Dienstag, 29.1.1985, 18:00
Ein aktuelleres Ereignis muss die Rio Napo-Berichterstattung unterbrechen: Gestern Abend
wurde ein bewaffneter Raubüberfall auf mich verübt.
In den vergangenen Wochen war die Regenzeit eingekehrt, und, wie stets bei mir bei
Abkühlungen und Wetterverschlechterungen, durchwanderten Körper und Seele ein kleines
Tal.
Der Montag war ein arbeitsreicher Tag.
Nachmittags Nachhilfe für Christian L., Unterricht mit der IV B, Nachhilfe bei den Vi.´s. Um
20 Uhr war ich zu Hause.
Seit drei Tagen plagten mich „Pulgas“, Flöhe, die offensichtlich bereits die ganze Wohnung
belegt hatten: Als ich auf dem Teppich lag und darauf klopfte, sprangen in den spät
nachmittäglichen Sonnenstrahlen Heerscharen davon in die Höhe. Eine Großbekämpfung
tat not, ich besorgte mir in der Tienda an der Ecke eine Flitspritze und setzte die ganze
Wohnung unter Insektizidnebel der BAYER AG. Da diese Art Nebel nun mal auch der
menschlichen Natur nicht unbedingt bekömmlich ist und darüber hinaus mal wieder kein
Wasser zum Duschen floss, ich folglich noch mal mit den Flöhen zu schlafen gehabt hätte,
zog ich gegen 21:30 aus. Mit Schultasche sowie einer weiteren Umhängetasche mit der
neuesten, weil unverflohten Bekleidung versehen, machte ich mich auf den Weg zu K., über
einsame Straßen und feuchte Wege.
Ich hatte, an ihrem Hochhaus angekommen, gerade die Klingel gedrückt und wartete auf
Antwort aus der Sprechanlage, als plötzlich von hinten an meiner Tasche gezerrt wurde.
Aus dem Halbdunkel sprach mich ein Mann von höchstens 25 Jahren an, mit zittriger
Stimme und aufgerissenen Augen, sichtlich hochgradig erregt. Einen Moment lang
vermutete ich einen Betrunkenen, dann erkannte ich den Revolver in seiner Hand. Ein
zweiter Mann stand schräg etwa zwei Meter hinter ihm, mit einem Revolver in beiden
ausgestreckten Armen auf mich zielend. Als sie mir Schul- und Umhängetasche abnahmen,
begann die Sprechanlage zu quaken. K. hatte schon geschlafen und hörte noch mit, wie ich
den beiden klarzumachen versuchte, dass sie nur Bücher bekämen und alles sinnlos wäre:
„Son solo libros para escuela“ und „Necesito los libros“ und „Ponga a la esquina“.
Als K. unten war, waren die beiden nicht mehr zu sehen, als ich ihnen um die Ecke
nachging. In den folgenden eineinhalb Stunden versuchten wir irgendeine Spur von ihnen
zu finden. Ein junger Mann mit heraushängendem Hemd ging zweimal vom Nachbarhaus
zum Hochhaus, Angst ausströmend und einen großen Bogen um mich machend. Eine
kleine Bude eines Plattenlegerbetriebes, in die verdächtige Personen hineinschlichen, ein
französisches Fahrzeug mit getönten Scheiben davor, welches Blinkzeichen gab. Eine weiße
Madza-Camioneta mit vier Personen, die langsam die Straße abfuhr, vor dem Hochhaus in
merkwürdiger Weise zwischen Laterne und Mauer auf den Gehsteig fuhr und dessen
Insassen mich beobachteten. Als ich auf 20 Meter an sie herangekommen war, fuhren sie
schnell weg. Mit K.s BMW fuhren wir die Gegend ab, ich schaute in einem Lokal, vor dem
eine weiße Madza-Camioneta stand, ob mir die Gesichter bekannt vorkamen. Doch da
wusste ich schon, dass es praktisch aussichtslos war, die Räuber wiederzuerkennen.
Inzwischen denke ich, dass es kolumbianische Banditen waren, die vom heutigen Papst-
Besuch angelockt, hier Raubüberfälle verübten. Eine Absteige lag gleich um die Ecke,
vielleicht waren sie sogar da hinein verschwunden.
Das Ohnmachtsgefühl, die Tatsache, dass andere einem ungestraft alles wegnehmen
können, lastet.
K. und sprachen noch bis nach 2 Uhr darüber, insbesondere, wie die Story am besten in der
Schule dargelegt wird: Was mache ich um 10 Uhr abends mit Schultasche und Klamotten
bei ihr? Das Leben schreibt die abwegigsten Geschichten, wir lachten, wenn wir nur daran
dachten, welche Wirkung es hervorrufen würde, wenn ich die Flöhe als Besuchsgrund
angebe.
Es fiel uns aber nichts Besseres ein. Ich duschte, sie duschte, vielleicht wegen der Flöhe,
vielleicht als Vorbereitung auf Vorbereitung auf einen Beischlaf, doch es hat nicht gepasst.
Am frühen Morgen in der Schule angekommen, standen die Schüler im Karree auf dem
Pausenhof, He., Ru. und noch ein paar andere in schwarze Anzüge gekleidet, und Ru.
machte die Mitteilung, dass die Religionslehrerin, Frau Es. am Vorabend bei einem
Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Die 5DK, die ich in der ersten Stunde hatte,
heulte. Sie hatten sie seit dem ersten Schuljahr gehabt und erzählten mir Geschichten von
ihr die zeigten, dass sie sie sehr gern gehabt hatten.
