Hat das Universum einen Rand? Die Unendlichkeit ist für viele Menschen unfassbar. Der Kosmologe und Erfolgsautor John Barrow hat damit keine Schwierigkeiten. Ein Gespräch über den Urknall, das Rechnen mit der Grenzenlosigkeit und den Schrecken ewigen Lebens   Gibt es in der wirklichen Welt etwas Unendliches?   Traditionell unterscheidet man zwei Sorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit im sehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristoteles unterscheidet man zudem zwischen der potenziellen Unendlichkeit und der aktualen Unendlichkeit. Mit der potenziellen konnte Aristoteles gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge, die niemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und so weiter. »Für immer«, sagen wir und wissen, dass wir immer 1 addieren können und nie zu einem Ende kommen. Ähnlich ist es in der Astronomie. Im Moment spricht alles dafür, dass das Universum unendlich groß ist.   Ist das nicht auch potenziell?   Ja, denn das sind Unendlichkeiten, die einem nie real begegnen. Viel ungewöhnlicher ist die Idee einer aktualen Unendlichkeit. Ob also eine physikalisch messbare Größe zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort einen unendlichen Wert annimmt. Und das ist eine umstrittene und heftig diskutierte Frage.   Gibt es diese aktualen Unendlichkeiten nun irgendwo im Universum?   In den meisten Bereichen der Wissenschaft sind die Forscher nicht gerade glücklich, wenn in ihren Theorien und Voraussagen solche aktualen Unendlichkeiten auftauchen. In der Aerodynamik zum Beispiel: Wenn man dort ausrechnet, dass sich ein Luftstrom unendlich schnell verändert, dann schließt man daraus, dass man die falsche Mathematik gewählt hat, um die Physik dieses Luftstroms zu berechnen.   Es heißt ja, die Natur mache keine Sprünge.   Genau – jedenfalls keine unendlichen! Wenn man eine Peitsche knallen lässt, dann gibt es einen Überschallknall, das Ende der Peitsche bewegt sich schneller als der Schall. Wenn man das einfach mathematisch beschreibt, dann bekommt man eine unendlich große Geschwindigkeitsänderung zum Zeitpunkt des Knalls. Aber wenn man die Luftreibung berücksichtigt, dann glättet das diese Unendlichkeit, und man bekommt nur eine sehr schnelle Änderung. In der Teilchenphysik hat sich die revolutionäre String-Theorie auch deshalb durchgesetzt, weil Michael Green und John Schwartz in den frühen achtziger Jahren zeigen konnten, dass diese Theorie endlich ist. Alle vorhergehenden Theorien haben immer unendliche Antworten auf alle möglichen Fragen nach beobachtbaren Größen geliefert.   Betrachtet man das Universum ganz naiv, dann gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass es sich nicht unendlich in die Vergangenheit, die Zukunft und auch den Raum erstreckt. Oder dass man die Materie immer weiter teilen kann…   Das war schon bei den alten Griechen eine kontrovers diskutierte Frage. Die Atomisten glaubten, es gebe kleinste Teile der Materie. Die ganze Materie sei aus diesen Elementarteilchen aufgebaut.   Aber das war ein rein philosophischer Streit.   Die Frage nach der Unendlichkeit des Universums war sehr kompliziert, sie war verknüpft mit der Frage, ob es einen leeren Raum, ein Vakuum, geben könne. Aristoteles glaubte, dass sich die Dinge in einem perfekten Vakuum mit unendlicher Geschwindigkeit bewegen würden. Für ihn war die Existenz eines perfekten Vakuums verknüpft mit der Frage nach einer tatsächlich existierenden Unendlichkeit.   Beim Gedanken an ein endliches Universum fragte man sich immer, was denn wohl außerhalb davon wäre.   Die Vorstellung eines endlichen Universums war für mich immer sehr seltsam. Im 4. vorchristlichen Jahrhundert formulierte der Soldat und Philosoph Archytas von Tarent folgendes Paradox: Wenn das Universum endlich ist, muss es einen Rand geben. Und wenn man kurz vor diesem Rand steht und einen Speer wirft – was würde mit dem passieren, wenn er über den Rand hinausfliegt? Er glaubte wirklich, ein endliches Universum müsse einen Rand haben.   