Sterbehilfe Der selbst gewählte Tod Warum mein Vater den Weg der Sterbehilfe genommen hat Die Uhr tickt. Noch 30 Minuten. Dann wird mein Vater ein Getränk zu sich nehmen, dessen Inhalt drei Menschen töten könnte. Etwa drei Minuten später wird er einschlafen, wenig später sterben. Viel zu früh, er ist erst 68 Jahre. Mein Vater hat ALS,  Amyotrophe Lateralsklerose, eine schwere Nervenerkrankung, im weit fortgeschrittenen Stadium. Er hat sich entschieden, den Weg der Sterbehilfe zu nehmen, weil er das, was kommt, nicht mehr erleben möchte: künstliche Beatmung und Ernährung, Verlust der letzten noch vorhandenen motorischen Fähig- keiten, einschließlich des Sprechens, mit großer Wahrscheinlichkeit Tod durch Ersticken. Wie frei kann so eine Entscheidung sein? Es ist 12.05 Uhr am 24. Januar 2012. Wir sitzen zusammen, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester mit ihrem drei Monate alten Sohn und ich. In einem dezent gestalteten Zimmer mit hellen Wänden, einer weißen Couch, zwei Sesseln und einem kleinen Tisch, auf dem zusammengeknüllte Papiertaschentücher liegen. Der Blick aus dem Fenster führt über die Dächer der Nachbarhäuser, hinter denen sich saftig grüne Hügel erstrecken. Es hängen dicke Wolken darüber. Das Zimmer gehört zu einer Wohnung, die in einem kleinen Ort liegt, direkt neben Bahngleisen, rund 20 Kilometer vor den Toren Berns. Mieterin ist die Schweizer Sterbehilfeorganisation Ex International, deren ehren- amtliche Mitarbeiterin in der anliegenden Küche Dokumente vorbereitet, die später benötigt werden, wenn Polizei und Staatsanwalt kommen, um den Tod meines Vaters zu untersuchen. Gerlinde Mosta (Name geändert) ist eine ernsthafte, aber freundliche Frau Mitte 60, die diese Arbeit aus Überzeugung tut, wie sie uns am Abend zuvor erklärt hat. Vorhin hat sie meinem Vater ein Glas Wasser mit Magentropfen gereicht, die das tödliche Getränk verdaulicher machen, das er 30 Minuten später einnehmen muss. Seither tickt die Uhr. 12.06 Uhr. Hier sitzen wir also. Meine Schwester stillt den Kleinen, damit er nicht gleich nach Nahrung ruft, wenn wir im Zimmer nebenan meinen Vater in den Tod begleiten. Der berichtet von der abschließenden ärztlichen Untersuchung, die heute Vormittag stattgefunden hat. Er wirkt gelöst. Ich denke, dass es schön wäre, käme die Sonne heraus, damit mein Vater sie ein letztes Mal sähe. Aus Bern sind wir im dichten Schnee- gestöber aufgebrochen. Nun nieselt es. Meine Mutter fragt, ob mein Vater noch einmal aufs Klo müsse. Er verneint. Schweigen. Lächeln. Worüber spricht man, wenn der Tod nebenan wartet? Mein Vater erzählt, der Mediziner heute Vormittag sei unendlich langsam zu Werke gegangen, ein typischer Berner eben. Das habe ihn an den Witz vom langsamen Berner erinnert. Mit verschmitzter Miene fragt er in die Runde, ob er uns den erzählen solle. Spontan wird mir unwohl bei dem Gedanken, jetzt über einen Witz zu lachen. Doch mein Vater hat schon begonnen. Die Pointe sitzt, wir lachen herzlich. Die Krankheit hat ihm fast jede Bewegungsmöglichkeit geraubt, hat seine einst kräftige Stimme brüchig und seine Sportleratmung kurz werden lassen. Doch seinen Humor hat er sich nicht nehmen lassen. So ist mein Vater: kein Grübler, sondern ein zupackender Typ. Ein Kind des Ruhrgebiets, glühender Anhänger des BVB. Politisch engagiert, Lehrer für Chemie und Physik, Fußballer, Bergsteiger und Marathon- läufer, aber auch begeisterter Chorsänger, ein Vereinsmensch. Die Diagnose ALS erhielt er kurz nach seinem 60. Geburtstag. Diese heimtückische Krankheit des zentralen und peripheren Nervensystems ist seit 140 Jahren bekannt, aber immer noch nicht heilbar. In Deutschland sind schätzungsweise 6.000 Menschen daran erkrankt. Der deutsche Maler Jörg Immendorff starb 2007 nach zehnjähriger Krank- heit. Der britische Astrophysiker Stephen Hawking lebt seit 1963 mit ALS. Verlauf und Lebenserwartung unterscheiden sich von Fall zu Fall