Neues Deutschland
Natürlich ist Deutschland ein Einwanderungsland, das zudem
ziemlich viel Erfahrung mit Integration hat. Sagt der
Migrationsforscher Jochen Oltmer. Anerkennung und Respekt im
Alltag seien dafür extrem wichtig.
Interview: Oliver Gehrs, Foto: Martin Schoeller
Momentan wird sehr viel über
Integration gesprochen und
geschrieben. Verstehen wir alle
dasselbe darunter?
Das glaube ich nicht. Es gibt auch
keine wissenschaftliche Definition, die
tragfähig wäre. In Deutschland ist
damit immer noch oft Anpassung
gemeint – oder schlimmer:
Eingliederung. Ein Begriff, der aus
dem preußischen Militär kommt.
Wenn man die Rekruten aufnahm,
wurden die in Reih und Glied
aufgestellt und uniformiert. Dieses
Bild der Gleichmacherei ist heute noch
präsent, auch die Vorstellung von
Homogenität. Eine Gesellschaft soll
homogen sein, um zu funktionieren.
Aus diesem Gedanken heraus werden
Normen entwickelt, von denen
niemand abweichen soll. Es gibt die
Vorstellung von einer Art
Wertehimmel, der alles überwölkt.
Diese Homogenitätsvorstellung ist
schon so alt wie der Nationalstaat und
leider heute noch ein Riesenproblem
in den Debatten. Uns umgibt aber
Vielfalt und Heterogenität, und wir
haben viele Strategien, jeden Tag
damit umzugehen.
Was ist überhaupt die Gesellschaft, in
die man sich integrieren soll?
Die gibt es eigentlich auch nicht. Es
müsste viel stärker betont werden,
dass Menschen an unterschiedlichen
Bereichen der Gesellschaft teilhaben
und dass das nicht immer mit der
gleichen Geschwindigkeit passiert.
Manche sind zum Beispiel wunderbar
am Arbeitsplatz integriert, haben aber
in ihrer Freizeit keinen Kontakt zu
Einheimischen. So jemand ist in einen
Teil der Gesellschaft integriert, in
einen anderen nicht.
Oft ist auch die Rede von einer
Parallelgesellschaft, in der Migranten
leben. Unter diesen Begriff könnte
man auch Millionäre fassen – mit
ihrem Lebensstil, den ja nur wenige
teilen. Es gibt die falsche Vorstellung,
dass die deutsche Gesellschaft sehr
einheitlich ist und alles, was von
außen kommt, ein Problem ist.
Kann Integration in kurzer Zeit
gelingen?
Dieses Ankommen und
Akzeptiertwerden ist ein sehr langer
Prozess, der Jahre dauert, oft sogar
Jahrzehnte. Die erste Einwanderer-
generation hat meist große
Schwierigkeiten anzukommen.
Die Menschen müssen schlechtere
Jobs machen als in den Ländern, aus
denen sie kommen. Ihre
Bildungsabschlüsse werden nicht
anerkannt, es kommt zur
sogenannten Dequalifikation. Bei
ihren Kindern sieht das anders aus,
schon weil sie die
Bildungseinrichtungen durchlaufen.
Sind wir ein Einwanderungsland?
Schon lange. Es gab nur so eine Art
bewusstes Beschweigen – auch aus
der Angst heraus, Wähler zu
vergraulen, wenn man darüber
spricht. Jahrzehntelang hieß es
deswegen: Deutschland ist kein
Einwanderungsland. Deswegen
mussten wir nicht darüber reden, was
es heißt, wenn man doch eins ist. Als
die Gastarbeiter ab den 1950ern
kamen, war man sich einig, dass die
wieder gehen, und deswegen bestand
keine Notwendigkeit, über Integration
nachzudenken. Erst 2005 wurde der
Bund mit dem Zuwanderungsgesetz
aktiv. Bis dahin wurde
Integrationspolitik auf kommunaler
Ebene gemacht. Große Städte wie
München oder Stuttgart haben schon
Anfang der 1970er-Jahre Pläne dafür
gemacht, Stellen geschaffen, Büros
eingerichtet. Der Bund kam erst 30
Jahre später dahin. Da hatte Stuttgart
schon längst das Label
Integrationsstadt .