Den restlichen Vormittag hatte ich die Hälfte der Schulverwaltung eingespannt: Banken
und Wechselstuben wurden zur Sperrung von fünf verschiedenen Arten von Schecks
veranlasst, der Rechtsanwalt der Schule verfasste einen Bericht an die Polizei, ein Brief an
die Botschaft über den Verlust von Ausweispapieren wurde aufgesetzt. Die Unkenntnisse in
puncto Sprache, Verhältnisse und Bürokratie des Landes hatten Aktionen am Vorabend
verhindert; ohne die Hilfe der Schule wäre die Abwicklung der notwendigen Formalitäten
zum Alptraum geworden.
Mittwoch, 30.1.1985, 22:30
Es ist so schwer, allein zu sein, wenn man Probleme hat. Der beim Raubüberfall erlittene
Verlust ärgert mich immer mehr, vor allem die Schultasche und ihr Inhalt: 20 bis 30
Stunden in Unterrichtsvorbereitung gesteckte Arbeit sind einfach weg. Der materielle
Verlust beträgt etwa 800 DM. Ich sehne mich nach Wärme und körperlichen Zärtlichkeiten,
die mir über Kraft- und Mutlosigkeit hinweghelfen würden.
Im Moment belastet mich die Arbeit in der Schule und hilft mir vielleicht doch.
Wo möchte ich jetzt sein?
Ein paar Tage in Kapstadt, um neue Kräfte zu sammeln, schlagartig dort sein; das würde
mir guttun.
Samstag, 02.02.1985, 21:30
Das samstägliche Fußballspiel hat mich heute so erschöpft, dass ich schon wieder nicht,
wie eigentlich vorgenommen, eine Kneipe oder eine Bar wie die empfohlene „Reina
Victoria“ aufsuchen kann, um ein Mädchen aufzutun (hab´s weiß Gott nötig) oder auch
nur Bekannte zu gewinnen. Das einzige, was meine bleiernen Beine jetzt noch schaffen, ist
der Weg in die Küche: otra cerveza „Pilsener“. Jetzt eine Frau: dahaben und nicht
erarbeiten zu müssen.
Anyway; weiter mit dem Bericht über die Fahrt in den Oriente.
Nach einer weiteren Stunde oder auch anderthalb im Boot tauchte das Hotel „Jaguar“ auf,
auf einer Anhöhe 50m über dem Rio Napo gelegen. An diesem Wochenende waren ein
australisches Pärchen und wir die einzigen Gäste.
Heißhunger überfiel mich wieder im Tiefland.
Es ist schwülheiß am Äquator, Myriaden von Insekten umschwirren die Lampen, die
Geräusche im Busch. Der bleiche Mond über dem Rio Napo.
Als ich am nächsten Morgen hinter dem Anwesen in Richtung des wegen der
Geräuschentwicklung abseits gelegenen Stromaggregats und der dort befindlichen
Wasserpumpe gehe, kommt mir zögernd ein Affe entgegen, Spezies Ateles belzebuth, wie
ich später meinem mitgeführten Faunabuch entnehme. Alle fünf Meter stoppend, kommt er
näher, beide sind wir offensichtlich verunsichert, was daraus wird. Schließlich setzt er sich
auf meinen Schuh und umklammert meinen Oberschenkel.
Später ein erster Gang mit dem Führer durch die Selva: Urwaldriesen, endlose
Marschreihen von Blattschneiderameisen, Waten durch einen Tropenbach, wie Jim Hawkins
auf der Schatzinsel, und auch eine Liane zum Tarzanspielen.
Schweißgebadet kehren wir zurück; Th. und ich schlagen den Hinweis auf
Hakenwürmer in den Wind und baden im Napo. Harte Kiesel; die Strömung
weiter draußen so stark, dass ich bei voller Kraulleistung an Ort und Stelle
bleibe.
Am nächsten Morgen sind wir zwei Stunden mit dem Einbaum unterwegs
und unternehmen auch Abstecher an Land: Offene Pfahlhütten am Ufer und im Busch, alte
Familienväter und ihre kleinen Kinder. Ich übe mit einem Blasrohr und treffe auch, und
ärgere mich später, dem Besitzer das Jagdwerkzeug nicht abgekauft zu haben. Ein Mann
hält junge Anacondas. Die Buschbewohner werden vom Führer entlohnt. Die Schule des
Bezirkes, hinter dem Pflanzenvorhang vom Ufer nicht einsehbar. Dazu eine kleine Tienda
und das Gemeindehaus, junge Mädchen und Männer im Sonntagsgewand, barfuß Volleyball
spielend. Ein kleiner Junge schenkt mir einen Keks.
Auf der Rückfahrt nach Quito bricht noch vor Erreichen der Passköhe die Dunkelheit herein.
Auf dem Pass ist es eisig kalt. Wir nehmen fünf Indios mit, die dort stehen, obwohl der
Bruder von Th. Angst hat und sich dagegen wehrt. Bei der Runterfahrt von der Passhöhe
bin ich schon sehr müde und nehme auf der Rüttelpiste wenig Rücksicht auf Federung und
Reifen. Endlich tauchen die Lichter des Tumbaco-Tales auf.
Eine Woche ist vergangen seit dem Überfall. Ich trage mich mit dem Gedanken, eine
Schusswaffe zu besitzen. An einem der nächsten Sonntage werde ich mit Kl. auf dem
Pichincha oder bei einem Bekannten von ihm im Tumbaco-Tal Schießübungen mit einer
38er unternehmen.
Thomas
Siegfried
Trapp
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