Hat das Universum einen Rand?
Die Unendlichkeit ist für viele Menschen unfassbar. Der Kosmologe und
Erfolgsautor John Barrow hat damit keine Schwierigkeiten. Ein Gespräch
über den Urknall, das Rechnen mit der Grenzenlosigkeit und den
Schrecken ewigen Lebens
Gibt es in der wirklichen Welt etwas Unendliches?
Traditionell unterscheidet man zwei Sorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit
im sehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristoteles unterscheidet man
zudem zwischen der potenziellen Unendlichkeit und der aktualen Unendlichkeit.
Mit der potenziellen konnte Aristoteles gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge,
die niemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und so weiter. »Für
immer«, sagen wir und wissen, dass wir immer 1 addieren können und nie zu
einem Ende kommen. Ähnlich ist es in der Astronomie. Im Moment spricht alles
dafür, dass das Universum unendlich groß ist.
Ist das nicht auch potenziell?
Ja, denn das sind Unendlichkeiten, die einem nie real begegnen. Viel
ungewöhnlicher ist die Idee einer aktualen Unendlichkeit. Ob also eine
physikalisch messbare Größe zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem
bestimmten Ort einen unendlichen Wert annimmt. Und das ist eine umstrittene
und heftig diskutierte Frage.
Gibt es diese aktualen Unendlichkeiten nun irgendwo im Universum?
In den meisten Bereichen der Wissenschaft sind die Forscher nicht gerade
glücklich, wenn in ihren Theorien und Voraussagen solche aktualen
Unendlichkeiten auftauchen. In der Aerodynamik zum Beispiel: Wenn man dort
ausrechnet, dass sich ein Luftstrom unendlich schnell verändert, dann schließt
man daraus, dass man die falsche Mathematik gewählt hat, um die Physik dieses
Luftstroms zu berechnen.
Es heißt ja, die Natur mache keine Sprünge.
Genau – jedenfalls keine unendlichen! Wenn man eine Peitsche knallen lässt,
dann gibt es einen Überschallknall, das Ende der Peitsche bewegt sich schneller
als der Schall. Wenn man das einfach mathematisch beschreibt, dann bekommt
man eine unendlich große Geschwindigkeitsänderung zum Zeitpunkt des Knalls.
Aber wenn man die Luftreibung berücksichtigt, dann glättet das diese
Unendlichkeit, und man bekommt nur eine sehr schnelle Änderung. In der
Teilchenphysik hat sich die revolutionäre String-Theorie auch deshalb
durchgesetzt, weil Michael Green und John Schwartz in den frühen achtziger
Jahren zeigen konnten, dass diese Theorie endlich ist. Alle vorhergehenden
Theorien haben immer unendliche Antworten auf alle möglichen Fragen nach
beobachtbaren Größen geliefert.
Betrachtet man das Universum ganz naiv, dann gibt es keinen Grund,
anzunehmen, dass es sich nicht unendlich in die Vergangenheit, die Zukunft und
auch den Raum erstreckt. Oder dass man die Materie immer weiter teilen kann…
Das war schon bei den alten Griechen eine kontrovers diskutierte Frage. Die
Atomisten glaubten, es gebe kleinste Teile der Materie. Die ganze Materie sei aus
diesen Elementarteilchen aufgebaut.
Aber das war ein rein philosophischer Streit.
Die Frage nach der Unendlichkeit des Universums war sehr kompliziert, sie war
verknüpft mit der Frage, ob es einen leeren Raum, ein Vakuum, geben könne.
Aristoteles glaubte, dass sich die Dinge in einem perfekten Vakuum mit
unendlicher Geschwindigkeit bewegen würden. Für ihn war die Existenz eines
perfekten Vakuums verknüpft mit der Frage nach einer tatsächlich existierenden
Unendlichkeit.
Beim Gedanken an ein endliches Universum fragte man sich immer, was denn
wohl außerhalb davon wäre.
Die Vorstellung eines endlichen Universums war für mich immer sehr seltsam.
Im 4. vorchristlichen Jahrhundert formulierte der Soldat und Philosoph Archytas
von Tarent folgendes Paradox: Wenn das Universum endlich ist, muss es einen
Rand geben. Und wenn man kurz vor diesem Rand steht und einen Speer wirft –
was würde mit dem passieren, wenn er über den Rand hinausfliegt? Er glaubte
wirklich, ein endliches Universum müsse einen Rand haben.
Dann haben sich Physik und Naturwissenschaften weiterentwickelt, und man
entdeckte plötzlich viele Endlichkeiten: die Theorie vom Big Bang, nach der das
Universum ein endliches Alter hat, die Elementarteilchen. Das hat die
Unendlichkeit aus dem Blickfeld verdrängt.
Andererseits ist der Big Bang ein interessantes Beispiel, bei dem man
tatsächlich aktuale Unendlichkeiten findet. Die Expertenmeinung darüber ist
geteilt: Es gibt Kosmologen, die mit physikalischen Unendlichkeiten gut leben
können, etwa einer aktualen Unendlichkeit am Anfang des Universums – wenn es
einen solchen Anfang gab. Andere nehmen den Gegenstandpunkt ein und sagen:
Das ist nur eine Vorhersage von Einsteins Relativitätstheorie, und wenn man eine
bessere Theorie hat, etwa die String-Theorie, dann verschwinden diese
Unendlichkeiten.
Wie sieht es bei einem Schwarzen Loch aus?
Auch im Zentrum eines Schwarzen Lochs passiert Ungewöhnliches, eine Art
umgekehrter Big Bang. Diese Singularität im Zentrum ist ein unendlich dichter
Punkt. Er kann keine Wirkung auf die Außenwelt ausüben, wegen des Horizonts
des Schwarzen Lochs. Signale können nicht nach draußen und uns beeinflussen.
Wäre das die »kosmische Zensur«?
Ja. Wenn im Universum eine unendliche Singularität entsteht, dann ist sie
immer durch einen solchen Horizont abgeschirmt. Es können keine Informationen
herauskommen und die Außenwelt beeinflussen, es gibt keine so genannten
»nackten« Singularitäten. Das ist also wieder so eine Situation, wo eine
Unendlichkeit im Universum existieren könnte – aber selbst wenn es sie gibt,
dann verhindert eine Art Verschwörung der Natur, dass wir sie je zu Gesicht
bekommen und, noch wichtiger, dass sie einen Einfluss auf uns hat. Das erinnert
mich ein wenig an die mittelalterlichen Philosophen. Sie wollten die Existenz eines
reinen Vakuums in der Natur dadurch verhindern, dass sie einen mysteriösen
»himmlischen Agenten« auf den Plan riefen.
Wäre dann die Frage wieder rein philosophisch – man kann das eine oder das
andere glauben, ohne es experimentell beweisen oder widerlegen zu können?
Ein sehr kleines Schwarzes Loch, etwa so groß wie ein Berg, das in der
Anfangszeit des Universums entstanden ist, wäre heute im letzten Stadium seines
Verdampfens und würde explodieren. Das könnten wir beobachten, in Form von
Gamma-Blitzen. Würden wir so etwas je beobachten, könnten wir auch sehen,
was nach der Explosion übrig bleibt. Und eine Möglichkeit wäre, dass dort eine
wirkliche Singularität ist. Oder aber auch nur ein kleines, totes Objekt oder auch
überhaupt nichts. Es wäre also prinzipiell möglich, das letzte Stadium dieses
singulären Ereignisses zu beobachten. Eine physikalische Unendlichkeit, die wir
bisher nur mathematisch beschreiben können.
In der Schule wird uns Unendlichkeit immer ganz selbstverständlich präsentiert
– es gibt halt unendlich viele Primzahlen, unendliche Folgen mit Grenzwerten und
so weiter. Dabei wird unterschlagen, dass Unendlichkeit einmal eine sehr
umstrittene Sache war.
Normale Menschen verstehen unter »Unendlich« so etwas wie eine sehr, sehr
große Zahl. Aber Unendlich ist nicht wie irgendeine endliche Zahl, sei sie auch
noch so groß. Das so genannte Hilbert-Hotel ist ein schönes Beispiel dafür. Dieses
Hotel hat unendlich viele Zimmer, die nacheinander mit 1, 2, 3, 4 und so weiter
nummeriert sind. Und selbst wenn es voll ist, kann man immer noch ein freies
Zimmer finden. Man quartiert die Person von Zimmer 1 in Zimmer 2 um, die von
Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter – dann ist Zimmer 1 frei. Bei einem
endlichen Hotel geht das nicht – wenn es voll ist, ist es voll.
Sie haben einen Artikel geschrieben mit dem Titel “Wie man schon vor dem
Frühstück unendlich viele Dinge tun kann”. Was darf man sich darunter
vorstellen?
