ZUM BEISPIEL ERINNERUNG Veränderung fällt schwer: Die Neurobiologie hat festgestellt, dass sich unsere Persönlichkeit durch jahrelange Erfahrungen festigt. Wie bleibt man dennoch offen für Neues? Der Hirnforscher Gerhard Roth sieht dafür zwei Voraussetzungen: Positive Einwirkungen und einen langen Atem. Interview: Philipp Hauner
Herr Roth, trotz guter Vorsätze gelingt es uns oft nicht, geplante Veränderungen auch umzusetzen. Haben Sie dafür eine Erklärung?  Zwischen dem Willen, sich zu verändern und der tatsächlichen Realisierung liegen Prozesse der Überprüfung. Sie spielen sich in unserem vorbewussten und unbewussten Erfahrungs-gedächtnis ab. Dort werden Veränderungswünsche im Lichte vergangener Erfahrungen beurteilt und anschließend entscheidet sich, ob sie tatsächlich realisiert werden. Es mag also längst vergessene Erfahrungen, unbewusste Motive oder gar Zwänge geben, die Veränderungen entgegenstehen. Was geschieht aus neurowissenschaftlicher Sicht, wenn wir neue Erfahrungen machen? Alles, was wir erleben oder tun, wird vom Gehirn nach seinen Folgen bewertet. Luft etwas gut, so wird an die Erinnerung der Ausstoß von Belohnungsstoffen gehängt, das sind sogenannte hirneigene Opioide und Cannabinoide, und wir fühlen uns prächtig. Gleichzeitig wird das Ganze mit einem Signal des Botenstoffs Dopamin versehen – das treibt uns zusammen mit den gespeicherten Gedächtnisinhalten an, Dinge zu wiederholen, die zumindest einmal gut gelaufen sind. Bei negativen Erfahrungen läuft das über andere Stoffe ähnlich und resultiert in Vermeidungsverhalten. Unser Gehirn macht uns also zu Wiederholungstätern. Werden wir deshalb Gewohnheiten wie das Rauchen nur schwer wieder los? Nikotin ist bekanntlich eine Droge und ebenso wie Alkohol und künstliche Drogen wirkt es als Belohnungsstoff außerordentlich viel stärker als die Selbstbelohnungsstoffe des Gehirns. Deshalb wird der Drang, das dadurch Belohnte wieder zu tun oder wieder zu erleben, übermächtig und damit zur Sucht. Allerdings lässt die Wirkung oft schnell nach und was bleibt, ist der Entzugsschmerz, der dann über die erneute Einnahme der Droge vorübergehend gelindert wird. Eine Sucht verstellt nachhaltig Netzwerke im Belohnungssystem des Gehirns. Daher ist sie nur sehr schwer zu beseitigen. Angenommen, wir haben die angestrebten Veränderungen erreicht – können wir uns denn darauf verlassen, dass sie Bestand haben werden? Verhaltensmuster bleiben im Gehirn grundsätzlich bestehen und werden auch durch Verhaltensänderungen niemals ausgelöscht, sondern nur überlernt. Das ist immer eine wackelige Sache – und unter besonderen Belastungs- oder Bedürfnisbedingungen fällt man wieder in die alten Muster zurück. Sie konnten zeigen, dass nur zwanzig Prozent unserer Persönlichkeit formbar sind – welche sind das? Dieser Wert bezieht sich auf die Situation im Erwachsenenalter. Im frühen Kindesalter ist vieles durch frühe Erfahrungen und Prägungserlebnisse veränderbar. Unsere Persönlichkeit stabilisiert sich zunehmend bis etwa zum sechzehnten Lebensjahr. Danach haben wir nur noch begrenzte Veränderungsmöglichkeiten, die nicht mehr den Kern unserer Persönlichkeit betreffen. Der Aufwand, der für eine Veränderung betrieben werden muss, steigt zunehmend. Uns zu verändern wird immer unbequemer? Persönlichkeitspsychologen sind der Ansicht, dass wir uns ab dem späten Jugendalter nicht mehr so sehr neuen Lebensumständen anpassen, sondern uns eher diejenigen Umstände suchen, die zu unserer Persönlichkeit passen. Umgekehrt heißt das: je früher wir uns ändern, desto leichter tun wir uns?  