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Partei der Ostpolitik
"Einem großen Teil der SPD fällt es schwer, die Zeitenwende
mitzugehen"
Die SPD steht in der Tradition einer Ostpolitik, die Frieden und Stabilität über Menschenrechte und
Freiheit gestellt hat, sagt der Historiker Jan C. Behrends. "Das muss aufgearbeitet werden." Aber nicht nur
die SPD, Politik und Gesellschaft insgesamt müssten ihren kolonialen Blick auf Osteuropa überwinden.
ntv.de: Wie bewerten Sie den Auftritt von Olaf Scholz am vergangenen Donnerstag in Kiew?
Jan C. Behrends: Der Bundeskanzler hat sich mit seiner Reise lange Zeit gelassen. Durch die
Kombination mit Draghi und Macron hat sein Besuch in Kiew größeres Gewicht bekommen, dadurch sind
die negativen Diskussionen im Vorfeld ein Stück weit ausgeglichen worden. Die Bilder von Scholz,
Macron, Draghi und Iohannis in Irpin sind eindrücklich. Andererseits muss man sagen: Diese Reise war
nicht der große Game Changer, es bleibt bei dem vorsichtigen deutschen Ansatz. Die große Frage ist, ob
sich im Nachgang der Reise auf dem Feld der Waffenlieferungen etwas tut. Denn am Ende wird dieser
Krieg nicht durch Fotos entschieden, sondern auf dem Schlachtfeld. Ob die Bundesregierung da genug
tut? Da bin ich heute genauso skeptisch wie vor der Kiew-Reise.
Unterstützt die Bundesregierung die Ukraine aus Ihrer Sicht nicht stark genug?
Wenige Tage nach Kriegsbeginn hat Scholz mit der Zeitenwende-Rede ein starkes Signal gesetzt. Danach
dominierte der Eindruck, dass die Bundesregierung die Ankündigungen dieser Rede nicht
hundertprozentig umsetzt. Ob die Unterstützung der Ukraine stark genug ist, wird sich im Sommer zeigen.
Es gab zuletzt die langen Wochen des Zögerns, dabei wissen wir aus der militärischen Analyse, dass
Kiew schon bald westliche Waffen braucht, weil die Munitionsbestände für ihre eigenen Waffen
sowjetischer Bauart zu Ende gehen und die ukrainischen Rüstungsbetriebe von den Russen zerstört
wurden. Für Deutschland wird das die Stunde der Wahrheit. Dann wird sich entscheiden, ob die
Bundesregierung mit Verspätung doch noch in die Vollen geht oder die Zeitenwende absagt.
Scholz sagt doch immer, dass Deutschland die Ukraine "massiv" unterstütze, erst in Kiew wieder.
Stimmt das denn nicht?
Finanziell und moralisch mag das der Fall sein. Militärisch ist das eine gewagte Aussage.
Der Historiker Heinrich August Winkler hat im "Spiegel" erneut auf ein Zitat von Egon Bahr
hingewiesen, dem Architekten der SPD-Ostpolitik. Der hat der Sowjetunion im Herbst 1981 das
Recht zugebilligt, militärisch in Polen zu intervenieren, wenn Polen seine Zugehörigkeit zum
Warschauer Pakt infrage stellen sollte. Ist das typisch für das Verhältnis der SPD zu den
osteuropäischen Staaten?
Ich glaube, dass Egon Bahr ein Sonderfall ist. Das Problem ist eher, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung
noch vor einigen Wochen eine Festveranstaltung zum 100. Geburtstag von Egon Bahr gemacht und damit
massiv den Eindruck erweckt hat, Bahr sei bis heute der große außenpolitische Stratege und seine
Ostpolitik nach wie vor das letzte Wort der SPD an Osteuropa. Da bin ich ganz bei Heinrich August
Winkler: Das müssen wir stark überdenken. Die SPD sollte einen sehr kritischen Blick auf Bahr entwickeln
und ihn nicht nur als Strategen der Ostverträge darstellen. In den frühen 70er-Jahren hatte er sicherlich
seine Verdienste. Aber der späte Bahr, nach der Kanzlerschaft von Willy Brandt, ist aus meiner Sicht
hochproblematisch. Er hat eine Nebenaußenpolitik betrieben, die man sich heute nicht mehr zu Eigen
machen sollte. Bahr stand für eine deutsche Sonderbeziehung zum Kreml, die auf Kosten
Ostmitteleuropas geht.
