Siegfried
Trapp
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Fehlendes Vertrauen in Institutionen
Spaß am Zerstören
Am Montag bewarf ein Komiker den scheidenden Präsidenten der Fifa, Sepp Blatter, mit Geldscheinen
auf einer Pressekonferenz. Ausdruck grenzenlosen Zorns über das korrupte System des
Weltdachverbandes des Fußballs.
Seit Monaten wird mehr über das Ausmaß der Korruption bekannt, aber selbst als
die Schweizer Polizei führende Fifa-Funktionäre in einem schicken Hotel in Zürich
verhaftete, waren nur sehr wenige darüber schockiert, dass der Weltdachverband
des Fußballs korrupt ist. Gestaunt wurde eher darüber, dass die Oberhäupter einer
Institution, die schon lange den Ruf innehat, Gesetze zu übertreten, für ihre
Verbrechen überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Dieses Staunen ist typisch für eine Stimmung, die es derzeit in vielen Ländern gibt.
Wir haben uns so an Nachrichten über inkompetente oder unethische
Institutionen gewöhnt, dass uns ihr Fehlverhalten selbst weniger überrascht, als
dass es uns überrascht, wenn dieses Konsequenzen hat.
Wenn wir das katastrophale Versagen der USA und Großbritanniens im Irak von
2003 bis heute betrachten, den Beinahe-Zusammenbruch des weltweiten
Finanzsystems im Jahr 2008 oder die Aufdeckung des weitflächigen sexuellen
Missbrauchs in der katholischen Kirche in den letzten zwei Jahrzehnten, dann ist
es leicht verständlich, warum das Misstrauen in viele Institutionen
allgegenwärtig ist: Regierungen, Großunternehmen, Kirchen und auch die Presse
haben uns immer wieder enttäuscht.
In den Vereinigten Staaten hat das Vertrauen in die Regierung seit 50 Jahren
abgenommen. Nur 24 Prozent der Amerikaner sagen heute, dass sie ihrer
Regierung die meiste Zeit trauen. 1964 lag der Wert noch bei 77 Prozent.
Sinkende Partizipation
Die Amerikaner misstrauen auch anderen Institutionen: Umfragen belegen, dass
das Vertrauen in Konzerne, Banken, Zeitungen, Universitäten, gemeinnützige
Organisationen und Kirchen ständig sinkt. Nur auf das Militär und die Polizei
verlassen sich die Amerikaner heute mehr als noch vor einer Generation.
Obwohl die USA und Europa sich hier in ihrem besonderen Argwohn
unterscheiden, ist das allgemeine Muster ähnlich. Die amerikanische PR-Agentur
Edelman befragt jährlich Tausende Bürger aus 33 Nationen, um ein "Vertrauens-
Barometer" zu erstellen, das das öffentliche Vertrauen in Regierung, Wirtschaft,
gemeinnützige Organisationen und die Medien misst. Nach dieser Umfrage
herrscht in Deutschland, Italien, Polen, Spanien, Schweden und Irland sogar noch
mehr Misstrauen in die Institutionen als in den USA.
Eine vorhersehbare Konsequenz daraus ist sinkende Partizipation. Weniger als 37
Prozent der wahlberechtigten Amerikaner nahmen an der Wahl zu Senat und
Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten 2014 teil. Die Wahlbeteiligung in
Europa ist höher als das trostlose Ergebnis in den USA, aber sie sinkt seit 1979
ständig. An der Wahl des EU-Parlaments beteiligten sich 2014 weniger als 43
Prozent.
Es wäre falsch, diese Ergebnisse auf abgelenkte oder uninteressierte Wähler zu
schieben, denn es gibt eine bessere Erklärung: Warum sollte man wählen gehen,
wenn man nicht glaubt, dass der US Kongress oder das Europaparlament fähig ist,
die Welt sinnvoll zu gestalten?
In seinem 2012 erschienenen Buch "Twilight of the Elites" schreibt der Autor
Christopher Hayes, dass die politischen Spannungen heutzutage nicht zwischen
Links und Rechts bestünden, sondern zwischen Menschen, die Institutionen
vertrauen, und solchen, die das nicht tun.
Auf der einen Seite stehen Menschen, die glauben daran, dass wir die Probleme der
Welt lösen, indem wir die bestehenden Institutionen stärken.
Institutionsverweigerer sind dagegen überzeugt, dass wir kaputte Organisationen
los werden müssen, um sie durch bessere zu ersetzen - oder um sie ganz
abzuschaffen.
Die Befürworter von Institutionen gehen wählen, aber sie werden von den
Institutionsverweigerern übermannt, die auf die Straße gehen oder sich - noch
beunruhigender - ganz vom bürgerlichen Leben abkapseln.
Bislang zeigt die Erfahrung, dass Institutionsverweigerer irgendwann erwachsen
werden, mit dem Protestieren aufhören und mit dem Wählen anfangen. Aber wir
könnten einen Wendepunkt erreicht haben, an dem der kulturelle Zeitgeist die
Rebellion bevorzugt. Meine Studenten am Massachusetts Institute of Technology
wollen nicht für Banken arbeiten, nicht für Google oder für Universitäten - sie
wollen Start-Ups gründen, die Banken, Google und Universitäten
durcheinanderbringen.