Das geht zurück auf das Paradox von Zeno und die Frage, ob man in endlicher
Zeit unendlich viele Dinge tun kann – man nennt das einen supertask. Wenn Sie
durch Ihr Büro gehen, müssen Sie erst das halbe Zimmer durchqueren und dann
die Hälfte der restlichen Hälfte und so weiter – eine unendliche Zahl von
Handlungen? Im 20. Jahrhundert übertrug der deutsche Mathematiker Hermann
Weyl dieses logische Paradox auf die Physik: Kann man eine Maschine bauen, die
etwas in einer halben Minute tut, das Nächste in einer Viertelminute und so
weiter, sodass sie nach einer Minute unendlich viele Dinge getan hat? Die Leute
versuchten zu zeigen, dass das in einer idealisierten physikalischen Welt möglich
oder unmöglich war. In meinem Artikel konstruiere ich ein physikalisches System
aus vier Teilchen und zeige, dass es in der Newtonschen Physik tatsächlich
möglich ist, unendlich viele Dinge in endlicher Zeit zu tun – auch wenn die
Ausgangsbedingungen extrem unrealistisch sind.
Aber das Beispiel verletzt die Gesetze von Einsteins Relativitätstheorie.
Stimmt.
Ist das nicht immer so mit diesen geschickt konstruierten Beispielen – am Ende
hat die Sache irgendeinen Haken, der ihre Realisierung verhindert?
Nach den Gesetzen der Relativitätstheorie gibt es immerhin »schwache« – man
sieht, wie unendlich viele Dinge in einem anderen Bezugssystem geschehen, aber
man kann darauf nicht einwirken. Die wirkliche Frage ist: Könnten Sie zum
Beispiel Ihren Laptop auf eine Reise ins All schicken – und wenn er auf die Erde
zurückkehrt, hat er unendlich viele Rechnungen durchgeführt?
Die Antwort lautet Nein, oder?
Nun, sie lautet: Die allgemeine Relativitätstheorie sagt Ja, es gibt Lösungen der
Einsteinschen Gleichungen, für die das möglich ist, so wie es auch Lösungen gibt,
nach denen Zeitreisen möglich sind. Die Frage ist, ob diese Lösungen physikalisch
realistisch sind. Sie sehen in vielerlei Hinsicht unrealistisch oder auch
unerwünscht aus. Eine davon ist der so genannte Anti-de-Sitter-Raum, ADS. Und
der fünfdimensionale ADS ist im Wesentlichen die Lösung zu den Gleichungen der
String-Theorie. Das ist interessant. Man kann diese Dinge nach den Gesetzen der
Relativität also zumindest nicht sofort ausschließen. Es ist auch möglich, dass die
Quantentheorie im Weg steht. Dass eine Rechnung, die eine bestimmte
Geschwindigkeit übersteigt, unter die Unschärferelation fällt und das Ergebnis
nicht aufzulösen ist. Ich glaube, man kann in endlicher Zeit nicht unendlich viele
Dinge tun. Aber einen Beweis dafür gibt es bisher nicht.
Sie haben auch ein Schauspiel mit dem Titel geschrieben, das in Italien
erfolgreich aufgeführt wurde. In dem Stück kommen Menschen vor, die unendlich
lange leben. Und Sie stellen das als eine recht langweilige Vorstellung hin. Aber
Sie hätten nichts dagegen, sehr lange zu leben?
Das kommt drauf an, was man unter »leben« versteht. Denken Sie an die
Geschichte von dem Menschen, der die Götter um ewiges Leben bat, aber
vergaß, auch um ewige Jugend zu bitten! Und ich denke immer an den Ausspruch
von Woody Allen: »Ich möchte nicht in den Herzen meiner Landsleute
weiterleben. Ich möchte in meiner Wohnung weiterleben.«
John Barrow ist ein Multitalent: Der 53-Jährige ist Professor für Mathematik und
theoretische Physik an der englischen Universität Cambridge und leitet das Millennium
Mathematics Project, das den Mathematik-Unterricht an Schulen fördern soll. Außerdem hat
der Vielschreiber (seine Publikationsliste umfasst weit über 300 Titel) 16 Bücher
geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. Darin widmet er sich mit Vorliebe
Fragen, die die Grenzen unserer Vorstellungskraft ausloten. Vor der Unendlichkeit hat er
sich vor allem mit den Theorien vom Ursprung des Universums befasst, etwa mit der Frage,
ob neben unserem Weltall noch eine Vielzahl von Paralleluniversen entstanden ist.
Auch in der fiktionalen Literatur hat Barrow sich versucht: Sein Theaterstück »Infinities«
gewann 2002 in Italien den Theaterpreis Premi Ubu.
Quelle: „Zeit Online“ 12/2005
Siegfried
Trapp
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