Bahr wird gelegentlich zitiert, um eine gewisse Empathielosigkeit der SPD Osteuropa gegenüber
zu belegen. Gibt es die?
Ich glaube, die gibt es insgesamt in Deutschland. Das ist auch ein Problem der SPD, aber kein SPD-
spezifisches Problem. Diese Empathielosigkeit war sicherlich auch ein Problem von Kanzlerin Merkel, die
nicht in der Lage war, eine Beziehung zur Ukraine aufzubauen.
Warum hat Deutschland so wenig Verständnis für die Belange der osteuropäischen Länder?
Ich erkläre mir das so, dass die deutsche Gesellschaft keinen so empathischen Freiheitsbegriff hat wie die
Polen, die Franzosen, die Amerikaner und eben auch die Ukrainer. Anders als in Deutschland kennt man
in diesen Ländern einen Freiheitskampf, der auch militärisch ausgetragen werden kann; wir haben in
unserer Geschichte keine Beispiele für erfolgreiche Freiheitskämpfe dieser Art. Deswegen scheuen wir
davor zurück, uns automatisch mit der Ukraine solidarisch zu erklären. Ich hoffe, dass die Ampel-
Regierung - bei Frau Baerbock sehe ich da durchaus Anzeichen - langsam diese Haltung ändert. Aber es
war auch bei Merkel nicht so, dass sie viel in Warschau gewesen wäre oder auf den Rat unserer
osteuropäischen Alliierten gehört hätte. Sonst wären wir nicht da, wo wir sind.
Gibt es bei der SPD vielleicht trotzdem eine stärkere Verbindung zu Russland als in der Union oder
der Gesellschaft insgesamt?
Da muss man differenzieren. Es gibt in der Tat eine starke Bindung an die russische Politik in einzelnen
Bereichen der SPD, etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder Niedersachsen. Das kann man klar an
einzelnen Personen festmachen, an wirtschaftlichen Interessen, vielleicht auch an Korruption. Aber für die
SPD in der Breite gilt das nicht - denken Sie an Personen wie den Vorsitzenden des Auswärtigen
Ausschusses, Michael Roth, oder an Nils Schmid, den außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion.
Wichtig ist, dass die SPD aufarbeitet, warum Landesverbände wie Mecklenburg-Vorpommern und
Niedersachsen eine so fatale Rolle angenommen haben und wie man da wieder rauskommt.
Im Wahlprogramm der SPD aus dem vergangenen Jahr findet sich der Satz, "Frieden in Europa
kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben". Was soll das bedeuten?
Das ist ein Satz, den die deutsche Politik in der Putin-Zeit mantrahaft wiederholt hat, quer durch alle
Parteien. Ich bin nicht sicher, was er bedeuten soll - primär soll er wohl sagen, dass man nicht auf eine
Politik der Isolation und Abschreckung Russlands setzt, sondern auf Einbindung. Der Satz formuliert ein
hehres Ziel, das realpolitisch spätestens seit der Krim-Annexion 2014 nicht erreichbar war.
Sie haben die Feier zum 100. Geburtstag von Egon Bahr angesprochen. Scholz hat da eine Rede
gehalten, in der es keine kritische Auseinandersetzung mit Bahr gab. Sieht Scholz sich in der
Tradition von Egon Bahrs Ostpolitik?
Die ganze SPD sieht sich in der Tradition von Brandt und Bahr. Natürlich waren die Ostverträge ein
großes Verdienst der deutschen Außenpolitik und der sozialdemokratischen Ostpolitik. Aber was hier
verkannt wird, ist, dass die Krise der Ostpolitik bereits in den 80er-Jahren mit der Reaktion auf
Solidarność beginnt …
… der polnischen Gewerkschaft, die maßgeblich am Ende des Kommunismus in Polen beteiligt
war.