Dann haben sich Physik und Naturwissenschaften weiterentwickelt, und man entdeckte plötzlich viele Endlichkeiten: die Theorie vom Big Bang, nach der das Universum ein endliches Alter hat, die Elementarteilchen. Das hat die Unendlichkeit aus dem Blickfeld verdrängt.   Andererseits ist der Big Bang ein interessantes Beispiel, bei dem man tatsächlich aktuale Unendlichkeiten findet. Die Expertenmeinung darüber ist geteilt: Es gibt Kosmologen, die mit physikalischen Unendlichkeiten gut leben können, etwa einer aktualen Unendlichkeit am Anfang des Universums – wenn es einen solchen Anfang gab. Andere nehmen den Gegenstandpunkt ein und sagen: Das ist nur eine Vorhersage von Einsteins Relativitätstheorie, und wenn man eine bessere Theorie hat, etwa die String-Theorie, dann verschwinden diese Unendlichkeiten.   Wie sieht es bei einem Schwarzen Loch aus?   Auch im Zentrum eines Schwarzen Lochs passiert Ungewöhnliches, eine Art umgekehrter Big Bang. Diese Singularität im Zentrum ist ein unendlich dichter Punkt. Er kann keine Wirkung auf die Außenwelt ausüben, wegen des Horizonts des Schwarzen Lochs. Signale können nicht nach draußen und uns beeinflussen.   Wäre das die »kosmische Zensur«?   Ja. Wenn im Universum eine unendliche Singularität entsteht, dann ist sie immer durch einen solchen Horizont abgeschirmt. Es können keine Informationen herauskommen und die Außenwelt beeinflussen, es gibt keine so genannten »nackten« Singularitäten. Das ist also wieder so eine Situation, wo eine Unendlichkeit im Universum existieren könnte – aber selbst wenn es sie gibt, dann verhindert eine Art Verschwörung der Natur, dass wir sie je zu Gesicht bekommen und, noch wichtiger, dass sie einen Einfluss auf uns hat. Das erinnert mich ein wenig an die mittelalterlichen Philosophen. Sie wollten die Existenz eines reinen Vakuums in der Natur dadurch verhindern, dass sie einen mysteriösen »himmlischen Agenten« auf den Plan riefen.   Wäre dann die Frage wieder rein philosophisch – man kann das eine oder das andere glauben, ohne es experimentell beweisen oder widerlegen zu können?   Ein sehr kleines Schwarzes Loch, etwa so groß wie ein Berg, das in der Anfangszeit des Universums entstanden ist, wäre heute im letzten Stadium seines Verdampfens und würde explodieren. Das könnten wir beobachten, in Form von Gamma-Blitzen. Würden wir so etwas je beobachten, könnten wir auch sehen, was nach der Explosion übrig bleibt. Und eine Möglichkeit wäre, dass dort eine wirkliche Singularität ist. Oder aber auch nur ein kleines, totes Objekt oder auch überhaupt nichts. Es wäre also prinzipiell möglich, das letzte Stadium dieses singulären Ereignisses zu beobachten. Eine physikalische Unendlichkeit, die wir bisher nur mathematisch beschreiben können.   In der Schule wird uns Unendlichkeit immer ganz selbstverständlich präsentiert – es gibt halt unendlich viele Primzahlen, unendliche Folgen mit Grenzwerten und so weiter. Dabei wird unterschlagen, dass Unendlichkeit einmal eine sehr umstrittene Sache war.   Normale Menschen verstehen unter »Unendlich« so etwas wie eine sehr, sehr große Zahl. Aber Unendlich ist nicht wie irgendeine endliche Zahl, sei sie auch noch so groß. Das so genannte Hilbert-Hotel ist ein schönes Beispiel dafür. Dieses Hotel hat unendlich viele Zimmer, die nacheinander mit 1, 2, 3, 4 und so weiter nummeriert sind. Und selbst wenn es voll ist, kann man immer noch ein freies Zimmer finden. Man quartiert die Person von Zimmer 1 in Zimmer 2 um, die von Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter – dann ist Zimmer 1 frei. Bei einem endlichen Hotel geht das nicht – wenn es voll ist, ist es voll.   Sie haben einen Artikel geschrieben mit dem Titel  “Wie man schon vor dem Frühstück unendlich viele Dinge tun kann”. Was darf man sich darunter vorstellen?   