Es ist richtig, dass Änderungen in der Persönlichkeit umso leichter erfolgen, je früher sie geschehen – zum Teil finden sie schon vorgeburtlich statt. Allerdings vollzieht sich dies in der Regel nicht aus freiem Willen, sondern unter dem Einfluss der individuellen und sozialen Umwelt, insbesondere der frühkindlichen Bindungserfahrung. Deshalb kann man nicht von einer bewussten Veränderung sprechen. Was ist der evolutionäre Hintergedanke dabei, dass wir uns gar nicht so stark selbst formen können, wie wir das vermutlich glauben? Jede Gemeinschaft beruht auf einer hohen Verlässlichkeit und Vorausschaubarkeit des Verhaltens ihrer Individuen. Unsere Gesellschaft könnte nicht bestehen, wenn wir uns alle jederzeit stark ändern würden – ob nun aus innerem Antrieb oder aufgrund äußerlicher Einflüsse. Junge Menschen erlangen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit zunehmend eine Stabilität des Handelns – wir nennen das „Erwachsenwerden“. Genau das bezwecken schließlich auch gesellschaftliche Normen. Sind wir so programmiert, dass wir auf Veränderungen, die von außen auf uns Einfluss nehmen, am liebsten mit Anpassung reagieren? Veränderungen werden in der Tat meist von außen angestoßen. Wir folgen ihnen dann innerhalb des weiten oder engen Rahmens, den unsere Persönlichkeit vorgibt. Die meisten Menschen verändern sich bei Herausforderungen nur wenig, sie versuchen, ihnen durch Ausweichen zu entgehen, indem sie günstigere Bedingungen suchen. Was nach Anpassung aussieht, ist oft nur Vermeidung. Formt uns unser Umfeld stärker als wir annehmen? Das Ausmaß der Fähigkeit zur Veränderung ist Teil unserer Persönlichkeit: Während manche Menschen Veränderungen lieben, mögen die meisten keine allzu tiefgreifenden. Es gibt allerdings auch eine gewisse soziokulturelle Umwelt,
die Veränderungen unterstützt oder erschwert. So sind US-Amerikaner eher veränderungsgeneigt und Deutsche eher veränderungsaversiv – in beiden Fällen wohl aus geschichtlichen Gründen. Wie steht es denn um unsere Vernunft – helfen gute Argumente für Veränderungen? Gute Argumente appellieren an unseren Verstand, der ohne eine bewusste oder unbewusste emotionale Verstärkung keinen eigenen Einfluss auf unser Verhalten hat. Und schließlich handelt es sich auch nur um unsere eigenen Argumente. Wir glauben irrtmlicherweise, es gäbe eine überindividuelle Ratio. Aber was dem einen höchst einleuchtend vorkommt, muss es einem anderen noch lange nicht tun. Ist das nicht ein niederschmetternder Befund? Nur bei oberflächlicher Betrachtung – denn was uns am besten antreibt, ist über Jahre oder Jahrzehnte erworbene Erfahrung, die oft als Intuition oder Gefühl vorliegt. Gedanken kommen und gehen, unsere Erfahrung bleibt. Tun sich neugierige oder phantasievolle Menschen eigentlich leichter damit, Veränderungen anzustoßen? Es gehört zum Naturell dieser offenen Menschen, dass ihnen Veränderungen grundsätzlich gefallen. Sie langweilen sich aber auch schneller. Und Empathie – kann man sie trainieren oder erlernen? Wir haben eine angeborene Neigung zu Empathie. Sie muss aber durch die frühkindliche Bindungserfahrung bestärkt werden. Geschieht dies nicht, kann man Empathie später nur noch sehr begrenzt trainieren. Es wird zum Beispiel bei Gewaltverbrechern versucht, bleibt aber meist zwecklos. Was ist davon zu halten, wenn uns Freunde