erheblich. Sicher ist den Betroffenen nur eins: dass ihr Zustand immer schlechter wird. Meinen Vater zwang die Diagnose, Lauf- und Wanderschuhe an den Nagel zu hängen. Später war es auch mit dem Singen vorbei. Für mich blieb die Krankheit zunächst abstrakt, auch weil ich weit von Köln entfernt in Berlin wohne. Erst als er 2006 einen Stock benötigte, später einen Rollstuhl, sickerte die Erkenntnis durch, dass unser altes Leben nicht mehr wiederkehren würde. Umbauten im Elternhaus wurden nötig, immer leistungsfähigere Rollstühle angeschafft, das Auto wurde mit einer Laderampe versehen, über die man in das Wageninnere hinein- fahren konnte. Doch gerade an diesen technischen Hilfsmitteln offen- barte sich die ganze Hilflosigkeit, auf die die Krankheit ALS die an ihr Leidenden immer wieder zurückwirft. Jedes Mal wenn mein Vater gelernt hatte, den Verlust einer motorischen Fähigkeit zu akzeptieren und ein geeignetes Hilfsmittel in seinen Alltag zu integrieren, folgte der nächste Schub, der die neu gewonnene Souveränität wieder zunichtemachte. Trotzdem gelang es über viele Jahre, ein Umfeld zu schaffen, in dem mein Vater weiterhin am Leben teilhaben konnte, so gut es ging. Doch es ging eben immer schlechter. Das zeigte sich vor allem im letzten Jahr, als die Kraft endgültig aus seinen Armen und Händen schwand. Den Rollstuhl konnte er trotz aller Technik am Ende nur noch wenige Minuten selbst steuern. Intensivere Unterhaltungen führten zu Atemnot, in der Nacht raubte ihm ein chronischer Husten den Schlaf. 12.15 Uhr. Der Witz vom langsamen Berner hat die Stimmung gelöst. Meine Schwester hat ihren Sohn zu Ende gestillt. Er schaut nun sehr aufmerksam meinen Vater an, der lächelnd zurückschaut. Die Geburt seines ersten Enkels drei Monate zuvor hat ihm noch einmal neue Kraft gegeben. Wir meinen, der Kleine habe seine Ohren. Meinem Vater rollen ein paar Tränen die Wange hinunter, er muss sich schnäuzen. Bevor jemand anderes reagieren kann, ist meine Mutter aufgesprungen, um ihm die Nase zu putzen. Jahrelang hat meine Mutter versucht, die verloren gegangene Selbstständigkeit meines Vaters zu kompensieren, mit dem Ergebnis, dass auch sie ihr eigenständiges Leben einbüßte. Zuletzt stand sie selbst kurz vor dem Burn-out. Meine Geschwister und ich bemühten uns, sie regelmäßig zu entlasten, doch das Grundproblem konnten wir nicht lösen. Zwar gab es einen Pflegedienst, der meinen Vater aus dem Bett holte, ihn wusch und in den Rollstuhl setzte. Ehrenamtliche Helfer übernahmen stundenweise die Betreuung. Doch trotz der Hilfe blieben 90 Prozent der Tageszeit – von den Nächten ganz zu schweigen –, in denen meine Mutter auf sich gestellt war. Selbst Alltäglichkeiten, wie eine juckende Nase oder das Umblättern der Zeitung, erforderten ihre Hilfe. Eine Dauerpflegekraft war weder bezahlbar noch räumlich unter- zubringen. Ein Pflegeheim kam für meinen Vater niemals infrage. Es grauste ihm bei dem Gedanken, zwischen 80- und 90-jährigen Demenzkranken zu leben und für jede Kleinigkeit eine fremde Pflegerin rufen zu müssen, die sich parallel um viele andere Menschen kümmern muss. Mein Vater fühlte sich nicht alt. Sein Geist war von der Krankheit kaum beein- trächtigt, höchstens in dem Sinne, dass ihm das Lebenselixier fehlte, die Aktivität. Wir suchten nach Alternativen, etwa einer Wohngemeinschaft mit privatem Pflegedienst, wie es sie für Demenzkranke zunehmend gibt. Doch Fälle wie die meines Vaters scheinen zu selten zu sein, um passende Angebote am Markt entstehen zu lassen. Geistig fit, aber körperlich auf permanente Rundumbetreuung angewiesen, mit dieser Kombination fällt man aus dem Raster. Je mehr sich der Zustand meines Vaters verschlechterte, desto häufiger sprachen wir über das Thema Sterbehilfe. Eine Patientenverfügung hatte er schon lange vor seiner Erkrankung unterzeichnet. Dass die Beihilfe zum Suizid in Deutschland de facto verboten ist, hielt mein Vater für inhuman. Ich