Damals hat sich die SPD bereits auf die falsche Seite gestellt - das ist es ja, was Heinrich August Winkler
kritisiert: Die SPD hat die polnische Gesellschaft nicht gegen das Regime unterstützt. Diese Tradition hat
sich in der Putin-Zeit auf unsägliche Weise fortgesetzt. Da hat sich die SPD nicht auf die Seite der
russischen Zivilgesellschaft gestellt, nicht auf die Seite der baltischen Staaten, nicht auf die Seite der
Ukraine, sondern letztlich auf die Seite Putins. Das muss aufgearbeitet werden: Warum hält die SPD als
Partei des Friedens und der Freiheit zu problematischen Machthabern, nur um den Status quo nicht zu
gefährden?
Warum?
Weil Frieden und Stabilität über Menschenrechte und Freiheit gestellt wurden.
Sie gehören zu einer Gruppe von drei Historikern, die in einem Minderheitsvotum im SPD-
Geschichtsforum geschrieben haben: "In unserer Partei, der SPD, scheinen manche
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Trümmer ihrer Ostpolitik mehr zu bekümmern, als
die Trümmerlandschaften, die Putins Bomben in der Ukraine modellieren." Ist es nur
Friedenspolitik, wenn es Sozialdemokraten so schwerfällt, zu erkennen, dass von Russland nicht
Frieden ausgeht, sondern Krieg?
Zunächst einmal gibt es bei den Kolleginnen und Kollegen - aber ich glaube: auch in der deutschen Politik
- ein fundamentales Unwissen über Osteuropa. Die meisten Leute, die in dieser Debatte sehr
meinungsstark auftreten, waren noch nie in Kiew. Deshalb sind sie da auch relativ empathielos. Wir als
Historikerinnen und Historiker, die über Osteuropa arbeiten, wir haben Freunde in Kiew, in Charkiw oder
Riga oder Tbilissi, wir haben einen völlig anderen Zugang zu der Region. Ich glaube, da muss die
deutsche Politik, die SPD, aber auch die deutsche Gesellschaft insgesamt ihren kolonialen Blick auf
Osteuropa überwinden, bei dem es immer nur um deutsche Nabelschau geht. Wir müssen uns öffnen für
den Blick auf diese Gesellschaften und auf diese Länder, die vielen so fremd sind, dass sie nicht in der
Lage sind, Empathie zu entwickeln.
Wäre Bundeskanzler Scholz ohne SPD im Rücken bei den Waffenlieferungen genauso zögerlich?
Das kann nur Olaf Scholz beantworten. Man kann aber sehen, dass es einem großen Teil der SPD
schwerfällt, die Zeitenwende mitzugehen. Zum Beispiel Fraktionschef Rolf Mützenich. Alles, was Herr
Mützenich in den letzten Jahren vertreten hat, wird durch diese Zeitenwende aufgehoben, von der
Drohnen-Bewaffnung über die Russlandpolitik bis hin zur Abrüstung. Er wollte ja immer weiter abrüsten,
obwohl wir schon komplett abgerüstet sind.
Mit seiner konsequenten Parteinahme für Russland in den Merkel-Jahren hat Deutschland in Osteuropa
viel Porzellan zerschlagen: durch Nord Stream 1 und 2, auch durch Minsk 1 und 2, also die Abkommen,
die den Krieg im Donbass eindämmen sollten, aber stark auf Kosten der Ukraine gingen. Wenn
Deutschland jetzt Druck machen würde, um ein Minsk 3 zu erreichen, würde das Vertrauen in
Deutschland bei den Osteuropäern noch weiter beschädigt. Es wiederzugewinnen, wird ein sehr langer
Prozess. Das wird mindestens so lange dauern wie der Wiederaufbau der Bundeswehr.
Mit Jan C. Behrends sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de, 18.06.2022, 14:57 Uhr
Vor der Zeitenwende:
Am 6. Dezember
2021 stellt der
damals noch
designierte
Bundeskanzler Olaf
Scholz die
Ministerinnen und
Minister der SPD vor.
Die SPD-Legende
Willy Brandt,
Bundeskanzler von
1969 bis 1974, wacht
über allem. (Foto:
picture alliance/dpa
Jan C. Behrends lehrt deutsche und osteuropäische
Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt
(Oder). Er gehört dem SPD-Geschichtsforum an. (Foto:
ZFF)