Sekundärtugend
Sekundärtugend ist ein Begriff aus den deutschen Werturteilsstreitigkeiten der
1970er Jahre. Als Sekundärtugenden wurden Charaktereigenschaften eingestuft,
die zum „Gelingen einer Gesellschaft“ beitrügen, die aber den unmittelbaren
Tugenden nachgeordnet zu werden hätten, da sie für sich alleine ethisch keine
Bedeutung haben, solange sie nicht als Umsetzung dieser Primärtugenden gemeint
sind.
Zu den Sekundärtugenden wurden insbesondere Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin,
Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit,
Sauberkeit u. a. m. gezählt, meist aus dem Katalog der preußischen Tugenden, bzw.
des "bürgerlichen" Tugendkatalogs, der namentlich mit der Zeit der Aufklärung
nachhaltig pädagogisch aufgearbeitet wurde. Zu dieser Zeit hatten diese Tugenden
durchaus emanzipatorischen Charakter. Mit ihrer Kultivierung wurde die
Bewältigung des Alltags erleichtert und die Abgrenzung vom "sittenlosen" Adel
stiftete Identität. Otto Friedrich Bollnow ließ 1963 der Ordnung und Reinlichkeit,
dem Fleiß und der Wahrhaftigkeit noch einmal eine Bestätigung zukommen,
registrierte aber bereits "das absinkende Verständnis" in der Gesellschaft.
Kritik und Gegenkritik
Kritiker herkömmlicher Tugenden verwandten den Begriff nach 1968 (Studenten-
bewegung) vorwiegend verächtlich, oft ohne analytische Erörterung etwaiger
„Primärtugenden“. Sie verwiesen darauf, dass das Hochhalten dieser Tugenden im
Nationalsozialismus die Nationalsozialisten nicht an unmenschlichen Ver-brechen
gehindert habe. Stattdessen wurden postmaterialistische Werte wie
Menschlichkeit, Kreativität und Selbstverwirklichung betont. Carl Amery, der mit
seiner Schrift "Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute" das ("klein")
"bürgerliche Werte und Tugendsystem" kritisierte und die Diskussion nachhaltig
beeinflusste, schrieb: "Ich kann pünktlich zum Dienst im Pfarramt oder im
Gestapokeller erscheinen; ich kann in Schriftsachen ´Judenendlösung´ oder
Sozialhilfe penibel sein; ich kann mir die Hände nach einem rechtschaffenen
Arbeitstag im Kornfeld oder im KZ-Krematorium waschen." (Seite 23). Berühmt ist
eine Äußerung Oskar Lafontaines, der auf eine Sekundärtugenden lobende
Äußerung Helmut Schmidts in einem Interview mit dem Stern vom 15. Juli 1982
sagte: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Mach-
barkeit, Standhaftigkeit. [...] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt:
Damit kann man auch ein KZ betreiben.“
Allerdings, und das ist ein differenziertes Argument und Kern der Kritik an der
Kritik, sind diese Tugenden für sich zunächst neutral, denn erst durch den Zweck,
dem sie dienen, bekommen sie eine wertende Eigenschaft. Dementsprechend
erwiderte Helmut Schmidt, dass es schließlich auch dieselben Tugenden gewesen
seien, mit denen die Lagerinsassen von ihren Häschern befreit wurden.
Mit der Schüler- und Studentenbewegung wurden die überlieferten Erziehungs-
ziele unbesehen über Bord geworfen. Das hatte auch seine Auswirkungen auf die
erzieherische Praxis. Die Erziehung in Summerhill (A.S. Neill), die vielen liberalen
Eltern Anregung bot, lehnte die Sekundärtugenden radikal ab. Ordnung und
Reinlichkeit hatten bei Neill keinen Stellenwert. Auf die von den Kindern oft
geheuchelte Bescheidenheit und Dankbarkeit verzichtete er zugunsten einer neu
verstandenen Ehrlichkeit. Der pädagogisch verstandene Terror um die "Lügen" der
Kinder wurde als Verlogenheit der Erwachsenen hingestellt und was den Fleiß
anging, so konnte es Neill durchaus verstehen, wenn seine Schülerinnen und
Schüler dem Unterricht auch mal fernblieben. Blinde Folgsamkeit definierte er als
Zwangsgehorsam, der die Kinder in die Randständigkeit treibt.
In der deutschen Wertediskussion ausgangs des 20. Jahrhunderts hatten die
bürgerlichen Tugenden keinen Rang. Wenn auch die Diskussion um die platte
antiautoritäre Erziehung zugunsten einer reflektierteren emanzipatorischen
Pädagogik schnell abebbte, so behielten doch Ziele wie Selbstbestimmung,
Konfliktfähigkeit, Nonkonformität, Gleichberechtigung, Emanzipation und
Solidarität Vorrang.
Verteidiger eines harmonischen Tugendkomplexes und damit Gegner der 68er
Tugendkritik argumentieren weiterhin unter anderem mit folgendem Satz: „Alle
hat, wer eine hat und keine beleidigt, und keine hat und alle beleidigt, wer eine
beleidigt.“ Damit wollen sie ausdrücken, dass die Tugenden alle zusammen hingen.
Wer beispielsweise Gerechtigkeit ohne Taktgefühl und Ordnung lebe, könne im
wahren, tugendhaften Sinn nicht gerecht sein, da Gerechtigkeit stets darin bestehe,
jedem das Seine zukommen zu lassen, was ohne geordnete Scheidung von Gleich
und Ungleich nicht möglich sei.
Eine Rehabilitierung der Sekundärtugenden wurde von dem Hamburger
Erziehungswissenschaftler Friedrich Koch versucht. Für die erzieherische
Umsetzung freilich sei zu bedenken, dass niemand zur Kulturfähigkeit beitrage, der
die Triebe des Kindes nicht akzeptieren kann und sie unterdrückt. Konkret heißt
das für die Tugenden:
Niemand erzieht zu Ordnung und Sauberkeit, der die Kinder in ein eng
vorgegebenes System zu pressen versucht;
niemand erzieht zur Dankbarkeit, der die spontanen Impulse und
Bedürfnisse der Kinder ignoriert;
niemand erzieht zur Ehrlichkeit, der sie mit Strafen oder logischen Folgen zu
erreichen versucht;
niemand erzieht zu Gehorsam durch die Überbetonung der personalen
Autorität oder durch scheinbare Sachzwänge;
niemand erzieht zu Fleiß durch offene Drangsaliererei oder durch
überspannte stumme Erwartungen;
niemand erzieht zur Bescheidenheit, der von vornherein die Rechte des
Kindes einschränkt;
niemand erzieht zu sexueller Verantwortung, der die kognitiven, affektiven
und genitalen Interessen der Kinder und Jugendlichen unterdrückt
Quelle: Wikipedia
Siegfried
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