Das geht zurück auf das Paradox von Zeno und die Frage, ob man in endlicher Zeit unendlich viele Dinge tun kann – man nennt das einen supertask. Wenn Sie durch Ihr Büro gehen, müssen Sie erst das halbe Zimmer durchqueren und dann die Hälfte der restlichen Hälfte und so weiter – eine unendliche Zahl von Handlungen? Im 20. Jahrhundert übertrug der deutsche Mathematiker Hermann Weyl dieses logische Paradox auf die Physik: Kann man eine Maschine bauen, die etwas in einer halben Minute tut, das Nächste in einer Viertelminute und so weiter, sodass sie nach einer Minute unendlich viele Dinge getan hat? Die Leute versuchten zu zeigen, dass das in einer idealisierten physikalischen Welt möglich oder unmöglich war. In meinem Artikel konstruiere ich ein physikalisches System aus vier Teilchen und zeige, dass es in der Newtonschen Physik tatsächlich möglich ist, unendlich viele Dinge in endlicher Zeit zu tun – auch wenn die Ausgangsbedingungen extrem unrealistisch sind.   Aber das Beispiel verletzt die Gesetze von Einsteins Relativitätstheorie.   Stimmt.   Ist das nicht immer so mit diesen geschickt konstruierten Beispielen – am Ende hat die Sache irgendeinen Haken, der ihre Realisierung verhindert?   Nach den Gesetzen der Relativitätstheorie gibt es immerhin »schwache«  – man sieht, wie unendlich viele Dinge in einem anderen Bezugssystem geschehen, aber man kann darauf nicht einwirken. Die wirkliche Frage ist: Könnten Sie zum Beispiel Ihren Laptop auf eine Reise ins All schicken – und wenn er auf die Erde zurückkehrt, hat er unendlich viele Rechnungen durchgeführt?   Die Antwort lautet Nein, oder?   Nun, sie lautet: Die allgemeine Relativitätstheorie sagt Ja, es gibt Lösungen der Einsteinschen Gleichungen, für die das möglich ist, so wie es auch Lösungen gibt, nach denen Zeitreisen möglich sind. Die Frage ist, ob diese Lösungen physikalisch realistisch sind. Sie sehen in vielerlei Hinsicht unrealistisch oder auch unerwünscht aus. Eine davon ist der so genannte Anti-de-Sitter-Raum, ADS. Und der fünfdimensionale ADS ist im Wesentlichen die Lösung zu den Gleichungen der String-Theorie. Das ist interessant. Man kann diese Dinge nach den Gesetzen der Relativität also zumindest nicht sofort ausschließen. Es ist auch möglich, dass die Quantentheorie im Weg steht. Dass eine Rechnung, die eine bestimmte Geschwindigkeit übersteigt, unter die Unschärferelation fällt und das Ergebnis nicht aufzulösen ist. Ich glaube, man kann in endlicher Zeit nicht unendlich viele Dinge tun. Aber einen Beweis dafür gibt es bisher nicht.   Sie haben auch ein Schauspiel mit dem Titel  geschrieben, das in Italien erfolgreich aufgeführt wurde. In dem Stück kommen Menschen vor, die unendlich lange leben. Und Sie stellen das als eine recht langweilige Vorstellung hin. Aber Sie hätten nichts dagegen, sehr lange zu leben?   Das kommt drauf an, was man unter »leben« versteht. Denken Sie an die Geschichte von dem Menschen, der die Götter um ewiges Leben bat, aber vergaß, auch um ewige Jugend zu bitten! Und ich denke immer an den Ausspruch von Woody Allen: »Ich möchte nicht in den Herzen meiner Landsleute weiterleben. Ich möchte in meiner Wohnung weiterleben.«   John Barrow ist ein Multitalent: Der 53-Jährige ist Professor für Mathematik und theoretische Physik an der englischen Universität Cambridge und leitet das Millennium Mathematics Project, das den Mathematik-Unterricht an Schulen fördern soll. Außerdem hat der Vielschreiber (seine Publikationsliste umfasst weit über 300 Titel) 16 Bücher geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. Darin widmet er sich mit Vorliebe Fragen, die die Grenzen unserer Vorstellungskraft ausloten. Vor der Unendlichkeit hat er sich vor allem mit den Theorien vom Ursprung des Universums befasst, etwa mit der Frage, ob neben unserem Weltall noch eine Vielzahl von Paralleluniversen entstanden ist. Auch in der fiktionalen Literatur hat Barrow sich versucht: Sein Theaterstück »Infinities« gewann 2002 in Italien den Theaterpreis Premi Ubu. Quelle: „Zeit Online“ 12/2005
Siegfried Trapp
Willkommen Bienvenido Welcome  
© strapp 2011