oder Kollegen berichten, dass sie sich stark verändert haben? Das kommt auf die Gründe an. Manche Menschen ändern sich tatsächlich, weil sie tiefgreifende oder langanhaltende langanhaltende positive oder insbesondere negative Erfahrungen gemacht haben. Die meisten Menschen verwechseln aber eine relativ oberflächliche Veränderung – einen neuen Wohnort, einen neuen Job oder einen neuen Partner – mit Veränderungen in der Struktur ihrer Persönlichkeit. Die ändert sich im Erwachsenenalter nur schwer und langsam. Gibt es ideale Voraussetzungen, damit positive und nachhaltige Veränderungen geschehen? Es gibt im Grunde nur zwei Bedingungen für eine tiefgreifende Veränderung unserer Persönlichkeit. Ein schockartiges Erlebnis, das uns zur Umkehr bringt, oder jahrelange Einwirkungen von irgendwo her – meist vom Partner. Aber auch das funktioniert nicht verlässlich, denn ein jahrelang nörgelndes Gegenüber kann einen schließlich auch dazu bringen, die Koffer zu packen. Das schockartige Erlebnis würde immerhin die biblische Geschichte erklären, wie aus Saulus auf einmal Paulus wurde... Saulus war allem Anschein nach Epileptiker und hatte einen „großen Anfall“ vor Damaskus. Dazu passt der in der Apostelgeschichte überlieferte Bericht einer Erscheinung mit Stimme – die meisten Propheten aller Offenbarungsreligionen berichten davon. Eine derartige Erscheinung lsst sich wissenschaftlich beschreiben? Ja. In der Großhirnrinde fallen hemmende Mechanismen, die sogenannten inhibitorischen Nervenzellen, aus und es kommt zu einem regelrechten Erregungssturm. Das kann auch lokal geschehen, beispielsweise im rechten Schläfenlappen, wo Nervennetze lokalisiert sind, die mit Empathie, Bindung und starken, oft religiösen Gefühlen, mit Erleuchtung, Ekstase und visuellen und auditorischen Halluzinationen zu tun haben. Wird dort starke Erregung ausgelöst, kommt es bei Persönlichkeiten, die schon zuvor sehr religiös orientiert waren, zu Offenbarungshalluzinationen. Das Ganze kann sich auch bei sensorischer Isolation ergeben – wenn also „heilige Männer“ lange völlig zurückgezogen in der Wüste leben. Sensorische Isolation bringt die Eigenaktivität des Gehirns zum überborden. Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, wachen wir auf und verändern uns. Können Sie als Hirnforscher dieser These zustimmen? Ja! Die meisten Menschen ändern sich nur, wenn ihnen die „Schiete bis zum Hals steht“ – Leidensdruck ist sehr wichtig für Veränderungen. Heißt das, Krisenzeiten sind gute Zeiten, um Veränderungen in Gang zu bringen? Wahrscheinlich, obwohl uns das nicht besonders gefällt. Politisch- gesellschaftliche Krisenzeiten waren meist kulturelle und intellektuelle Blütezeiten – beispielsweise die Weimarer Republik vor den Nazis. Die Menschen werden dann stärker mit Herausforderungen konfrontiert. Neurowissenschaftlich betrachtet: Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie die politische Gestaltungsmacht hätten? Ich würde in der Früherziehung der Kinder und in der Schule ansetzen, denn dort können Menschen sich noch gut entwickeln. Gerade junge Menschen sollten heute offener und toleranter, neugieriger und selbstbestimmter werden. Und verantwortungsvoller. Viele Deutsche hängen zu sehr an den Dienstleistungen des Sozialstaats und fürchten sich vor Veränderungen – was man gerade drastisch sieht. Insgesamt muss man dagegen etwas tun, denn Veränderungsangst lähmt das Denken und die Kreativität. Quelle: Das Magazin der Grünen – Mitgliederzeitschrift für bündnisgrüne Politik Nr. 1, ISSN 1434-3835
