Siegfried Trapp
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HARALD MARTENSTEIN Über explodierende Zahlen, das Anziehen der Zügel und andere Probleme der politischen Kommunikation Markus Söder hat gesagt, dass man die Zügel anziehen muss. Angela Merkel hat ebenfalls gesagt, dass die Zügel angezogen werden müssen, wegen der steigenden Infektionszahlen. Ich bin der Mann, den sie Pferd nennen. Auf alten Pferden lernt man reiten, so heißt es doch. Das passt auf mich. Um bei mir die Zügel anziehen zu können, müssten sie mir zuerst einen Sattel auflegen und eine Trense in meinen Mund stecken, danach setzen sie sich auf mich drauf und rufen »Hüa«. Wie wird das sein, von Angela Merkel zugeritten zu werden? Es ist keine schöne Vorstellung für mich. Ich versuche aber in jeder Situation, mein Bestes zu geben. Ein Leichtgewicht ist sie vermutlich nicht, ich auch nicht, klar, aber ich bin ja unten. Den härteren Schenkeldruck hat vermutlich Markus Söder. Aber Merkel hat bereits angekündigt, dass sie, falls notwendig, »brachial durchgreifen« will. Der Einsatz von Sporen und Peitsche wäre für sie kein Tabu. Das hält ja kein Pferd aus, sind die vom Hafer gestochen? Wie reden die denn mit mir? Da bäumt sich alles in mir auf. Könnte man die Notwendigkeit gewisser Beschränkungen nicht ein bisschen höflicher zum Ausdruck bringen? Zum Beispiel mit den Worten »Du musst dich leider auf neue Regeln einstellen, sorry, mein Bester« oder »Die Lage macht es erforderlich, dass du vorübergehend auf Verschiedenes verzichten musst, bitte sieh das ein«. Die Sprache stellt für die Kommunikation unendlich viele Möglichkeiten zur Verfügung. Und wenn sie mir schon Tiernamen geben, warum soll ich ausgerechnet ein Pferd sein? Ich möchte, wenn schon, dann als Hund angesprochen werden, aus Respekt, Hunde sind klüger als Pferde. »Wir müssen die Leine kürzer fassen« meinetwegen, falls es als Zugabe ein Leckerli gibt. Alternativ: »Wir werden rund um jeden Bürger ein Katzennetz anbringen.« Da schnurre ich sogar. Ich habe nichts Grundsätzliches gegen die meisten Maßnahmen, man soll vernünftig sein, ich trage Maske. Aber mir fällt auf, dass in solchen Formulierungen der alte Obrigkeitsstaat wieder sein Gesicht zeigt, und zwar ohne Maske. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, ich weiß, das ist nur in der Theorie so, auch wenn’s in der Verfassung steht. Aber man könnte wenigstens versuchen, den Anschein zu wahren, das ist doch nicht zu viel verlangt. Auch Kriegsrhetorik findet Verwendung. »Um uns explodieren die Zahlen«, meldet Generalleutnant Söder aus dem Schützengraben. »Corona-Kampf wird härter«, meldet die von der Ostfront nahe Berlin. Als den Virologen Drosten Ende März die Darstellung seiner Person und anderer Kollegen in den Medien ärgerte, fiel ihm die Drohung ein, die Wissenschaft müsse »in geordneter Weise den Rückzug antreten, wenn das nicht aufhört«. Beim Rückzug Napoleons aus Russland sind fast alle Pferde draufgegangen. Wenn das nicht aufhört, dann. Der Dressurausbilder Fritz Stahlecker, offenbar eine Autorität auf diesem Gebiet, sagt zum allzu straff angezogenen Zügel: »Das Pferd wird gezwungen, sich auf dem Gebiss abzustützen. Jede Ausweichbewegung wird mit Schmerz im Maul bestraft. So entsteht das freudlose Pferd!« Die alten Meister der Reitkunst haben laut Stahlecker ihre Pferde durchweg mit leicht durchhängenden Zügeln geritten, und trotzdem liefen sie brav, wohin sie sollten. Ich soll mich beim Galopp auf dem Gebiss abstützen, und das auch noch mit Maske und Söder auf mir drauf, in Reitstiefeln. Falls die Kneipen wieder geschlossen werden, empfehle ich den Wirten, an ihren Türen ein Zitat des seligen Wirtschaftsministers Karl Schiller anzubringen: »Die Pferde müssen wieder saufen.«
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