strapp.de durchsuchen:
Hat das Universum einen Rand? Die Unendlichkeit ist für viele Menschen unfassbar. Der Kosmologe und Erfolgsautor John Barrow hat damit keine Schwierigkeiten. Ein Gespräch über den Urknall, das Rechnen mit der Grenzenlosigkeit und den Schrecken ewigen Lebens   Gibt es in der wirklichen Welt etwas Unendliches?   Traditionell unterscheidet man zwei Sorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit im sehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristoteles unterscheidet man zudem zwischen der potenziellen Unendlichkeit und der aktualen Unendlichkeit. Mit der potenziellen konnte Aristoteles gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge, die niemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und so weiter. »Für immer«, sagen wir und wissen, dass wir immer 1 addieren können und nie zu einem Ende kommen. Ähnlich ist es in der Astronomie. Im Moment spricht alles dafür, dass das Universum unendlich groß ist.   Ist das nicht auch potenziell?   Ja, denn das sind Unendlichkeiten, die einem nie real begegnen. Viel ungewöhnlicher ist die Idee einer aktualen Unendlichkeit. Ob also eine physikalisch messbare Größe zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort einen unendlichen Wert annimmt. Und das ist eine umstrittene und heftig diskutierte Frage.   Gibt es diese aktualen Unendlichkeiten nun irgendwo im Universum?   In den meisten Bereichen der Wissenschaft sind die Forscher nicht gerade glücklich, wenn in ihren Theorien und Voraussagen solche aktualen Unendlichkeiten auftauchen. In der Aerodynamik zum Beispiel: Wenn man dort ausrechnet, dass sich ein Luftstrom unendlich schnell verändert, dann schließt man daraus, dass man die falsche Mathematik gewählt hat, um die Physik dieses Luftstroms zu berechnen.   Es heißt ja, die Natur mache keine Sprünge.   Genau – jedenfalls keine unendlichen! Wenn man eine Peitsche knallen lässt, dann gibt es einen Überschallknall, das Ende der Peitsche bewegt sich schneller als der Schall. Wenn man das einfach mathematisch beschreibt, dann bekommt man eine unendlich große Geschwindigkeitsänderung zum Zeitpunkt des Knalls. Aber wenn man die Luftreibung berücksichtigt, dann glättet das diese Unendlichkeit, und man bekommt nur eine sehr schnelle Änderung. In der Teilchenphysik hat sich die revolutionäre String- Theorie auch deshalb durchgesetzt, weil Michael Green und John Schwartz in den frühen achtziger Jahren zeigen konnten, dass diese Theorie endlich ist. Alle vorhergehenden Theorien haben immer unendliche Antworten auf alle möglichen Fragen nach beobachtbaren Größen geliefert.   Betrachtet man das Universum ganz naiv, dann gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass es sich nicht unendlich in die Vergangenheit, die Zukunft und auch den Raum erstreckt. Oder dass man die Materie immer weiter teilen kann…   Das war schon bei den alten Griechen eine kontrovers diskutierte Frage. Die Atomisten glaubten, es gebe kleinste Teile der Materie. Die ganze Materie sei aus diesen Elementarteilchen aufgebaut.   Aber das war ein rein philosophischer Streit.   Die Frage nach der Unendlichkeit des Universums war sehr kompliziert, sie war verknüpft mit der Frage, ob es einen leeren Raum, ein Vakuum, geben könne. Aristoteles glaubte, dass sich die Dinge in einem perfekten Vakuum mit unendlicher Geschwindigkeit bewegen würden. Für ihn war die Existenz eines perfekten Vakuums verknüpft mit der Frage nach einer tatsächlich existierenden Unendlichkeit.   Beim Gedanken an ein endliches Universum fragte man sich immer, was denn wohl außerhalb davon wäre.   Die Vorstellung eines endlichen Universums war für mich immer sehr seltsam. Im 4. vorchristlichen Jahrhundert formulierte der Soldat und Philosoph Archytas von Tarent folgendes Paradox: Wenn das Universum endlich ist, muss es einen Rand geben. Und wenn man kurz vor diesem Rand steht und einen Speer wirft – was würde mit dem passieren, wenn er über den Rand hinausfliegt? Er glaubte wirklich, ein endliches Universum müsse einen Rand haben.   