Nun ist Stuttgart eine wirtschaftlich
starke Region. Hat der Zuzug zum
Wohlstand beigetragen, oder ist es
eher so, dass die Integration dort gut
funktioniert, wo Arbeitsplätze sind?
Das bedingt sich gegenseitig sehr
stark. Auch wenn es immer schwierig
ist, die wirtschaftliche Potenz von
Migration zu messen. Nach der
Gründung der Bundesrepublik hat die
Zuwanderung das sogenannte
Wirtschaftswunder forciert. Bis 1949
waren mehr als zehn Millionen
Flüchtlinge und Vertriebene
gekommen, bis zum Mauerbau 1961
kamen noch rund drei Millionen DDR-
Flüchtlinge dazu. Das waren zu einem
Großteil Menschen mit Ambition. Sie
haben früh erkannt, dass sie sich
anstrengen müssen, um wieder in
eine Position zu kommen, die sie mal
hatten. Im Kontext von Migration
sehen wir immer wieder, dass ich
mich bemühen und vielleicht auch
Jobs übernehmen muss, die
Einheimische nicht übernehmen
wollen. Diese spezifische Motivation
trägt dazu bei, dass ein Land Vorteile
durch diese Menschen hat.
Wie viele Menschen, die einwandern,
bleiben eigentlich langfristig?
Zwischen den 1950er-Jahren und
1973 sind rund 14 Millionen
ausländische Arbeitskrfte gekommen,
von denen 11 Millionen wieder
zurückgegangen sind. Und selbst bei
denen, die geblieben sind, war es in
vielen Fällen so, dass die Rückkehr
immer wieder aufgeschoben wurde
und man sich nie entschied, endgültig
zu bleiben. Wenn meine Zukunft aber
nicht hier liegt, sind die Bemühungen,
an den Entwicklungen des neuen
Landes teilzuhaben oder Kontakte zu
knüpfen, häufig nur halbherzig. Wenn
ich jedoch weiß, dass ich hierbleibe,
ist die Motivation eine ganz andere.
2014 sind knapp 1,5 Millionen
Menschen nach Deutschland
gekommen …
Und fast eine Million ist gegangen.
Migration ist oft ein ständiges Hin und
Her. Wir dürfen uns die Entwicklung
nicht linear vorstellen, die Realität ist
Dynamik und Bewegung. Man muss
auch immer damit rechnen, dass
Menschen Integrationsprozesse
abbrechen. Es gibt Teilhabe an der
Gesellschaft, dann wieder ein
Herausfallen, es gibt Rückwanderung,
dann wieder Rückkehr. Das alles
gehört dazu, wenn man über
Integration spricht. Der Prozess ist
ergebnisoffen, das müssen wir
akzeptieren.
Ist es nicht genau diese Unsicherheit,
die den Menschen Angst macht und
Fremdenfeindlichkeit bei uns schafft?
Das ist ja nichts spezifisch Deutsches.
Migration wird von vielen als Problem-
thema verstanden, als Ergebnis von
Katastrophen oder wirtschaftlichen
Schwierigkeiten. Dabei sprechen wir
nie über das große Ganze, sondern
immer nur ber einzelne Phänomene,
gerade zum Beispiel über „die“
muslimischen
Männer aus Syrien oder Nordafrika.
Ende der 90er-Jahre wurde über „die“
Albaner gesprochen, vorher über „die“
Türken. Das große Bild der Migration
wird gar nicht wahrgenommen. Es
gibt heute in Deutschland zum
Beispiel 600.000 Menschen polnischer
Herkunft, die meisten sind in den
vergangenen Jahren gekommen. Aber
niemand spricht darber.
Welche Möglichkeiten hat die Politik,
Integration zu fördern?
Ich bin eher skeptisch, was
Integrationspolitik angeht. Natürlich
muss der Staat einen rechtlichen
Rahmen bieten, etwa den
Aufenthaltsstatus klären oder
Sprachkurse fördern. Aber gerade vom
Sprachenlernen wissen wir, dass
letztlich die Praxis zählt. Da reichen
nicht 600 Stunden am Stück, sondern
die Menschen müssen in ihrem Alltag
reden, am besten bei der Arbeit, in der
Nachbarschaft, in Vereinen.
Integration wird vor Ort ausgehandelt.
Wenn ich die heutige Diskussion mit
der in den 90er-Jahren vergleiche, als
viele Flüchtlinge vom Balkan kamen,
ist mehr Offenheit da, mehr
Bereitschaft, auf Zuwanderer
zuzugehen, sie im Alltag zu
unterstützen. Wir sind auf dem Weg in
eine Gesellschaft, die Migration als
Normalfall der Existenz anerkennt. Wir
können zumindest in Westdeutschland
auf Jahrzehnte zurckblicken, in denen
Vielfalt gewachsen ist. Dazu kommen
unsere eigenen
Fremdheitserfahrungen, die man über
Reisen oder Auslandsaufenthalten zum
Arbeiten oder Studieren macht. Das
hat mit zur Öffnung beigetragen. Auch
dass die deutsche
Fußballnationalmannschaft mit vielen
Einwandererkindern die WM gewonnen
hat, hat vielen Menschen positive
Effekte von Migration vor Augen
geführt.
Wie wichtig sind die islamischen
Verbände bei der Integration der
vielen Muslime, die nun kommen?
Das sind aus meiner Sicht regelrechte
Integrationsagenturen. Wenn etwa bei
der Islamkonferenz Vertreter der
islamischen Verbände dabei sind, dann
ist das bis zum letzten Mitglied der
Gemeinde ein Zeichen der
Anerkennung. Das heißt für sie: Wir
sitzen mit am Tisch und gehören dazu.
Das hört sich ja ganz so an, als sei
Deutschland ein vorbildliches
Einwanderungsland.
Es gab schon in den 90er-Jahren
Untersuchungen, wie Deutschland im
Vergleich etwa zu den Niederlanden,
Frankreich oder Belgien dasteht. Im
Ergebnis schnitt Deutschland ziemlich
gut ab. Integrationsmaßnahmen in
den Kommunen waren erfolgreicher
als die zentral gesteuerten
Programme. Und viele deutsche
Kommunen haben sehr früh
nachgedacht. Frankreich schnitt
deutlich schlechter ab, weil eine
gewisse nationale Integrationsidee zu
einer Homogenitätsvorstellung führte,
die der Integration anderer Menschen
nicht zuträglich ist. Gerade weil viele
Menschen in Deutschland viel
kritischer über das Deutschsein
nachdenken und Patriotismus eher
verpönt war, ist hier vieles besser
gelaufen, als wir lange gedacht haben.
Ende der 90er-Jahre haben dann auch
andere Länder über das „deutsche
Modell“ nach-gedacht. Also über das
Kommunale, das Dezentrale und das
Bürgerschaftliche.
Gibt es weltweit Vorbilder für
gelungene Integration, nach denen
man sich richten kann? In die USA
wanderten in den letzten 50 Jahren
offiziell 16 Millionen Mexikaner ein.
Klassische Einwanderungsländer wie
die USA haben eine ganz andere
Vorstellung von Gesellschaft. Sie
verstehen sich als heterogene
Migrationsgesellschaften, in denen
etliche Lebensentwürfe akzeptiert
werden. Es gibt einen gewissen
Common Sense über Werte und
Gesetze, aber es ist selbstverständlich,
dass die Einwanderer ihre kulturellen
Vorstellungen und Herkunfts-
gemeinschaften pflegen. Da wird ja bei
uns schnell von einem Getto
gesprochen. Das sind aber oft
Schutzräume, in denen das
Herkunftskollektiv zusammenlebt und
es dennoch gute Verbindungen zur
Umgebung gibt, zu Schulen oder
Arbeitsstätten. In den USA wird
niemand nach seiner Herkunft
gefragt. Hier passiert das selbst
Menschen, deren Familien seit drei
Generationen hier leben.