war lange Zeit anderer Ansicht. Liegt das Inhumane nicht vielmehr in einer Gesellschaft, die trotz materiellen Reichtums unfähig ist, pflegebedürftigen Menschen individuell gerecht zu werden? Ist es in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder wesentlich nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sortiert, nicht naheliegend, einen Suizidwunsch zu entwickeln, wenn man ganz und gar abhängig und unproduktiv ist? Öffnet die Sterbehilfe nicht eine Tür, die besser verschlossen bleiben sollte? Spätestens nachdem im Herbst 2010 ein Mitarbeiter von Ex Inter- national im Wohnzimmer meiner Eltern gesessen und sich über fünf Stunden lang ein Bild von meinem Vater, seiner Erkrankung und seinen Beweggründen gemacht hatte, waren solche Fragen allgegenwärtig. Wir versprachen meinem Vater, ihn auf diesem Weg zu begleiten, wenn das sein freier Wille sei. Doch was ist ein freier Wille? Sind es am Ende nicht doch die Umstände, die den Tod als das kleinere Übel erscheinen lassen? Und sollte man in diesem Fall nicht versuchen, die Umstände zu ändern, statt jemandem zu helfen, sein Leben zu beenden? Ich musste lernen, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt, vor allem keine allgemeingültigen. Für meinen Vater war die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können, ein emotionaler Anker. Zu wissen, dass er diese letzte Entscheidung selbst treffen konnte, stärkte seinen Lebensmut. Er wäre andernfalls viel früher innerlich zusammengefallen. Diese Möglichkeit war allerdings von der Fähigkeit abhängig, die Reise in die Schweiz antreten zu können, was ein Minimum an körperlicher Selbstständigkeit voraussetzte. Der nächste Schub der Krankheit würde ihm diese vermutlich nehmen. Wollte er die Gelegenheit ergreifen, musste er bald handeln. Das aber heißt: Wäre Sterbehilfe in Deutschland möglich gewesen, hätte mein Vater den Sommer 2012 vermutlich noch erlebt. Wahr ist auch, dass die vorhandenen Pflegeangebote für ihn keine Perspektive boten. Doch seine grundsätzliche Entscheidung war von diesen Umständen unberührt. Er wusste: Die Krankheit würde ihm den letzten Funken physischer Selbstständigkeit und schließlich seinen Lebensmut rauben, egal, wie gut die Pflege organisiert wäre. Er war über den Punkt hinaus, an dem dies noch einen Unterschied gemacht hätte. Ich konnte lange Zeit nicht akzeptieren, dass jemand sterben will, weil sein Körper nicht mehr mitspielt. Inzwischen habe ich erkannt, dass der Lebenswille davon abhängt, was einen im Leben antreibt. Mein Vater wollte nie das Universum ergründen wie Stephen Hawking, den Assistenten, Pfleger und viele technische Hilfsmittel unterstützen, sondern mit seinem Enkel im Park Fußball spielen, auf Berge klettern, den Rhein entlangjoggen oder einen kaputten Stuhl kleben. Mein Vater fühlte sich eingesperrt im eigenen Körper. Und in Gefangenschaft konnte er auf Dauer nicht leben. Als meine Mutter mich am 6. Januar 2012 anrief und fragte, ob ich um den 24. Januar ein paar Tage Urlaub nehmen könne, wusste ich, dass mein Vater sich entschieden hatte, das Gefängnis zu verlassen. Es folgten zweieinhalb unwirkliche Wochen, in denen alles wie immer war und doch alles anders. Wir wollten die Zeit bestmöglich nutzen – und sprachen doch über Alltägliches wie die Causa Wulff, den Rück- rundenauftakt der Bundesliga, den Ausfall von Mario Götze und das unvermeidliche Wetter. Nicht nur, aber eben auch. Es war gesellig wie immer, sogar lustig, manchmal melancholisch. Hin und wieder spürte ich einen Stich in der Magengrube, wenn das Gespräch auf ein Datum jenseits des 24. Januar fiel. Ein paar Tage vor dem Termin brachen wir aus Köln in Richtung Schweiz auf. Als wir mit dem Auto über die Zoobrücke fuhren, warf mein Vater einen letzten Blick auf den Dom. Zwei Tage später näherten wir uns Bern. Auf der linken Fensterseite rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau frei. Ob wir noch einmal näher heranfahren sollten, fragte meine Mutter. Mein Vater schüttelte schweigend den Kopf. Vor langer Zeit schon hatte er gesagt, dass seine Asche am Fuße der Eigernordwand verstreut werden solle. 