Neue Verfahren, um der Verdichtung von Macht zu widerstehen
Die Zukunft der Demokratie hängt davon ab, dass Menschen, die den Institutionen
misstrauen, wirksame Wege finden, um in ihren Gemeinschaften, in ihren Ländern
und in der Welt als Ganzes etwas zu ändern. Die wahre Gefahr ist nicht, dass
unsere kaputten Institutionen von einer Welle des digitalen Dissenses weggespült
werden, sondern dass eine Generation von Politik und Öffentlichkeit nichts mehr
von ihnen wissen will.
Es ist an der Zeit, die Jugend nicht mehr dafür zu kritisieren, dass sie nicht wählen
geht; es ist vielmehr Zeit zu feiern, wie Institutionsverweigerer tatsächlich
versuchen die Welt zu verändern. Diejenigen, die den Institutionen nicht mehr
trauen, ignorieren sie nicht einfach. Einige bauen Systeme, die darauf ausgelegt
sind, bestehende Institutionen überflüssig zu machen. Andere werden zu den
schärfsten Kritikern unserer Institutionen, während die Radikalsten neue
Verfahren entwickeln, die der Zentralisierung und Verdichtung von Macht
widerstehen.
Wer sich über die Komplizenschaft von Regierung und Wirtschaft bei der
Internetüberwachung empört, hat die Möglichkeit, sich bei seiner Regierung dafür
einzusetzen, dass diese Verletzungen der Privatsphäre verboten werden, oder er
programmiert und verbreitet Tools, die es den amerikanischen und europäischen
Regierungen erheblich schwerer machen, unsere Mails zu lesen und unser
Verhalten online zu verfolgen.
Wir brauchen sowohl bessere Gesetze als auch bessere Werkzeuge. Und wir
müssen anerkennen, dass die Programmierer, die Verschlüsselungs-Software wie
Tor, PGP und Textsecure geschaffen haben, genauso politisch aktiv sind wie
jemand, der am Programm einer politischen Partei arbeitet.
Das gilt auch für Unternehmer, die lieber bessere Elektroautos bauen, als für eine
höhere CO2-Steuer zu kämpfen. Wenn die Menschen den Glauben an die
Institutionen verlieren, versuchen sie nicht mehr so sehr, Wandel durch neue
Gesetze herbeizuführen, sondern indem sie Technologien und Geschäftsideen
entwickeln.
Diese wachsamen Bürger sind Aktivisten, deren Engagement darauf ausgerichtet
ist, die Arbeit der Institutionen zu beobachten und zu kritisieren. Die jungen
Italiener hinter Monithon.it gehören zu ihnen. Ihr Projekt lädt Bürger ein, mit EU-
Fördermitteln bezahlte Maßnahmen zu untersuchen und zu bewerten. Andere
wachsame Bürger gehen Beschwerden gegen die Polizei nach und ziehen
Befehlshaber für Misshandlungen zur Rechenschaft.
Neue Werkzeuge und Techniken, einschließlich Videoplattformen und Crowd-
Journalismus, helfen, das Machtgefälle zwischen etablierten Institutionen und den
Bürgern, die sie haftbar machen wollen, abzusenken.
Einige der radikalsten Gedanken über eine post-institutionelle Zukunft kommen
von Befürwortern von Techniken wie Bitcoin, einer virtuellen Währung, die ihre
Nutzer davon befreien soll, den Zentralbanken und den Regierungen, die sie
stützen, vertrauen zu müssen.
Dezentralisierung ist ein schwieriges Problem
Verteidiger des Internets haben langjährige Erfahrung damit, dezentralisierte
Systeme zu unterstützen, Netzwerke, die ohne zentralen Provider Zugang zum
Internet bieten, oder der "Freedom Box", die Webseiten im ganzen Internet
spiegelt, statt sie auf einem einzigen zentralen Server zu speichern.
Aber die Dezentralisierung ist ein schwieriges technisches Problem.
Technologieanbieter wie Google und Facebook wurden nicht nur zu mächtigen
Institutionen aufgrund des Ehrgeizes ihrer Gründer, sondern weil es schwierig ist,
Suchmaschinen und Soziale Netzwerke dezentral zu konstruieren.
Hätten Bürger-Wächter der Fifa verhindern können, dass Katar die
Weltmeisterschaft 2022 ausrichtet? Hätten dezentrale Soziale Netzwerke der NSA-
Überwachung standgehalten? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Sicher ist nur:
Bürgern, die Institutionen mit neuen Methoden herausfordern und die Politik mit
anderen Mitteln betreiben, sind im Zeitalter des Misstrauens Vorbilder.
Ethan Zuckerman ist ein amerikanischer Wissenschaftler, Blogger und Internetaktivist. Er ist Direktor des
Center for Civic Media am Massachusetts Institute of Technology. Zuletzt erschien von ihm: "Rewire!
Warum wir das Internet besser nutzen müssen". Deutsch von Benedikt Frank
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 21. Juli 2015, 18:54 Uhr, Gastbeitrag von Ethan Zuckerman