Donnerstag, 10.1.1985, 14:00 Einsamkeit und unausgelebte Sexualität werden allmählich unerträglich. Ich möchte alles zusammenschlagen. 22:00 Heute sowie gestern fiel der Unterricht aus: Streik wegen des je Gallone (etwa 3,8 L) von 30 S/. auf 50 S/. erhöhten Benzinpreises (von ca. 0,20 auf 0,30 DM). Hier im Norden der Stadt war praktisch nichts vom Streik zu spüren. In der Altstadt soll es angeblich turbulenter zugegangen sein, so wird auch von einem Toten gesprochen. In der Nähe meiner Wohnung dagegen fuhren Taxis und sogar Busse. Wenn die Fe.sche Waage stimmt, wiege ich bei 1,80m nur noch 68 oder 69 kg. Dieses Gewicht hatte ich zuletzt vor vielleicht 14 oder 15 Jahren, also mit 17 oder 18. Ich esse wenig und habe selten Appetit; eine gravierende Ausnahme machte der Aufenthalt an der Küste. Nach der Lektüre von mittlerweile fünf oder sechs Böll-Büchern: Fade Banalitäten mit, wenn überhaupt, hanebüchenen Metaphern: „ ……es kam noch ein kleines Tellerchen, auf dem eine silberne Kralle lag, die eine winzige Zitronenscheibe zwischen ihren Zähnen hielt“ (Das Brot der frühen Jahre).  Das einzig Interessante ist noch der Ärger über die durch eine „normal- katholische“ Erziehung verursachten Verklemmtheiten, so „der Drang der Männer, sich mit den Frauen zu vereinen“ oder die lästige Penetranz der Stelle mit „dem bitteren Geruch frischen Grüns/offene Hosenlätze“ (Haus ohne Hüter). Damit bin ich mit Böll für eine ganze Weile bedient. Die Einsamkeit beginnt an mir zu nagen. Leere bleibt zurück. Samstag, 12.1.1985, 19:30 Samstagabend, Nacht und Nebel über Quito. Im Kamin flackert ein helles Feuer, die „Valentine Suite“                                   erklingt, die Kerze auf der Ziegelplatte beleuchtet den Flechttisch und mein Tagebuch. Ich bin müde vom heutigen Fußballspiel, und ich wünschte es wäre jemand da den ich mag. Ab und an regnet es; im Verein mit meiner Müdigkeit wird dies ein Ausgehen meinerseits vermutlich vereiteln. Ich könnte zu Ku., mit ihr vielleicht ins „Pub“, aber ich bin müde, ich bin oft müde, ich bin viel zu oft müde. In diesen Momenten bekomme ich Heimweh, Sehnsucht nach dem vertrauten Umfeld, in dem ich mich mit anderer Sicherheit bewege: Ein Sprung ins „Kipf“, vielleicht gegen später aufs Schloss. Oder Bn. wäre hier. Es wäre sehr wohltuend für mich, wenn sie jetzt mir gegenüber säße. Ich habe gerade Null Bock auf Schule, ibs. auf das Unterrichtvorbereiten. Insofern könnte der Streik am Montag weitergehen. Er hat bisher vier Tote gefordert. Auf dem Weg zum Polizeisportgelände habe ich die Straßensperren gesehen. Sonntag, 27.1.1985, 12:00 Alfred Andersch, „Ein Liebhaber des Halbschattens“: „Sie hat gespürt, dass du ein verlogenes Leben auf dich genommen hast, nur um dich nicht von ihr trennen zu müssen. Glaub mir, das verträgt keine Frau, und Melanie schon gar nicht!“ Und: „Vielleicht wäre sie bei euch geblieben, wenn sie nicht gesehen hätte, dass alle eure Entschlüsse schließlich von ihr abhingen.“ 24:00 Ich habe heute die Pichincha-Besteigung, die als Training für den Cotopaxi angesetzt wurde, ausfallen lassen: Zum einen hatte ich keine Lust, um 5 Uhr morgens aufzustehen, und zum zweiten war das Wetter zu mies, Nebel und Regen. Heute war der Ruku-Pichincha dran; auf dem Guagua-Pichincha werde ich nächstes Wochenende allerdings dabei sein. Vom Cotopaxi werden Schauermärchen erzählt: von -15 °C vor Sonnenaufgang; von tiefen Gletscherspalten; von Leuten mit schweren UV-Verbrennungen an Händen und Gesicht („als hätte er den Kopf in den Backofen gesteckt“). Ich muss wohl in den nächsten zehn Tagen einiges an Ausrüstung besorgen. Am Mittwoch fällt