GERHARD ROTH ist Neurobiologe und Hirnforscher an der Universität Bremen. Fr seine Verdienste in der Wissenschaft und die Förderung von Schülern aus bildungsfernen Elternhusern wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Siegfried Trapp
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ZUM BEISPIEL ERINNERUNG Veränderung fällt schwer: Die Neurobiologie hat festgestellt, dass sich unsere Persönlichkeit durch jahrelange Erfahrungen festigt. Wie bleibt man dennoch offen für Neues? Der Hirnforscher Gerhard Roth sieht dafür zwei Voraussetzungen: Positive Einwirkungen und einen langen Atem. Interview: Philipp Hauner
Herr Roth, trotz guter Vorsätze gelingt es uns oft nicht, geplante Veränderungen auch umzusetzen. Haben Sie dafür eine Erklärung?  Zwischen dem Willen, sich zu verändern und der tatsächlichen Realisierung liegen Prozesse der Überprüfung. Sie spielen sich in unserem vorbewussten und unbewussten Erfahrungs-gedächtnis ab. Dort werden Veränderungswünsche im Lichte vergangener Erfahrungen beurteilt und anschließend entscheidet sich, ob sie tatsächlich realisiert werden. Es mag also längst vergessene Erfahrungen, unbewusste Motive oder gar Zwänge geben, die Veränderungen entgegenstehen. Was geschieht aus neurowissenschaftlicher Sicht, wenn wir neue Erfahrungen machen? Alles, was wir erleben oder tun, wird vom Gehirn nach seinen Folgen bewertet. Luft etwas gut, so wird an die Erinnerung der Ausstoß von Belohnungsstoffen gehängt, das sind sogenannte hirneigene Opioide und Cannabinoide, und wir fühlen uns prächtig. Gleichzeitig wird das Ganze mit einem Signal des Botenstoffs Dopamin versehen – das treibt uns zusammen mit den gespeicherten Gedächtnisinhalten an, Dinge zu wiederholen, die zumindest einmal gut gelaufen sind. Bei negativen Erfahrungen läuft das über andere Stoffe ähnlich und resultiert in Vermeidungsverhalten. Unser Gehirn macht uns also zu Wiederholungstätern. Werden wir deshalb Gewohnheiten wie das Rauchen nur schwer wieder los? Nikotin ist bekanntlich eine Droge und ebenso wie Alkohol und künstliche Drogen wirkt es als Belohnungsstoff außerordentlich viel stärker als die Selbstbelohnungsstoffe des Gehirns. Deshalb wird der Drang, das dadurch Belohnte wieder zu tun oder wieder zu erleben, übermächtig und damit zur Sucht. Allerdings lässt die Wirkung oft schnell nach und was bleibt, ist der Entzugsschmerz, der dann über die erneute Einnahme der Droge vorübergehend gelindert wird. Eine Sucht verstellt nachhaltig Netzwerke im Belohnungssystem des Gehirns. Daher ist sie nur sehr schwer zu beseitigen. Angenommen, wir haben die angestrebten Veränderungen erreicht – können wir uns denn darauf verlassen, dass sie Bestand haben werden? Verhaltensmuster bleiben im Gehirn grundsätzlich bestehen und werden auch durch Verhaltensänderungen niemals ausgelöscht, sondern nur überlernt. Das ist immer eine wackelige Sache – und unter besonderen Belastungs- oder Bedürfnisbedingungen fällt man wieder in die alten Muster zurück. Sie konnten zeigen, dass nur zwanzig Prozent unserer Persönlichkeit formbar sind – welche sind das? Dieser Wert bezieht sich auf die Situation im Erwachsenenalter. Im frühen Kindesalter ist vieles durch frühe Erfahrungen und Prägungserlebnisse veränderbar. Unsere Persönlichkeit stabilisiert sich zunehmend bis etwa zum sechzehnten Lebensjahr. Danach haben wir nur noch begrenzte Veränderungsmöglichkeiten, die nicht mehr den Kern unserer Persönlichkeit betreffen. Der Aufwand, der für eine Veränderung betrieben werden muss, steigt zunehmend. Uns zu verändern wird immer unbequemer? Persönlichkeitspsychologen sind der Ansicht, dass wir uns ab dem späten Jugendalter nicht mehr so sehr neuen Lebensumständen anpassen, sondern uns eher diejenigen Umstände suchen, die zu unserer Persönlichkeit passen. Umgekehrt heißt das: je früher wir uns ändern, desto leichter tun wir uns?  Es ist richtig, dass Änderungen in der Persönlichkeit umso leichter erfolgen, je früher sie geschehen – zum Teil finden sie schon vorgeburtlich statt. Allerdings vollzieht sich dies in der Regel nicht aus freiem Willen, sondern unter dem Einfluss der individuellen und sozialen Umwelt, insbesondere der frühkindlichen Bindungserfahrung. Deshalb kann man nicht von einer bewussten Veränderung sprechen. Was ist der evolutionäre Hintergedanke dabei, dass wir uns gar nicht so stark selbst formen können, wie wir das vermutlich glauben? Jede Gemeinschaft beruht auf einer hohen Verlässlichkeit und Vorausschaubarkeit des Verhaltens ihrer Individuen. Unsere Gesellschaft könnte nicht bestehen, wenn wir uns alle jederzeit stark ändern würden – ob nun aus innerem Antrieb oder aufgrund äußerlicher Einflüsse. Junge Menschen erlangen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit zunehmend eine Stabilität des Handelns – wir nennen das „Erwachsenwerden“. Genau das bezwecken schließlich auch gesellschaftliche Normen. Sind wir so programmiert, dass wir auf Veränderungen, die von außen auf uns Einfluss nehmen, am liebsten mit Anpassung reagieren? Veränderungen werden in der Tat meist von außen angestoßen. Wir folgen ihnen dann innerhalb des weiten oder engen Rahmens, den unsere Persönlichkeit vorgibt. Die meisten Menschen verändern sich bei Herausforderungen nur wenig, sie versuchen, ihnen durch Ausweichen zu entgehen, indem sie günstigere Bedingungen suchen. Was nach Anpassung aussieht, ist oft nur Vermeidung. Formt uns unser Umfeld stärker als wir annehmen? Das Ausmaß der Fähigkeit zur Veränderung ist Teil unserer Persönlichkeit: Während manche Menschen Veränderungen lieben, mögen die meisten keine allzu tiefgreifenden. Es gibt allerdings auch eine gewisse soziokulturelle Umwelt, die Veränderungen unterstützt oder erschwert. So sind US-Amerikaner eher veränderungsgeneigt und Deutsche eher veränderungsaversiv – in beiden Fällen wohl aus geschichtlichen Gründen. Wie steht es denn um unsere Vernunft – helfen gute Argumente für Veränderungen? Gute Argumente appellieren an unseren Verstand, der ohne eine bewusste oder unbewusste emotionale Verstärkung keinen eigenen Einfluss auf unser Verhalten hat. Und schließlich handelt es sich auch nur um unsere eigenen Argumente. Wir glauben irrtmlicherweise, es gäbe eine überindividuelle Ratio. Aber was dem einen höchst einleuchtend vorkommt, muss es einem anderen noch lange nicht tun. Ist das nicht ein niederschmetternder Befund? Nur bei oberflächlicher Betrachtung – denn was uns am besten antreibt, ist über Jahre oder Jahrzehnte erworbene Erfahrung, die oft als Intuition oder Gefühl vorliegt. Gedanken kommen und gehen, unsere Erfahrung bleibt. Tun sich neugierige oder phantasievolle Menschen eigentlich leichter damit, Veränderungen anzustoßen? Es gehört zum Naturell dieser offenen Menschen, dass ihnen Veränderungen grundsätzlich gefallen. Sie langweilen sich aber auch schneller.