Dann haben sich Physik und Naturwissenschaften weiterentwickelt, und man entdeckte plötzlich viele Endlichkeiten: die Theorie vom Big Bang, nach der das Universum ein endliches Alter hat, die Elementarteilchen. Das hat die Unendlichkeit aus dem Blickfeld verdrängt.   Andererseits ist der Big Bang ein interessantes Beispiel, bei dem man tatsächlich aktuale Unendlichkeiten findet. Die Expertenmeinung darüber ist geteilt: Es gibt Kosmologen, die mit physikalischen Unendlichkeiten gut leben können, etwa einer aktualen Unendlichkeit am Anfang des Universums – wenn es einen solchen Anfang gab. Andere nehmen den Gegenstandpunkt ein und sagen: Das ist nur eine Vorhersage von Einsteins Relativitätstheorie, und wenn man eine bessere Theorie hat, etwa die String-Theorie, dann verschwinden diese Unendlichkeiten.   Wie sieht es bei einem Schwarzen Loch aus?   Auch im Zentrum eines Schwarzen Lochs passiert Ungewöhnliches, eine Art umgekehrter Big Bang. Diese Singularität im Zentrum ist ein unendlich dichter Punkt. Er kann keine Wirkung auf die Außenwelt ausüben, wegen des Horizonts des Schwarzen Lochs. Signale können nicht nach draußen und uns beeinflussen.   Wäre das die »kosmische Zensur«?   Ja. Wenn im Universum eine unendliche Singularität entsteht, dann ist sie immer durch einen solchen Horizont abgeschirmt. Es können keine Informationen herauskommen und die Außenwelt beeinflussen, es gibt keine so genannten »nackten« Singularitäten. Das ist also wieder so eine Situation, wo eine Unendlichkeit im Universum existieren könnte – aber selbst wenn es sie gibt, dann verhindert eine Art Verschwörung der Natur, dass wir sie je zu Gesicht bekommen und, noch wichtiger, dass sie einen Einfluss auf uns hat. Das erinnert mich ein wenig an die mittelalterlichen Philosophen. Sie wollten die Existenz eines reinen Vakuums in der Natur dadurch verhindern, dass sie einen mysteriösen »himmlischen Agenten« auf den Plan riefen.   Wäre dann die Frage wieder rein philosophisch – man kann das eine oder das andere glauben, ohne es experimentell beweisen oder widerlegen zu können?   Ein sehr kleines Schwarzes Loch, etwa so groß wie ein Berg, das in der Anfangszeit des Universums entstanden ist, wäre heute im letzten Stadium seines Verdampfens und würde explodieren. Das könnten wir beobachten, in Form von Gamma- Blitzen. Würden wir so etwas je beobachten, könnten wir auch sehen, was nach der Explosion übrig bleibt. Und eine Möglichkeit wäre, dass dort eine wirkliche Singularität ist. Oder aber auch nur ein kleines, totes Objekt oder auch überhaupt nichts. Es wäre also prinzipiell möglich, das letzte Stadium dieses singulären Ereignisses zu beobachten. Eine physikalische Unendlichkeit, die wir bisher nur mathematisch beschreiben können.   In der Schule wird uns Unendlichkeit immer ganz selbstverständlich präsentiert – es gibt halt unendlich viele Primzahlen, unendliche Folgen mit Grenzwerten und so weiter. Dabei wird unterschlagen, dass Unendlichkeit einmal eine sehr umstrittene Sache war.   Normale Menschen verstehen unter »Unendlich« so etwas wie eine sehr, sehr große Zahl. Aber Unendlich ist nicht wie irgendeine endliche Zahl, sei sie auch noch so groß. Das so genannte Hilbert- Hotel ist ein schönes Beispiel dafür. Dieses Hotel hat unendlich viele Zimmer, die nacheinander mit 1, 2, 3, 4 und so weiter nummeriert sind. Und selbst wenn es voll ist, kann man immer noch ein freies Zimmer finden. Man quartiert die Person von Zimmer 1 in Zimmer 2 um, die von Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter – dann ist Zimmer 1 frei. Bei einem endlichen Hotel geht das nicht – wenn es voll ist, ist es voll.   Sie haben einen Artikel geschrieben mit dem Titel  “Wie man schon vor dem Frühstück unendlich viele Dinge tun kann”. Was darf man sich darunter vorstellen?   