der Unterricht aus: Papa Pablo Segundo, Papst Paul II., ist in Quito, fährt u. a. auch die Avenida Eloy Alfaro hinunter, also etwa 50 m an meiner Wohnung vorbei. Die Grenzen nach Peru sollen geschlossen sein, und wegen des befürchteten Andrangs gibt es ein Fahrverbot von Dienstag 11 Uhr bis Donnerstag 9 Uhr. Vielleicht schaue ich mir das Spektakel am Mittwoch in der Altstadt an. Am Freitagabend mit K. in zwei Kirchen: Kitsch und Ehrwürdigkeit fließen ineinander über. Betende, Beichtende. In der Iglesia San Francisco: Massen von Menschen. Vor dem Platz die kleine Sprechtribüne für den Papst. Am vergangenen Wochenende war ich im „Oriente“. Die Fahrt begann am Freitag gegen 2 Uhr nachmittags, nach sieben anstrengenden Stunden Unterricht, davon eine mit Unterrichtsbesuch durch Bl. (Fachleiter DaF aus Bogotá) und Dr. Fo.  Ich fuhr den Fe.schen Nissan Patrol in sechseinhalb Stunden nach Puerto Missahualli. Fünf Stunden davon Piste, über die Ostkordillere (4000 m) hinweg hinunter bis an den Rio Napo, oberhalb des Amazonas- Tiefbeckens. Lange bevor wir Tena erreichten brach die Nacht herein. Die Überholmanöver wurden nun endgültig Hasardeurspiele, da das Scheinwerferlicht von den aufgewirbelten Staubmassen praktisch vollständig reflektiert bzw. verschluckt wurde. In Tena erwischten wir, gewiesen von einem Einheimischen (auf der gesamten Strecke gab es weder Wegweiser noch Verkehrsschilder) eine falsche Ortsausfahrt. Im nächsten Ort, im angenommenem, aber falschen Misahualli  angekommen, fanden wir dann folglich auch nicht die anvisierten zwei Hotels. Ein Hotel am Flussufer öffnete im Dunklen nicht, obwohl wir rings um das Haus anklopften. In der Nachbarschaft erfuhr ich dann, dass wir uns in Puerto Napo, etwa 30 km oberhalb von Missahualli befanden. Als wir schließlich in Missahualli ankamen, hatten die Zimmer der Absteige Bambusfußböden, Bambuswände und Bambusdecken mit großen Ritzen dazwischen. Ich schlief oben im Etagenbett. Trotz 30 °C und hoher Luftfeuchtigkeit zog ich die Decke bis ans Kinn: Während des Abendessens war ständig eine ca. 3 cm große Conga, eine Ameise, deren Stich als der schmerzhafteste Insektenstich überhaupt bezeichnet wird, zwischen den Tellern rumspaziert, und auf der Theke hatte man eine 7 cm lange Gottesanbeterin gefangen, indem man ein Bierglas drüberstülpte. Die Insekten erreichen unglaubliche Größen im Oriente (der einheimische Biologiekollege, Ma. G., hatte Nashornkäfer von über 12 cm Länge mit in die Schule gebracht), und ich stellte mir im Bett beim Einschlafen vor, wie die Vertreter der Tiergruppe der Gliederfüßer die Nacht über durch die Bambusritzen auf mich herabregnen. Am nächsten Morgen ließen sich die Gringos das Fell über die Ohren ziehen: Während ich im Auto meinen Pass holte, zogen die Bootsführer den Fe.-Brothers für die Fahrt zum Hotel „Anaconda“ 1600 S/. aus der Tasche. Reges Treiben am Ufer des Rio Napo, Einbäume wurden be- und entladen. Nach etwa einer Stunde Fahrt im Einbaum mit Außenborder erreichten wir die Insel im Rio Napo, auf der das Hotel „Anaconda“ liegt. Völlige Stille auf der Insel, die Bretterbuden des Hotels menschenleer. Ein Schwarzer, der gerade den Rasenmäher anwerfen wollte, klärte uns auf: Die Insel befände sich in Quarantäne, die Ursache dafür verstanden wir nicht, man könne nicht übernachten. Die Halsabschneider im Boot hatten schon auf uns gewartet, und uns stieg die Galle hoch, da sie sicherlich von dem Quarantänezustand gewusst hatten. Da wir nicht bleiben konnten, und auch nicht zurückwollten, mussten wir nach 20 Minuten verhandeln nochmal S/. 800 für die Weiterfahrt zum Jaguar-Hotel berappen.