12.30 Uhr. Der Witz vom langsamen Berner ist verhallt. Mein Vater weint. Meine Schwester auch. Ich reiche Taschentücher und kämpfe selbst mit den Tränen. Draußen hat es aufgehört zu nieseln. Die Sonne scheint jetzt durch das Fenster, meinem Vater direkt ins Gesicht. Dann geht die Tür auf, und Frau Mosta bittet uns in das Nebenzimmer. Ich helfe meinem Vater aus seinem Rollstuhl auf die bereitstehende Liege, so wie ich es immer getan habe, wenn ich ihn ins Bett brachte. Zum letzten Mal, schießt es mir durch den Kopf. Ich halte ihn lange fest, bevor ich ihn behutsam hinlege, flüstere ihm ein paar Worte ins Ohr und küsse ihn auf die Stirn. Meine Geschwister und meine Mutter folgen. Wir weinen. Mein Vater bittet, dass jemand seine Hand hält. Frau Mosta reicht ihm das tödliche Getränk. Er holt tief Luft, sagt mit fester Stimme: »Okay, let’s go«, und leert das Glas. Ich stehe regungslos da und sehe die Flüssigkeit weniger werden. Bis zuletzt war ich mir nicht ganz sicher, ob er diesen Schritt wirklich gehen würde. Niederländische Ärzte benutzen auch heute dieses Wort, wenn ein sterbenskranker Mensch bewusst um Hilfe zum Sterben bittet und der Arzt sie gewährt. Etwa indem er ein muskelentspannendes Medikament und ein Schlafmittel verabreicht. In Deutschland ist solche aktive Sterbehilfe als "Tötung auf Verlangen" nach Paragraf 216 des Straf- gesetzbuchs grundsätzlich verboten. Mein Kopf schwirrt, ich höre mich etwas sagen. Als mein Vater die Augen schließt, brechen bei mir alle Dämme. Ich weine hemmungslos. Seine Atmung wird flacher, immer flacher. Schließlich sehe ich, wie das Leben aus ihm entweicht. Frau Mosta prüft seine Halsschlagader und bestätigt den Tod. Ich verlasse den Raum. Ich trauere um meinen Vater. Ich hadere mit dem Schicksal. Ich wünschte, er hätte mehr Zeit gehabt, gesund durch das Leben zu gehen. Doch ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich mit seinem mutigen Schritt sehr viel Leid erspart hat. Die Tage in der Schweiz waren die härtesten meines Lebens, aber ich bin dankbar, dass ich meinen Vater auf diesem letzten Weg begleiten durfte. Ich kann einige Argumente gegen die Sterbehilfe nachvollziehen, schließlich waren sie einmal meine eigenen. Doch heute denke ich, dass sie der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Sie zeigen keinen Ausweg in Situationen, in denen Menschen wohlüberlegt den Tod dem Leben vorziehen. Mein Vater war in seinem Körper gefangen. Gestorben ist er als freier Mann. Die ZEIT, 21.08.2012 Das Wort Sterbehilfe ist ungenau und führt bei Laien und Ärzten regelmäßig zu Missverständnissen. Sie assoziieren damit schnell die Euthanasie. Der Begriff stand im Nationalsozialismus für den systematischen Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen, in Deutschland ist er entsprechend konnotiert. Übersetzt bedeutet das griechische "euthanasia" "schöner Tod". Niederländische Ärzte benutzen auch heute dieses Wort, wenn ein sterbenskranker Mensch bewusst um Hilfe zum Sterben bittet und der Arzt sie gewährt. Etwa indem er ein muskelentspannendes Medikament und ein Schlafmittel verabreicht. In Deutschland ist solche aktive Sterbehilfe als "Tötung auf Verlangen" nach Paragraf 216 des Strafgesetzbuchs grundsätzlich verboten. Indirekter ist der ärztlich assistierte Suizid. In diesem Fall stellt der Arzt dem Patienten lediglich die Medikamente bereit, einnehmen muss dieser sie selbst. In den Niederlanden zum Beispiel wählt nur ein Zehntel der Sterbewilligen ärztlich assistierten Suizid, die anderen ziehen direkte Sterbehilfe vor. Das deutsche Strafgesetzbuch verbietet Beihilfe zur Selbsttötung nicht, allerdings tut dies die dahingehend 2011 geänderte Berufsordnung der Ärzte. Dort heißt es unter Paragraf 16: "Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten." Allerdings streiten Mediziner und Experten bis heute über dieses Verbot, dass rechtlich nicht bindend ist. Zuletzt hatte etwa das Verwaltungsgericht Berlin im April 2012 die Formulierung für verfassungswidrig erklärt. Etwas ganz anderes versteht man unter passiver Sterbehilfe: lebensverlängernde Maßnahmen (zum Beispiel künstliche Beatmung) zu unterlassen. Dies ist nach dem Urteil des BGH vom Juni 2010 unter bestimmten Umständen erlaubt – ja sogar geboten. Ein umstrittener Punkt ist in diesem Zusammenhang, ob ein Arzt generell eingreifen muss, wenn er einen Patienten sterben sieht. Schließlich gelobt jeder Arzt: "Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein." Patienten, die sichergehen wollen, dass der behandelnde Arzt nicht im letzten Augenblick den Suizid noch vereitelt, entbinden ihn schriftlich in einer Patientenverfügung von dieser Garantenpflicht. Quelle: http://www.zeit.de/2011/22/Kasten-Aerzte
Siegfried Trapp
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Sterbehilfe Der selbst gewählte Tod Warum mein Vater den Weg der Sterbehilfe genommen hat Die Uhr tickt. Noch 30 Minuten. Dann wird mein Vater ein Getränk zu sich nehmen, dessen Inhalt drei Menschen töten könnte. Etwa drei Minuten später wird er einschlafen, wenig später sterben. Viel zu früh, er ist erst 68 Jahre. Mein Vater hat ALS, Amyotrophe Lateralsklerose, eine schwere Nervenerkrankung, im weit fortgeschrittenen Stadium. Er hat sich entschieden, den Weg der Sterbehilfe zu nehmen, weil er das, was kommt, nicht mehr erleben möchte: künstliche Beatmung und Ernährung, Verlust der letzten noch vorhandenen motorischen Fähig-keiten, einschließlich des Sprechens, mit großer Wahrscheinlichkeit Tod durch Ersticken. Wie frei kann so eine Entscheidung sein? Es ist 12.05 Uhr am 24. Januar 2012. Wir sitzen zusammen, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester mit ihrem drei Monate alten Sohn und ich. In einem dezent gestalteten Zimmer mit hellen Wänden, einer weißen Couch, zwei Sesseln und einem kleinen Tisch, auf dem zusammengeknüllte Papiertaschentücher liegen. Der Blick aus dem Fenster führt über die Dächer der Nachbarhäuser, hinter denen sich saftig grüne Hügel erstrecken. Es hängen dicke Wolken darüber. Das Zimmer gehört zu einer Wohnung, die in einem kleinen Ort liegt, direkt neben Bahngleisen, rund 20 Kilometer vor den Toren Berns. Mieterin ist die Schweizer Sterbehilfeorganisation Ex International, deren ehren-amtliche Mitarbeiterin in der anliegenden Küche Dokumente vorbereitet, die später benötigt werden, wenn Polizei und Staatsanwalt kommen, um den Tod meines Vaters zu untersuchen. Gerlinde Mosta (Name geändert) ist eine ernsthafte, aber freundliche Frau Mitte 60, die diese Arbeit aus Überzeugung tut, wie sie uns am Abend zuvor erklärt hat. Vorhin hat sie meinem Vater ein Glas Wasser mit Magentropfen gereicht, die das tödliche Getränk verdaulicher machen, das er 30 Minuten später einnehmen muss. Seither tickt die Uhr. 12.06 Uhr. Hier sitzen wir also. Meine Schwester stillt den Kleinen, damit er nicht gleich nach Nahrung ruft, wenn wir im Zimmer nebenan meinen Vater in den Tod begleiten. Der berichtet von der abschließenden ärztlichen Untersuchung, die heute Vormittag stattgefunden hat. Er wirkt gelöst. Ich denke, dass es schön wäre, käme die Sonne heraus, damit mein Vater sie ein letztes Mal sähe. Aus Bern sind wir im dichten Schnee-gestöber aufgebrochen. Nun nieselt es. Meine Mutter fragt, ob mein Vater noch einmal aufs Klo müsse. Er verneint. Schweigen. Lächeln. Worüber spricht man, wenn der Tod nebenan wartet? Mein Vater erzählt, der Mediziner heute Vormittag sei unendlich langsam zu Werke gegangen, ein typischer Berner eben. Das habe ihn an den Witz vom langsamen Berner erinnert. Mit verschmitzter Miene fragt er in die Runde, ob er uns den erzählen solle. Spontan wird mir unwohl bei dem Gedanken, jetzt