Und Empathie – kann man sie trainieren oder erlernen? Wir haben eine angeborene Neigung zu Empathie. Sie muss aber durch die frühkindliche Bindungserfahrung bestärkt werden. Geschieht dies nicht, kann man Empathie später nur noch sehr begrenzt trainieren. Es wird zum Beispiel bei Gewaltverbrechern versucht, bleibt aber meist zwecklos. Was ist davon zu halten, wenn uns Freunde oder Kollegen berichten, dass sie sich stark verändert haben? Das kommt auf die Gründe an. Manche Menschen ändern sich tatsächlich, weil sie tiefgreifende oder langanhaltende langanhaltende positive oder insbesondere negative Erfahrungen gemacht haben. Die meisten Menschen verwechseln aber eine relativ oberflächliche Veränderung – einen neuen Wohnort, einen neuen Job oder einen neuen Partner – mit Veränderungen in der Struktur ihrer Persönlichkeit. Die ändert sich im Erwachsenenalter nur schwer und langsam. Gibt es ideale Voraussetzungen, damit positive und nachhaltige Veränderungen geschehen? Es gibt im Grunde nur zwei Bedingungen für eine tiefgreifende Veränderung unserer Persönlichkeit. Ein schockartiges Erlebnis, das uns zur Umkehr bringt, oder jahrelange Einwirkungen von irgendwo her – meist vom Partner. Aber auch das funktioniert nicht verlässlich, denn ein jahrelang nörgelndes Gegenüber kann einen schließlich auch dazu bringen, die Koffer zu packen. Das schockartige Erlebnis würde immerhin die biblische Geschichte erklären, wie aus Saulus auf einmal Paulus wurde... Saulus war allem Anschein nach Epileptiker und hatte einen „großen Anfall“ vor Damaskus. Dazu passt der in der Apostelgeschichte überlieferte Bericht einer Erscheinung mit Stimme – die meisten Propheten aller Offenbarungsreligionen berichten davon. Eine derartige Erscheinung lsst sich wissenschaftlich beschreiben? Ja. In der Großhirnrinde fallen hemmende Mechanismen, die sogenannten inhibitorischen Nervenzellen, aus und es kommt zu einem regelrechten Erregungssturm. Das kann auch lokal geschehen, beispielsweise im rechten Schläfenlappen, wo Nervennetze lokalisiert sind, die mit Empathie, Bindung und starken, oft religiösen Gefühlen, mit Erleuchtung, Ekstase und visuellen und auditorischen Halluzinationen zu tun haben. Wird dort starke Erregung ausgelöst, kommt es bei Persönlichkeiten, die schon zuvor sehr religiös orientiert waren, zu Offenbarungshalluzinationen. Das Ganze kann sich auch bei sensorischer Isolation ergeben – wenn also „heilige Männer“ lange völlig zurückgezogen in der Wüste leben. Sensorische Isolation bringt die Eigenaktivität des Gehirns zum überborden. Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, wachen wir auf und verändern uns. Können Sie als Hirnforscher dieser These zustimmen? Ja! Die meisten Menschen ändern sich nur, wenn ihnen die „Schiete bis zum Hals steht“ – Leidensdruck ist sehr wichtig für Veränderungen. Heißt das, Krisenzeiten sind gute Zeiten, um Veränderungen in Gang zu bringen? Wahrscheinlich, obwohl uns das nicht besonders gefällt. Politisch- gesellschaftliche Krisenzeiten waren meist kulturelle und intellektuelle Blütezeiten – beispielsweise die Weimarer Republik vor den Nazis. Die Menschen werden dann stärker mit Herausforderungen konfrontiert. Neurowissenschaftlich betrachtet: Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie die politische Gestaltungsmacht hätten? Ich würde in der Früherziehung der Kinder und in der Schule ansetzen, denn dort können Menschen sich noch gut entwickeln. Gerade junge Menschen sollten heute offener und toleranter, neugieriger und selbstbestimmter werden. Und verantwortungsvoller. Viele Deutsche hängen zu sehr an den Dienstleistungen des Sozialstaats und fürchten sich vor Veränderungen – was man gerade drastisch sieht. Insgesamt muss man dagegen etwas tun, denn Veränderungsangst lähmt das Denken und die Kreativität. Quelle: Das Magazin der Grünen – Mitgliederzeitschrift für bündnisgrüne Politik Nr. 1, ISSN 1434-3835
GERHARD ROTH ist Neurobiologe und Hirnforscher an der Universität Bremen. Fr seine Verdienste in der Wissenschaft und die Förderung von Schülern aus bildungsfernen Elternhusern wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.
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