Siegfried Trapp
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Donnerstag, 10.1.1985, 14:00 Einsamkeit und unausgelebte Sexualität werden allmählich unerträglich. Ich möchte alles zusammenschlagen. 22:00 Heute sowie gestern fiel der Unterricht aus: Streik wegen des je Gallone (etwa 3,8 L) von 30 S/. auf 50 S/. erhöhten Benzinpreises (von ca. 0,20 auf 0,30 DM). Hier im Norden der Stadt war praktisch nichts vom Streik zu spüren. In der Altstadt soll es angeblich turbulenter zugegangen sein, so wird auch von einem Toten gesprochen. In der Nähe meiner Wohnung dagegen fuhren Taxis und sogar Busse. Wenn die Fe.sche Waage stimmt, wiege ich bei 1,80m nur noch 68 oder 69 kg. Dieses Gewicht hatte ich zuletzt vor vielleicht 14 oder 15 Jahren, also mit 17 oder 18. Ich esse wenig und habe selten Appetit; eine gravierende Ausnahme machte der Aufenthalt an der Küste. Nach der Lektüre von mittlerweile fünf oder sechs Böll-Büchern: Fade Banalitäten mit, wenn überhaupt, hanebüchenen Metaphern: „ ……es kam noch ein kleines Tellerchen, auf dem eine silberne Kralle lag, die eine winzige Zitronenscheibe zwischen ihren Zähnen hielt“ (Das Brot der frühen Jahre).  Das einzig Interessante ist noch der Ärger über die durch eine „normal-katholische“ Erziehung verursachten Verklemmtheiten, so „der Drang der Männer, sich mit den Frauen zu vereinen“ oder die lästige Penetranz der Stelle mit „dem bitteren Geruch frischen Grüns/offene Hosenlätze“ (Haus ohne Hüter). Damit bin ich mit Böll für eine ganze Weile bedient. Die Einsamkeit beginnt an mir zu nagen. Leere bleibt zurück. Samstag, 12.1.1985, 19:30 Samstagabend, Nacht und Nebel über Quito. Im Kamin flackert ein helles Feuer, die „Valentine Suite“                                               erklingt, die Kerze auf der Ziegelplatte beleuchtet den Flechttisch und mein Tagebuch. Ich bin müde vom heutigen Fußballspiel, und ich wünschte es wäre jemand da den ich mag. Ab und an regnet es; im Verein mit meiner Müdigkeit wird dies ein Ausgehen meinerseits vermutlich vereiteln. Ich könnte zu Ku., mit ihr vielleicht ins „Pub“, aber ich bin müde, ich bin oft müde, ich bin viel zu oft müde. In diesen Momenten bekomme ich Heimweh, Sehnsucht nach dem vertrauten Umfeld, in dem ich mich mit anderer Sicherheit bewege: Ein Sprung ins „Kipf“, vielleicht gegen später aufs Schloss. Oder Bn. wäre hier. Es wäre sehr wohltuend für mich, wenn sie jetzt mir gegenüber säße. Ich habe gerade Null Bock auf Schule, ibs. auf das Unterrichtvorbereiten. Insofern könnte der Streik am Montag weitergehen. Er hat bisher vier Tote gefordert. Auf dem Weg zum Polizeisportgelände habe ich die Straßensperren gesehen. Sonntag, 27.1.1985, 12:00 Alfred Andersch, „Ein Liebhaber des Halbschattens“: „Sie hat gespürt, dass du ein verlogenes Leben auf dich genommen hast, nur um dich nicht von ihr trennen zu müssen. Glaub mir, das verträgt keine Frau, und Melanie schon gar nicht!“ Und: „Vielleicht wäre sie bei euch geblieben, wenn sie nicht gesehen hätte, dass alle eure Entschlüsse schließlich von ihr abhingen.“ 24:00 Ich habe heute die Pichincha-Besteigung, die als Training für den Cotopaxi angesetzt wurde, ausfallen lassen: Zum einen hatte ich keine Lust, um 5 Uhr morgens aufzustehen, und zum zweiten war das Wetter zu mies, Nebel und Regen. Heute war der Ruku-Pichincha  dran; auf dem Guagua-Pichincha werde ich nächstes Wochenende allerdings dabei sein. Vom Cotopaxi werden Schauermärchen erzählt: von -15 °C vor Sonnenaufgang; von tiefen Gletscherspalten; von Leuten mit schweren UV-Verbrennungen an Händen und Gesicht („als hätte er den Kopf in den Backofen gesteckt“). Ich muss wohl in den nächsten zehn Tagen einiges an Ausrüstung besorgen. Am Mittwoch fällt der Unterricht aus: Papa Pablo Segundo, Papst Paul II., ist in Quito, fährt u. a. auch die Avenida Eloy Alfaro hinunter, also etwa 50 m an meiner Wohnung vorbei. Die Grenzen nach Peru sollen geschlossen sein, und wegen des befürchteten Andrangs gibt es ein Fahrverbot von Dienstag 11 Uhr bis Donnerstag 9 Uhr. Vielleicht schaue ich mir das Spektakel am Mittwoch in der Altstadt an. Am Freitagabend mit Ju. in zwei Kirchen: Kitsch und Ehrwürdigkeit fließen ineinander über. Betende, Beichtende. In der Iglesia San Francisco: Massen von Menschen. Vor dem Platz die kleine Sprechtribüne für den Papst. Am vergangenen Wochenende war ich im „Oriente“. Die Fahrt begann am Freitag gegen 2 Uhr nachmittags, nach sieben anstrengenden Stunden Unterricht, davon eine mit Unterrichtsbesuch durch Bl. (Fachleiter DaF aus Bogotá) und Dr. Fo.  Ich fuhr den Fe.schen Nissan Patrol in sechseinhalb Stunden nach Puerto Missahualli. Fünf Stunden davon Piste, über die Ostkordillere (4000 m) hinweg hinunter bis an den Rio Napo, oberhalb des Amazonas-Tiefbeckens. Lange bevor wir Tena erreichten brach die Nacht herein. Die Überholmanöver wurden nun endgültig Hasardeurspiele, da das Scheinwerferlicht von den aufgewirbelten Staubmassen praktisch vollständig reflektiert bzw. verschluckt wurde. In Tena erwischten wir, gewiesen von einem Einheimischen (auf der gesamten Strecke gab es weder Wegweiser noch Verkehrsschilder) eine falsche Ortsausfahrt. Im nächsten Ort, im angenommenem, aber falschen Misahualli  angekommen, fanden wir dann folglich auch nicht die anvisierten zwei Hotels. Ein Hotel am Flussufer öffnete im Dunklen nicht, obwohl wir rings um das Haus anklopften. In der Nachbarschaft erfuhr ich dann, dass wir uns in Puerto Napo, etwa 30 km oberhalb von Missahualli befanden. Als wir schließlich in Missahualli ankamen, hatten die Zimmer der Absteige Bambusfußböden, Bambuswände und Bambusdecken mit großen Ritzen dazwischen. Ich schlief oben im Etagenbett. Trotz 30 °C und hoher Luftfeuchtigkeit zog ich die Decke bis ans Kinn: Während des Abendessens war ständig eine ca. 3 cm große Conga, eine Ameise, deren Stich als der schmerzhafteste Insektenstich überhaupt bezeichnet wird, zwischen den Tellern rumspaziert, und auf der Theke hatte man eine 7 cm lange Gottesanbeterin  gefangen, indem man ein Bierglas drüberstülpte. Die Insekten erreichen unglaubliche Größen im Oriente (der einheimische Biologiekollege, Ma. G., hatte Nashornkäfer von über 12 cm Länge mit in die Schule gebracht), und ich stellte mir im Bett beim Einschlafen vor, wie die Vertreter der Tiergruppe der Gliederfüßer die Nacht über durch die Bambusritzen auf mich herabregnen. Am nächsten Morgen ließen sich die Gringos das Fell über die Ohren ziehen: Während ich im Auto meinen Pass holte, zogen die Bootsführer den Fe.-Brothers für die Fahrt zum Hotel „Anaconda“ 1600 S/. aus der Tasche. Reges Treiben am Ufer des Rio Napo, Einbäume wurden be- und entladen. Nach etwa einer Stunde Fahrt im Einbaum mit Außenborder erreichten wir die Insel im Rio Napo, auf der das Hotel „Anaconda“ liegt. Völlige Stille auf der Insel, die Bretterbuden des Hotels menschenleer. Ein Schwarzer, der gerade den Rasenmäher anwerfen wollte, klärte uns auf: Die Insel befände sich in Quarantäne, die Ursache dafür verstanden wir nicht, man könne nicht übernachten. Die Halsabschneider im Boot hatten schon auf uns gewartet, und uns stieg die Galle hoch, da sie sicherlich von dem Quarantänezustand gewusst hatten. Da wir nicht bleiben konnten, und auch nicht zurückwollten, mussten wir nach 20 Minuten verhandeln nochmal S/. 800 für die Weiterfahrt zum Jaguar-Hotel berappen.
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