über einen Witz zu lachen. Doch mein Vater hat schon begonnen. Die Pointe sitzt, wir lachen herzlich. Die Krankheit hat ihm fast jede Bewegungsmöglichkeit geraubt, hat seine einst kräftige Stimme brüchig und seine Sportleratmung kurz werden lassen. Doch seinen Humor hat er sich nicht nehmen lassen. So ist mein Vater: kein Grübler, sondern ein zupackender Typ. Ein Kind des Ruhrgebiets, glühender Anhänger des BVB. Politisch engagiert, Lehrer für Chemie und Physik, Fußballer, Bergsteiger und Marathon-läufer, aber auch begeisterter Chorsänger, ein Vereinsmensch. Die Diagnose ALS erhielt er kurz nach seinem 60. Geburtstag. Diese heimtückische Krankheit des zentralen und peripheren Nervensystems ist seit 140 Jahren bekannt, aber immer noch nicht heilbar. In Deutschland sind schätzungsweise 6.000 Menschen daran erkrankt. Der deutsche Maler Jörg Immendorff starb 2007 nach zehnjähriger Krank-heit. Der britische Astrophysiker Stephen Hawking lebt seit 1963 mit ALS. Verlauf und Lebenserwartung unterscheiden sich von Fall zu Fall erheblich. Sicher ist den Betroffenen nur eins: dass ihr Zustand immer schlechter wird. Meinen Vater zwang die Diagnose, Lauf- und Wanderschuhe an den Nagel zu hängen. Später war es auch mit dem Singen vorbei. Für mich blieb die Krankheit zunächst abstrakt, auch weil ich weit von Köln entfernt in Berlin wohne. Erst als er 2006 einen Stock benötigte, später einen Rollstuhl, sickerte die Erkenntnis durch, dass unser altes Leben nicht mehr wiederkehren würde. Umbauten im Elternhaus wurden nötig, immer leistungsfähigere Rollstühle angeschafft, das Auto wurde mit einer Laderampe versehen, über die man in das Wageninnere hinein-fahren konnte. Doch gerade an diesen technischen Hilfsmitteln offen-barte sich die ganze Hilflosigkeit, auf die die Krankheit ALS die an ihr Leidenden immer wieder zurückwirft. Jedes Mal wenn mein Vater gelernt hatte, den Verlust einer motorischen Fähigkeit zu akzeptieren und ein geeignetes Hilfsmittel in seinen Alltag zu integrieren, folgte der nächste Schub, der die neu gewonnene Souveränität wieder zunichtemachte. Trotzdem gelang es über viele Jahre, ein Umfeld zu schaffen, in dem mein Vater weiterhin am Leben teilhaben konnte, so gut es ging. Doch es ging eben immer schlechter. Das zeigte sich vor allem im letzten Jahr, als die Kraft endgültig aus seinen Armen und Händen schwand. Den Rollstuhl konnte er trotz aller Technik am Ende nur noch wenige Minuten selbst steuern. Intensivere Unterhaltungen führten zu Atemnot, in der Nacht raubte ihm ein chronischer Husten den Schlaf. 12.15 Uhr. Der Witz vom langsamen Berner hat die Stimmung gelöst. Meine Schwester hat ihren Sohn zu Ende gestillt. Er schaut nun sehr aufmerksam meinen Vater an, der lächelnd zurückschaut. Die Geburt seines ersten Enkels drei Monate zuvor hat ihm noch einmal neue Kraft gegeben. Wir meinen, der Kleine habe seine Ohren. Meinem Vater rollen ein paar Tränen die Wange hinunter, er muss sich schnäuzen. Bevor jemand anderes reagieren kann, ist meine Mutter aufgesprungen, um ihm die Nase zu putzen. Jahrelang hat meine Mutter versucht, die verloren gegangene Selbstständigkeit meines Vaters zu kompensieren, mit dem Ergebnis, dass auch sie ihr eigenständiges Leben einbüßte. Zuletzt stand sie selbst kurz vor dem Burn-out. Meine Geschwister und ich bemühten uns, sie regelmäßig zu entlasten, doch das Grundproblem konnten wir nicht lösen. Zwar gab es einen Pflegedienst, der meinen Vater aus dem Bett holte, ihn wusch und in den Rollstuhl setzte. Ehrenamtliche Helfer übernahmen stundenweise die Betreuung. Doch trotz der Hilfe blieben 90 Prozent der Tageszeit – von den Nächten ganz zu schweigen –, in denen meine Mutter auf sich gestellt war. Selbst Alltäglichkeiten, wie eine juckende Nase oder das Umblättern der Zeitung, erforderten ihre Hilfe. Eine Dauerpflegekraft war weder bezahlbar noch räumlich unter-zubringen. Ein Pflegeheim kam für meinen Vater niemals infrage. Es grauste ihm bei dem Gedanken, zwischen 80- und 90- jährigen Demenzkranken zu leben und für jede Kleinigkeit eine fremde Pflegerin rufen zu müssen, die sich parallel um viele andere Menschen kümmern muss. Mein Vater fühlte sich nicht alt. Sein Geist war von der Krankheit kaum beein-trächtigt, höchstens in dem Sinne, dass ihm das Lebenselixier fehlte, die Aktivität. Wir suchten nach Alternativen, etwa einer Wohngemeinschaft mit privatem Pflegedienst, wie es sie für Demenzkranke zunehmend gibt. Doch Fälle wie die meines Vaters scheinen zu selten zu sein, um passende Angebote am Markt entstehen zu lassen. Geistig fit, aber körperlich auf permanente Rundumbetreuung angewiesen, mit dieser Kombination fällt man aus dem Raster. Je mehr sich der Zustand meines Vaters verschlechterte, desto häufiger sprachen wir über das Thema Sterbehilfe. Eine Patientenverfügung hatte er schon lange vor seiner Erkrankung unterzeichnet. Dass die Beihilfe zum Suizid in Deutschland de facto verboten ist, hielt mein Vater für inhuman. Ich war lange Zeit anderer Ansicht. Liegt das Inhumane nicht vielmehr in einer Gesellschaft, die trotz materiellen Reichtums unfähig ist, pflegebedürftigen Menschen individuell gerecht zu werden? Ist es in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder wesentlich nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sortiert, nicht naheliegend, einen Suizidwunsch zu entwickeln, wenn man ganz und gar abhängig und unproduktiv ist? Öffnet die Sterbehilfe nicht eine Tür, die besser verschlossen bleiben sollte? Spätestens nachdem im Herbst 2010 ein Mitarbeiter von Ex Inter-national im Wohnzimmer meiner Eltern gesessen und sich über fünf Stunden lang ein Bild von meinem Vater, seiner Erkrankung und seinen Beweggründen gemacht hatte, waren solche Fragen allgegenwärtig. Wir versprachen meinem Vater, ihn auf diesem Weg zu begleiten, wenn das sein freier Wille sei. Doch was ist ein freier Wille? Sind es am Ende nicht doch die Umstände, die den Tod als das kleinere Übel erscheinen lassen? Und sollte man in diesem Fall nicht versuchen, die Umstände zu ändern, statt jemandem zu helfen, sein Leben zu beenden? Ich musste lernen, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt, vor allem keine allgemeingültigen. Für meinen Vater war die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können, ein emotionaler Anker. Zu wissen, dass er diese letzte Entscheidung selbst treffen konnte, stärkte seinen Lebensmut. Er wäre andernfalls viel früher innerlich zusammengefallen. Diese Möglichkeit war allerdings von der Fähigkeit abhängig, die Reise in die Schweiz antreten zu können, was ein Minimum an körperlicher Selbstständigkeit voraussetzte. Der nächste Schub der Krankheit würde ihm diese vermutlich nehmen. Wollte er die Gelegenheit ergreifen, musste er bald handeln. Das aber heißt: Wäre Sterbehilfe in Deutschland möglich gewesen, hätte mein Vater den Sommer 2012 vermutlich noch erlebt. Wahr ist auch, dass die vorhandenen Pflegeangebote für ihn keine Perspektive boten. Doch seine grundsätzliche Entscheidung war von diesen Umständen unberührt. Er wusste: Die Krankheit würde ihm den letzten Funken physischer Selbstständigkeit und schließlich seinen Lebensmut rauben, egal, wie gut die Pflege organisiert wäre. Er war über den Punkt hinaus, an dem dies noch einen Unterschied gemacht hätte. Ich konnte lange Zeit nicht akzeptieren, dass jemand sterben will, weil sein Körper nicht mehr mitspielt. Inzwischen habe ich erkannt, dass der Lebenswille davon abhängt, was einen im Leben antreibt. Mein Vater wollte nie das Universum ergründen wie Stephen Hawking, den Assistenten, Pfleger und viele technische Hilfsmittel unterstützen, sondern mit seinem Enkel im Park Fußball spielen, auf Berge klettern, den Rhein entlangjoggen oder einen kaputten Stuhl kleben. Mein Vater fühlte sich eingesperrt im eigenen Körper. Und in Gefangenschaft konnte er auf Dauer nicht