergleich zur Internatstätigkeit in Burg Nordeck; ich kann´s also doch.  Es geht hier nicht im geringsten, wie dort, an die Substanz. Vielleicht spielte dort auch das Drama mit Ca. eine ausschlaggebende Rolle, neben der Landschulheimeinsamkeit und dem dortigen Schulleiter. Ich bin ein Spätentwickler. Ich brauche für für mich grundlegende Erkenntnisse oft sehr lange. Für das Erkennen meiner persönlichen Wahrheit. Bisher konnte ich hier das Leben gut meistern. Ich bin ganz einfach stolz darauf. Vielleicht geht es so weiter. Ich wünsche mir das beste für die Eltern, für So. und Ro.. Auch für Bn. und für ………. “Denn eigentlich ging keiner fort, in einer Geste, einem Wort, in irgendeiner Redensart, lebt ihr in meiner Gegenwart.“
Siegfried Trapp
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Donnerstag, 4.10.1984, 18:30 Auf dem Flachdach meines Hauses wohnt in einer winzigen Kammer ein alter Mann: Der „Empleado“, der alle möglichen Dienste im Haus verrichtet. Zerlumpt und barfüßig, in der empfindlichen Nachtkühle steht er auf dem Zementboden der Dachterrasse, und sieht auf die Stadt hinab. Werden die Verdammten einmal die Erde erben? Vierzig „Paquetas“ Holz habe ich gestern einer Indiofamilie abgekauft. Selbst der etwa zwölfjährige Sohn musste die schweren Holzpakete hochschleppen. Zuerst wollte ich, als sie an der Tür klingelten, gar kein Brennholz kaufen, aber jetzt bin ich froh, dass ich es habe. Ruhig strahlte das Gesicht des Vaters, als ich „buen“ sagte. In der Schule läuft es sehr gut, und alle helfen mir. Ich bin immer wieder auf´s Neue erstaunt, wie viel Tatkraft, Initiative, Selbstständigkeit ich hier entwickele. Eine tüchtige Portion Glück stand mir bisher auch immer bei. Ich kann gelassen vor jedem Hindernis stehen, es tut sich jedes Mal unvermittelt eine Tür auf. Der Unterricht in den ecuadorianischen Klassen ist für mich nicht anstrengender als in den deutschen; es lässt sich allerdings dort nur etwa  1/3 bis 1/4 des Stoffs im Vergleich zu den deutschen Klassen bewältigen. Auch finanziell tun sich Türen auf: Die Hotelkosten wurden komplett von der Schule übernommen. Fo. (er bemüht sich wirklich) hat auch DM 1000.- Einrichtungsbeihilfe herausgeholt. Noch ein Hoffnungsfunken: Die Be. A. hat mich bezüglich Deutschland- Fahrten von Klassen angesprochen. Vielleicht komme ich  als Reisebegleiter in den Sommerferien kostenlos nach Deutschland. Aus der Schulbibliothek habe ich mir Bölls „Ansichten eines Clowns“ ausgeliehen. Parallelen zu Ba. und mir. Die fehlende Frau ist mein Hauptproblem. Fast hätte ich einen Brief abgeschickt, in dem ich Bn. bat, sich aus Südafrika loszueisen versuchen und herzukommen. Die Post hat bis heute gestreikt. Ich werde diesen Brief nicht abschicken. Aber hoffentlich kann sie an Weihnachten kommen. Oder soll ich nach Südafrika? 19:00 Eben habe ich zum ersten Mal ein Feuer im offenen Kamin entzündet: Manchmal, da fallen mir Bilder ein …. von Feuern in offenen Kaminen, von Betten mit Baldachinen“. Es sieht traumhaft aus. Man könnte die Wohnung gemeinsam wunderschön einrichten, man könnte hier zu zweit ein paar wundervolle Jahre verbringen. In der leeren Wohnung: Laut hallt das Knacken der Holzscheite im Feuer. Leer. Freitag, 5.10.1984, 18:30 Die erste Schulwoche ist vorüber. 