Warum?
Da kommt der berühmte Migrations-
hintergrund ins Spiel, den man selbst
dann hat, wenn die Vorfahren schon
1950 nach Deutschland gekommen
sind. In Deutschland wird man diesen
Status nicht los. In den USA würde
niemand auf die Idee kommen,
jemanden, dessen Großeltern
eingewandert sind, als Migrant zu
bezeichnen. Dabei ist dieser Begriff
mit bester Absicht erfunden worden,
um von dem Gerede vom Ausländer
wegzukommen. Jetzt haben wir aber
das Problem, dass dieses Label ein
lästiges Gepäck ist, das über
Generationen vererbt wird.
Können die Flüchtlinge, die nun
kommen, die Überalterung unserer
Gesellschaft aufhalten?
Da bin ich skeptisch. Demografen
haben ausgerechnet, dass bis 2040
rund 150 Millionen Menschen kommen
müssten, um die demografische Lücke
zu schließen, da man eben davon
ausgeht, dass zwei Drittel eh wieder in
ihre Heimat gehen. Da fragt man sich
schon, woher die alle kommen sollen
und wie man überhaupt mit so vielen
Einwanderern umgehen kann. 1997
lebten 330.000 Flüchtlinge aus
Bosnien hier, 2003 waren davon noch
zehn Prozent in Deutschland. Von der
Asylzuwanderung der 190er-Jahre ist
so gut wie nichts erhalten geblieben.
Nein, die Flüchtlinge werden den
Prozess der Alterung nicht aufhalten.
Daher benötigen wir eine Diskussion
über die Sozialsysteme. Die wurde
lange nicht geführt, obwohl wir doch
wissen, dass wir Veränderungen
brauchen.
Ist es nicht ohnehin so, dass nun
angesichts des Zuzugs viele Probleme,
die lange nicht angegangen wurden,
zur Sprache kommen – etwa der
soziale Wohnungsbau oder
Frauenrechte?
Ja, da ist die Situation fast so eine Art
Katalysator. Nun finden all diese
Debatten statt, und das ist ein
notwendiger Prozess. Ich finde es
wichtig, dass derzeit so intensiv und
kontrovers miteinander gesprochen
wird. Woher sollen Gesellschaften
sonst Kompetenzen bekommen, wenn
nicht durch eine intensive Debatte.
Wenn man nicht über die Probleme
spricht, passiert gar nichts.
Wie ist Ihr Ausblick für die nächsten
Jahre? Schauen wir 2026 zufrieden
zurück auf diese Zeit, in der so viele
neue Menschen zu uns kamen?
Das Problem ist, dass wir nicht wissen,
wie viele Menschen kommen, wie viele
wieder gehen, wie viele gehen
müssen. Weil sich aber die
Gesellschaft geöffnet hat und wir es
absehbar mit einer guten
wirtschaftlichen Situation zu tun
haben, denke ich, dass es weniger
Probleme geben wird, als viele
erwarten. Dazu trägt auch bei, dass
wir es mit sehr jungen Menschen zu
tun haben, und derzeit steigt auch die
Zahl von Frauen und Kindern. Das
heißt: Die viel diskutierten
Familienzusammenführungen finden
bereits statt. Und das ist auch wichtig.
Wenn die Familie zusammen ist,
richtet sich der Blick der Menschen
nicht mehr so sehr auf das
Herkunftsland. Von daher bin ich
relativ optimistisch. Auch wenn es
Tendenzen der Abwehr und der
Ausgrenzung gibt, habe ich den
Eindruck, dass am Ende der auf
Integration zielende Teil der
Gesellschaft groß genug ist.
Quelle: http://www.fluter.de/de/154/heft/14073/
Siegfried
Trapp
Willkommen
Bienvenido
Welcome
© strapp 2016