leben. Als meine Mutter mich am 6. Januar 2012 anrief und fragte, ob ich um den 24. Januar ein paar Tage Urlaub nehmen könne, wusste ich, dass mein Vater sich entschieden hatte, das Gefängnis zu verlassen. Es folgten zweieinhalb unwirkliche Wochen, in denen alles wie immer war und doch alles anders. Wir wollten die Zeit bestmöglich nutzen – und sprachen doch über Alltägliches wie die Causa Wulff, den Rück-rundenauftakt der Bundesliga, den Ausfall von Mario Götze und das unvermeidliche Wetter. Nicht nur, aber eben auch. Es war gesellig wie immer, sogar lustig, manchmal melancholisch. Hin und wieder spürte ich einen Stich in der Magengrube, wenn das Gespräch auf ein Datum jenseits des 24. Januar fiel. Ein paar Tage vor dem Termin brachen wir aus Köln in Richtung Schweiz auf. Als wir mit dem Auto über die Zoobrücke fuhren, warf mein Vater einen letzten Blick auf den Dom. Zwei Tage später näherten wir uns Bern. Auf der linken Fensterseite rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau frei. Ob wir noch einmal näher heranfahren sollten, fragte meine Mutter. Mein Vater schüttelte schweigend den Kopf. Vor langer Zeit schon hatte er gesagt, dass seine Asche am Fuße der Eigernordwand verstreut werden solle. 12.30 Uhr. Der Witz vom langsamen Berner ist verhallt. Mein Vater weint. Meine Schwester auch. Ich reiche Taschentücher und kämpfe selbst mit den Tränen. Draußen hat es aufgehört zu nieseln. Die Sonne scheint jetzt durch das Fenster, meinem Vater direkt ins Gesicht. Dann geht die Tür auf, und Frau Mosta bittet uns in das Nebenzimmer. Ich helfe meinem Vater aus seinem Rollstuhl auf die bereitstehende Liege, so wie ich es immer getan habe, wenn ich ihn ins Bett brachte. Zum letzten Mal, schießt es mir durch den Kopf. Ich halte ihn lange fest, bevor ich ihn behutsam hinlege, flüstere ihm ein paar Worte ins Ohr und küsse ihn auf die Stirn. Meine Geschwister und meine Mutter folgen. Wir weinen. Mein Vater bittet, dass jemand seine Hand hält. Frau Mosta reicht ihm das tödliche Getränk. Er holt tief Luft, sagt mit fester Stimme: »Okay, let’s go«, und leert das Glas. Ich stehe regungslos da und sehe die Flüssigkeit weniger werden. Bis zuletzt war ich mir nicht ganz sicher, ob er diesen Schritt wirklich gehen würde. Niederländische Ärzte benutzen auch heute dieses Wort, wenn ein sterbenskranker Mensch bewusst um Hilfe zum Sterben bittet und der Arzt sie gewährt. Etwa indem er ein muskelentspannendes Medikament und ein Schlafmittel verabreicht. In Deutschland ist solche aktive Sterbehilfe als "Tötung auf Verlangen" nach Paragraf 216 des Straf- gesetzbuchs grundsätzlich verboten. Mein Kopf schwirrt, ich höre mich etwas sagen. Als mein Vater die Augen schließt, brechen bei mir alle Dämme. Ich weine hemmungslos. Seine Atmung wird flacher, immer flacher. Schließlich sehe ich, wie das Leben aus ihm entweicht. Frau Mosta prüft seine Halsschlagader und bestätigt den Tod. Ich verlasse den Raum. Ich trauere um meinen Vater. Ich hadere mit dem Schicksal. Ich wünschte, er hätte mehr Zeit gehabt, gesund durch das Leben zu gehen. Doch ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich mit seinem mutigen Schritt sehr viel Leid erspart hat. Die Tage in der Schweiz waren die härtesten meines Lebens, aber ich bin dankbar, dass ich meinen Vater auf diesem letzten Weg begleiten durfte. Ich kann einige Argumente gegen die Sterbehilfe nachvollziehen, schließlich waren sie einmal meine eigenen. Doch heute denke ich, dass sie der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Sie zeigen keinen Ausweg in Situationen, in denen Menschen wohlüberlegt den Tod dem Leben vorziehen. Mein Vater war in seinem Körper gefangen. Gestorben ist er als freier Mann. Die ZEIT, 21.08.2012 Das Wort Sterbehilfe ist ungenau und führt bei Laien und Ärzten regelmäßig zu Missverständnissen. Sie assoziieren damit schnell …..  Weiterlesen
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