22 von meinen 23 Stunden habe ich gehalten. Es ist sehr gut gegangen; die Schüler sind fragend-dozierenden Unterricht gewohnt, der im Moment, wo die Fachräume noch nicht genutzt werden können und ich keine guten Materialien zur Unterrichtsvorbereitung habe, unerlässlich ist. Hauptproblem ist die Chemie in der VA; dort fehlen so viele Kenntnisse, und das nicht nur bezüglich der deutschen Fachbegriffe; ich kann nicht, auch nicht nur auszugsweise, den Stoff der Klassen 9 und 10 noch zusätzlich einflechten. Heute hatte ich 6 Stunden Unterricht, Pausenaufsicht in der ersten und eine Besprechung wegen der 6DK in der zweiten großen Pause. Dass ich nachmittags noch einkaufen muss, schwere Taschen über einen Kilometer trage, mich um Abspülen, Waschen, Essen bereiten, Schuhe putzen (bei den staubigen Straßen Quitos jeden Tag vonnöten), das macht alles so anstrengend. Schon mit einem Auto wäre manches viel einfacher. Und dass abends niemand in der Wohnung ist, wenn ich reinkomme. Auch meine Gitarre vermisse ich. Sonntag, 14.10.1984, 23:30 Es ist nicht nötig, dass ich hier allein lebe. Sehr gut könnte man Schönes hier erleben. Ich kann´s allein, aber zu zweien wär´s besser. Ich bin mit der Unterrichtsvorbereitung fertig, ich hab´s in den bisherigen zwei Wochen immer im Griff gehabt, auch mit zeitweiliger Erkältung und leichtem Fieber. Ich habe endlich gelernt, die Arbeit in den Griff zu kriegen. Zeit für anderes, Andere zu haben. Gemeinsam Musik zu hören, während der Nebel über Quito zieht, Hochhäuser und Pichincha im Dunst verschwinden, während das Feuer im Kamin noch schwach aufleuchtet. Frisch gepresster Orangensaft mit Wodka. Land und Leute zusammen erkunden. Verstehen lernen. Aber auch das Gefühl, das Leben meistern zu können. Und das Gefühl: „Give me a ticket for an aeroplane, ain´t no time to get a fast train, for my baby, she wrote me a letter.” Mittwoch, 17.10.1984, 20:00 Die Musikkassette, die bei meinem Abschiedsfest in der Scheune des SV Lautern lief, läuft auch jetzt gerade. Uriah Heep, „The Park“.   Auch beim Wahrnehmen der Deutschlandkarten, die in einigen Klassenzimmern hängen, kommt immer für ein paar Sekunden Wehmut auf. Einen Monat ist seither vergangen, seit ich von der „Heimat“ weg bin. Die Zeit vergeht schnell. Mucho trabajo im Moment, da Biologie- und Chemiesammlung geordnet und eingeräumt werden müssen. Viel Arbeit, sicher noch einige Wochen. Dann gebe ich Nachhilfeunterricht in Deutsch, vier Stunden die Woche. Ob sich das lohnt, wegen der DM 240,- mehr im Monat? Wahrscheinlich hat es sich aber deshalb gelohnt, weil die sehr zuvorkommenden Eltern der Jungs mir Möbel und Geschirr für die zwei Jahre in Ecuador zur Verfügung gestellt haben! Man kann durchaus positive Überraschungen hier erleben. Seltsamerweise vermisse ich inzwischen eine Frau weniger, als ich dachte.  Obschon es natürlich nicht schlecht wäre. Sonntag, 28.10.1984, 21:30 Eine recht gute Woche liegt hinter mir. Positive Perspektiven vor mir. Fünf und eine halbe Woche bin ich jetzt hier, und ich habe mich gut eingelebt. Kein Vergleich zur Internatstätigkeit in Burg Nordeck; ich kann´s also doch.  Es geht hier nicht im geringsten, wie dort, an die Substanz. Vielleicht spielte dort auch das Drama mit Ca. eine ausschlaggebende Rolle, neben der Landschulheimeinsamkeit und dem dortigen Schulleiter. Ich bin ein Spätentwickler. Ich brauche für für mich grundlegende Erkenntnisse oft sehr lange. Für das Erkennen meiner persönlichen Wahrheit. Bisher konnte ich hier das Leben gut meistern. Ich bin ganz einfach stolz darauf. Vielleicht geht es so weiter. Ich wünsche mir das beste für die Eltern, für So. und Ro.. Auch für Bn. und für ………. “Denn eigentlich ging keiner fort, in einer Geste, einem Wort, in irgendeiner Redensart, lebt ihr in meiner Gegenwart.“
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