Das geht zurück auf das Paradox von Zeno und die Frage, ob man in endlicher Zeit unendlich viele Dinge tun kann – man nennt das einen supertask. Wenn Sie durch Ihr Büro gehen, müssen Sie erst das halbe Zimmer durchqueren und dann die Hälfte der restlichen Hälfte und so weiter – eine unendliche Zahl von Handlungen? Im 20. Jahrhundert übertrug der deutsche Mathematiker Hermann Weyl dieses logische Paradox auf die Physik: Kann man eine Maschine bauen, die etwas in einer halben Minute tut, das Nächste in einer Viertelminute und so weiter, sodass sie nach einer Minute unendlich viele Dinge getan hat? Die Leute versuchten zu zeigen, dass das in einer idealisierten physikalischen Welt möglich oder unmöglich war. In meinem Artikel konstruiere ich ein physikalisches System aus vier Teilchen und zeige, dass es in der Newtonschen Physik tatsächlich möglich ist, unendlich viele Dinge in endlicher Zeit zu tun – auch wenn die Ausgangsbedingungen extrem unrealistisch sind.   Aber das Beispiel verletzt die Gesetze von Einsteins Relativitätstheorie.   Stimmt.   Ist das nicht immer so mit diesen geschickt konstruierten Beispielen – am Ende hat die Sache irgendeinen Haken, der ihre Realisierung verhindert?   Nach den Gesetzen der Relativitätstheorie gibt es immerhin »schwache«  – man sieht, wie unendlich viele Dinge in einem anderen Bezugssystem geschehen, aber man kann darauf nicht einwirken. Die wirkliche Frage ist: Könnten Sie zum Beispiel Ihren Laptop auf eine Reise ins All schicken – und wenn er auf die Erde zurückkehrt, hat er unendlich viele Rechnungen durchgeführt?   Die Antwort lautet Nein, oder?   Nun, sie lautet: Die allgemeine Relativitätstheorie sagt Ja, es gibt Lösungen der Einsteinschen Gleichungen, für die das möglich ist, so wie es auch Lösungen gibt, nach denen Zeitreisen möglich sind. Die Frage ist, ob diese Lösungen physikalisch realistisch sind. Sie sehen in vielerlei Hinsicht unrealistisch oder auch unerwünscht aus. Eine davon ist der so genannte Anti-de-Sitter- Raum, ADS. Und der fünfdimensionale ADS ist im Wesentlichen die Lösung zu den Gleichungen der String-Theorie. Das ist interessant. Man kann diese Dinge nach den Gesetzen der Relativität also zumindest nicht sofort ausschließen. Es ist auch möglich, dass die Quantentheorie im Weg steht. Dass eine Rechnung, die eine bestimmte Geschwindigkeit übersteigt, unter die Unschärferelation fällt und das Ergebnis nicht aufzulösen ist. Ich glaube, man kann in endlicher Zeit nicht unendlich viele Dinge tun. Aber einen Beweis dafür gibt es bisher nicht.   Sie haben auch ein Schauspiel mit dem Titel  geschrieben, das in Italien erfolgreich aufgeführt wurde. In dem Stück kommen Menschen vor, die unendlich lange leben. Und Sie stellen das als eine recht langweilige Vorstellung hin. Aber Sie hätten nichts dagegen, sehr lange zu leben?   Das kommt drauf an, was man unter »leben« versteht. Denken Sie an die Geschichte von dem Menschen, der die Götter um ewiges Leben bat, aber vergaß, auch um ewige Jugend zu bitten! Und ich denke immer an den Ausspruch von Woody Allen: »Ich möchte nicht in den Herzen meiner Landsleute weiterleben. Ich möchte in meiner Wohnung weiterleben.«   John Barrow ist ein Multitalent: Der 53- Jährige ist Professor für Mathematik und theoretische Physik an der englischen Universität Cambridge und leitet das Millennium Mathematics Project, das den Mathematik-Unterricht an Schulen fördern soll. Außerdem hat der Vielschreiber (seine Publikationsliste umfasst weit über 300 Titel) 16 Bücher geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. Darin widmet er sich mit Vorliebe Fragen, die die Grenzen unserer Vorstellungskraft ausloten. Vor der Unendlichkeit hat er sich vor allem mit den Theorien vom Ursprung des Universums befasst, etwa mit der Frage, ob neben unserem Weltall noch eine Vielzahl von Paralleluniversen entstanden ist. Auch in der fiktionalen Literatur hat Barrow sich versucht: Sein Theaterstück »Infinities« gewann 2002 in Italien den Theaterpreis Premi Ubu. Quelle: „Zeit Online“ 12/2005
 
© strapp 2011
strapp.de durchsuchen: