Siegfried
Trapp
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Verfassungspatriotismus
Verfassungspatriotismus ist ein staatsbürgerschaftliches Konzept,
das sich als Alternative zum ethnischen Staatsverständnis sieht. Die
Staatszugehörigkeit beruht diesem Konzept zufolge auf gemeinsamen
politischen Werten wie Demokratie und Meinungsfreiheit statt auf
Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften.
Dieses Konzept wurde und wird vor allem von
Dolf Stern-berger und Jürgen Habermas
vertreten. Es überschneidet sich mit dem
Konzept der Willensnation und beeinflusste die
Entwicklung der Europäischen Union.
Zu Grunde liegendes Nationsverständnis
Verfassungspatriotismus baut auf einem republikanischen Nationsverständnis auf.
Dieses geht davon aus, dass die Nation eine durch gemeinsamen Willen und eine
gemeinsame Geschichte zusammengehaltene Gemeinschaft von Menschen sei.
Diese sehen sich untereinander als frei und gleich an. Ein solches
Nationsverständnis wurde in der Neuzeit wesentlich während der Aufklärung und
von Ernest Renan geprägt.
Eine aktive Staatsbürgerrolle ergibt sich für Habermas aus der Volkssouveränität
als demokratischer Selbstgesetzgebung. Eine solche Staatsbürgernation ist durch
die „Praxis von Bürgern“ und nicht durch ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten
zusammengehalten. In einer auf Aristoteles zurückgreifenden republikanischen
Tradition sieht Habermas die Bürger als integralen Bestandteil des politischen
Gemeinwesens. Demgegenüber steht ein dem Staat nur äußerlich, über Leistungen
und Gegenleistungen verbundener Bürger.
Definition
Unter Verfassungspatriotismus versteht man die Identifikation des Bürgers mit
den Grundwerten, Institutionen und Verfahren der republikanischen politischen
Grundordnung und Verfassung und die aktive Staatsbürgerrolle des Bürgers. Das
Sich-Einbringen in das politische Geschehen steht nach der Nationsauffassung an
zentraler Stelle bei diesem Konzept. Dies bedeutet in der Praxis zumindest ein
Interesse für politische Fragen und geht über Wählen bis zu aktiver
Politikgestaltung, z. B. in Form von Bürgerinitiativen oder Parteien.
In einer solchen Nation wird von den Verfechtern des Verfassungspatriotismus
eine zweckrationale Haltung gegenüber politischen Fragen im Rahmen eines
rationalen Diskurses gefordert. Mit der politischen Grundordnung soll eine
rationale Identifikation vorhanden sein. Eine affektive Identifikation ist zusätzlich
möglich. Eine bedingungslose Akzeptanz des Staates, der Verfassung und etwaiger
Änderungen daran ist mit Verfassungspatriotismus gerade nicht gemeint,
beschreibt er doch primär ein Bekenntnis zu den universellen Grundwerten der
Nation und erst sekundär eine Identifikation mit dem Staat und der Verfassung,
die diese Normen widerspiegeln. In der republikanischen Staatsauffassung wird
die politische Gemeinschaft schließlich nicht als Selbstzweck aus der Nation
heraus, sondern als notwendiger Bezugsrahmen für freie und gleiche Bürger
gesehen.
Für Sternberger ist „das Wesen und Bestreben des Verfassungsstaates […] die
Sicherung der Freiheit“. Mit der Einlösung der „Menschenrechte […] als
Bürgerrechte“ legitimiert sich das Gewaltmonopol des Staates, da dieser für den
Schutz der Rechte sorgt. Die Demokratie kann diesen Schutz schließlich am
ehesten gewährleisten.
Mit dem Verfassungspatriotismus einher geht das Recht auf Auswanderung und
Zurückweisung der Staatsbürgerschaft. Andererseits bietet das Konzept auch
Immigranten die Möglichkeit, sich mit der politischen Kultur des Landes zu
identifizieren.
Debatte
Verfassungspatriotismus wird oft wegen seiner „Erlebnisarmut“ kritisiert. Die
geforderte zweckrationale Haltung gegenüber politischen Fragen schaffe es nicht,
Gefühle der Bürger anzusprechen. Eine gefühlsmäßige Bindung zur Nation sei
jedoch nötig zur Bildung einer aktiven Gemeinschaft. Verfechter des
Verfassungspatriotismus antworten mit der Gegenfrage, ob denn eine affektive
Bindung überhaupt nötig sei. Andere Nationskonzepte, wie eine ethnische Nation,
hätten als konkreten Bezug auch nur eine gemeinsame Geschichte, Symbole (z. B.
Flaggen), Mythen und an Mythen erinnernde Anlässe (z. B. Feiertage). Diese
Bezüge sind in einer Republik jedoch durchaus mit Verfassungspatriotismus
vereinbar.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Verfassungspatriotismus keinen Bezug zu Land,
Volk und Geschichte aufweist. Dem wird entgegengehalten, dass eine politische
Kultur gewachsen sei. Der Verfassungsprozess sei als ein geschichtlich-
dynamischer Prozess zu verstehen.
In der politischen Kultur und Sozialisation spiegelt sich auch die Vergangenheit
derselben wider. Eine Nation als Willensgemeinschaft von Menschen definiert sich
unter anderem über die gemeinsame Geschichte, genauer: die gedachte,
„erinnerte“ nationale Geschichte. Die Geschichte vollzog sich schließlich auf einem
bestimmten Territorium. Geschichte und Land gehen so als Grundwerte der
Bürger über deren Sozialisation in den Verfassungspatriotismus mit ein.
Kritiker des Konzepts monieren, dass Verfassungspatriotismus bedeute,
Landsleuten, welche die gerade herrschende Verfassung ablehnen, die
Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft abzusprechen. Der fehlende Bezug
zum Volk im Sinne einer Ethnie ist von Verfassungspatrioten allerdings gerade
gewollt, gehen sie doch von einer Freiheit und Gleichheit aller Menschen aus. Eine
Nation konstituiere sich nicht über Abstammung, sondern über Wille und
Geschichte. Die Kategorie Volk ist hierbei im Sinne des Demos zu verstehen, d. h.
der Menge aller Wahlberechtigten, die die Grundlage der Demokratie bildet.
Verfassungspatriotismus ist nicht nur eine normative Option des Bürgers, mit ihm
verbinden sich nicht zuletzt auch normative Forderungen und pädagogische
Absichten der Verfasser. Schließlich wird ein Spannungsverhältnis zwischen der
Integrationsfunktion auf der einen und der Herrschaftsbegrenzungsfunktion
(Minderheitenschutz) der Verfassung auf der anderen konstatiert.
Geschichte des Begriffes
Der Begriff geht ursprünglich auf Dolf Sternberger zurück und wurde später von
Richard von Weizsäcker, Jürgen Habermas und anderen Politikern und
Politikwissenschaftlern aufgegriffen. Während des Historikerstreits wurde der
Begriff populärer und taucht seitdem immer wieder in Debatten zu Leitkultur,
Integration, europäischer Integration und ähnlichem auf.
Er entstand nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Teilung Deutschlands. Da das
Deutsche Reich nach dem Zweiten Weltkrieg neuorganisiert wurde, hatten sich die
westlich orientierte Bundesrepublik und die realsozialistische DDR politisch sowie
kulturell voneinander entfernt, weshalb eine Identifikation mit einem
„Gesamtdeutschland“ nicht ohne Weiteres möglich war. Das Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland sah in Art. 116 weiterhin eine Definition der
Staatsangehörigkeit über die Abstammung vor. Dieses Ius-sanguinis-Prinzip
wurde erst 1999 durch die rot-grüne Koalition um das sog. ius soli (lat.: Recht des
Bodens) erweitert.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungspatriotismus