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Siegfried Trapp
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DER SCANNER AN DER COUCH "Freuds größte Entdeckung aber war, dass Worte heilen können", sagt Marianne Leuzinger-Bohleber. "Er hat sie zu einer Zeit gemacht, in der traumatisierte Front- soldaten noch mit Zwangsexerzieren und Elektroschocks behandelt wurden." Dass Psychotherapie das Gehirn ebenso verändern kann wie ein Psychopharmakon, haben Tomografie-Studien bei Depressionskranken gezeigt. In deren Gehirn ist der Hippocampus geschrumpft und der cinguläre Cortex - der Konfliktmotor des Gehirns, der anspringt, wenn der Mensch in Schwierigkeiten gerät - lahm gelegt. Mit der Überwindung der Depression erholt sich das Gehirn wieder. Aber ob die Psychoanalyse einen solchen Umbau der Neuronen in Gang setzen kann? Der Berner Psychologe Klaus Grawe ist skeptisch: "Dafür muss das Gehirn ungemein systematisch und zielgerichtet aktiviert werden. Eingespielte Erfahrun- gen müssen gehemmt, neue Erfahrungen müssen immer wieder wiederholt werden", meint der Analyse-Kritiker, der gerade ein Buch über die neuronalen Grundlagen der Psycho-therapie geschrieben hat*. "Mit der klassischen psycho- analytischen Haltung: ''Mal sehen, was heute vom Patienten kommt'' ist das unvereinbar." Die Leiterin des Freud-Instituts verweist auf andere Erfahrungen. Einige wenige Patienten, vielleicht fünf Prozent, hätten gar keinen inneren Spielraum, in dem solche zielgerichteten Methoden greifen könnten. Sie seien so schwer gestört, dass sie einer gründlichen, lang andauernden Therapie bedürften. Leuzinger-Bohleber analysierte beispielsweise eine junge Frau, die mit blutig gekratzten Händen zur ersten Sitzung kam. Sie lebte völlig isoliert in einer dunklen Wohnung, litt unter einem Waschzwang, schwersten Panikattacken und war wegen ihrer Magersucht in mehreren Kliniken vergeblich mit Verhaltens- und Gesprächs- psychotherapie behandelt worden. Nach zwei Jahren Analyse war sie bereit, ihre Mutter nach den Umständen ihrer ersten Lebensjahre zu fragen. Sie erfuhr, dass die Mutter versucht hatte, sie abzutreiben. Ein Zwillingsbruder starb bei der Geburt, die Mutter versank in Depression. Der Vater hatte den Sohn gewollt und lehnte die Tochter ab. "Wenn wir davon ausgehen", sagt Leuzinger-Bohleber, "dass sich die neuronalen Netze unseres emotionalen Gedächtnisses schon im Mutterleib ausbilden, dann ergibt es einen Sinn, dass die junge Frau Nähe mit Gefühlen wie Panik, Fallen- gelassenwerden, Todesangst zusammenbrachte." Die junge Frau aus Leuzinger-Bohlebers Praxis zog am Ende aus ihrer schrecklichen Wohnung aus und fand sogar einen Partner. Die Analytikerin ist überzeugt: "Wenn wir ihr Gehirn vorher und nachher gescannt hätten, wäre die Veränderung sichtbar geworden." Freud hatte postuliert, Gedächtnis sei eine "Haupteigenschaft des Nervengewebes". Dieses könne "durch einmalige Vorgänge dauerhaft verändert" werden. Tatsächlich hat die Hirnforschung materielle Korrelate der Erinnerung gefunden: Als Eric Kandel in den achtziger Jahren untersuchte, wie das Gedächtnis der Meeres- schnecke Aplysia auf Berührung ihrer Kiemen reagiert, reichte schon eine Stunde, um neue Synapsen sprießen zu lassen. Doch während der Schöpfer der Psychoanalyse sich das Gedächtnis statisch wie ein Lagerregal vorstellte, in das man gravierte Wachstafeln ablegt, ist das heutige Modell vom Gedächtnis ein dynamisches. Bei jedem Abruf einer Erinnerung versehen wir diese mit einem neuen Kontext und verändern dadurch ihre Gestalt. "Aus der Neurobiologie wissen wir, dass man Erfahrungen nie löschen kann", sagt Leuzinger-Bohleber - schon gar nicht, indem man, wie Freud es versuchte, an die Vernunft des Patienten appelliert. "Es nützt dem Patienten nicht viel, wenn man ''nur'' seine Lebensgeschichte rekonstruiert und erfährt, dass er im Alter von zwei Jahren ein Trauma erlebte. Nimmt man ernst, was die Neurowissenschaftler sagen, dann muss er seine Konflikte wiedererleben und in der Beziehung mit dem Analytiker eine neue emotionale Erfahrung machen. Dadurch kann sich ein neues, korrektives neuronales Netz bilden." Am Freud-Institut haben erste Versuchsreihen mit Hirnscans ermutigende Ergebnisse gezeigt. Doch was ist auf den Röntgenaufnahmen der Seele wirklich zu erkennen? Gehirne seien anatomisch so individuell wie Ohrmuscheln und daher schwer zu vergleichen, schränkt die Institutschefin die Aussagekraft der Bilder ein. Und was im Scan am hellsten leuchte, müsse noch lange nicht die bedeutendste Aktivität sein. DIE WISSENSCHAFT VOM TRAUM Von der Couch ins Labor verlagert sich auch die Erforschung des Traums, für Freud der Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten. Wenn der Psychologe Stephan Hau im Keller des Sigmund-Freud-Instituts mit Hilfe des EEGs seziert, was die Gehirne seiner Testschläfer hervorbringen, geht es allerdings kaum um die Deutung der nächtlichen Hirngespinste. Hau will herausfinden, wozu Träume gut sind. Darüber hat die Hirn-forschung einige Theorien gebildet. Aus evolutionstheoretischer Sicht etwa durchlebt der Schläfer die wirren Streifen als Trainingslager: Indem er die Prüfung verpasst, mit dem Fahrrad in den Abgrund rast oder gegen gefährliche Tiere kämpft, probt er den täglichen Überlebenskampf. Wer träumt, besagen andere Theorien, verarbeitet dabei Stress oder konsolidiert sein Gedächtnis. Um Erinnerungsforschung geht es auch in einigen der Experi- mente, die Hau betreibt: Welche Reize gelangen überhaupt ins Bewusstsein? Wie zerlegt sie der Traum und arbeitet sie in neue Zusammenhänge ein? Hau hat gezeigt, wie Wahrnehmungssplitter vom Tag ins Traumgeschehen geraten, ein Vorgang, den Neurowissenschaftler "vorbewusstes Processing" nennen. Subliminal, also unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von einer 150stel Sekunde, präsentierte er Probanden vor dem Einschlafen eine Strandszene, auf der ein Haus mit einem drei-eckigen roten Dach zu sehen war. Wenn die Schläfer ihre Träume zeichneten, tauchten auf den Bildern rote Dreiecke auf, für die sie keine Erklärung hatten. Zurzeit sucht Hau nach Hinweisen auf den Mechanismus der Abwehr - nach Freud ein unbewusster Vorgang, mit dem wir unangenehme Inhalte von uns fern halten. Probanden bekamen - wiederum subliminal - ein beunruhigendes fledermaus- artiges Gebilde zu sehen. Bat der Psychologe sie, im Wachzustand freie Einfälle zu schildern, hatte der Reiz darauf offenbar keinen Einfluss. In ihren Träumen hingegen wurden die Testpersonen anschließend von Angstszenarios wie Raub- vögeln oder unheimlichen Landschaften heimgesucht. Gemeinsam mit Kollegen vom Zentrum für Neurologie der Uni Frankfurt steckte Hau schon Testschläfer in die Kernspinröhre, um die Traumaktivität beim Ein- schlafen zu untersuchen. "Rückschlüsse auf den Trauminhalt oder dessen Bedeutung sind allerdings nicht möglich", sagt Hau. "Die Lücke zwischen Physiologie und Psychologie lässt sich auch mit den präzisesten Bildgebungs- verfahren nicht schließen." Auch Freuds Behauptung, beim Traum handle es sich stets um eine - sexuelle - Wunscherfüllung, lässt sich auf diese Weise nicht überprüfen. Die Freudschen Traumtheorien erleben gleichwohl eine neurowissenschaftliche Wiederauf- erstehung. Kaum ein Forscher würde heute mehr behaupten, Träume seien nur zufällige Entladungen unseres Gehirns. Dieses Dogma hatte der US-amerikanische Psychiater J. Allan Hobson in den siebziger Jahren aufgestellt und damit Freuds Traumtheorie der Lächerlichkeit preisgegeben. Hobson glaubte, im REM-Schlaf (Rapid Eye Movement) das physiologische Korrelat des Traums gefunden zu haben. Er wies nach, dass der Schlafzyklus, der mit schnellen Augenbewegungen einhergeht, durch Ausschüttung von Acetylcholin im Hirnstamm reguliert wird - einer Region, die mit psychischer Aktivität kaum zusammenhängt. Träume seien folglich nichts als chaotische Reaktionen höherer Gehirnregionen auf die Flut von Acetylcholin. Der angebliche Schlüssel zur Seele - nur ein bedeutungsloses Rauschen im Hirn. Vor wenigen Jahren jedoch fand Mark Solms heraus, dass seine Patienten, die aufgrund einer Hirnverletzung keinen REM-Schlaf mehr hatten, sehr wohl träumten. Träumen und REM-Schlaf konnten also nicht dasselbe sein. Traumlos schliefen dagegen jene Patienten, bei denen Nervenbahnen tief im Inneren des Mittelhirns zerstört waren - eine Region, die der USamerikanische Verhaltens- neurologe Jaak Panksepp als Sitz des sogenannten Belohnungs- oder Suchsystems identifiziert hat. Dieser Dopamin-Schaltkreis, den Hirnforscher am ehesten mit Freuds "Libido" vergleichen, fungiert nach der gegenwärtig einflussreichsten Hypothese als Traumgenerator. Es scheint also, als behalte Freud insofern recht, als Wünsche zumindest ein starker Motor des Traums sind - allerdings spielt die Sexualität dabei eine weitaus geringere Rolle, als Freud glaubte. Auch am zweiten Grundpfeiler seiner Traumtheorie, nach dem die sogenannte Traumzensur dazu führt, dass der Schläfer peinliche Motive im Traum symbolisch "entschärft" - er meint "Phallus", träumt aber "Zigarre" -, hatten sich früh Zweifel geregt: Weshalb, fragte der Schriftsteller George Orwell, solle er wohl im Schlaf Sex- impulse schamhaft kaschieren, "über die ich im Wachzustand ohne jede Scheu sprechen würde?" Tatsächlich sehen heutige Psychoanalytiker in Freuds Fixierung auf das Sexuelle auch den Nachhall einer lustfeindlichen Epoche. Ist eine geträumte Zigarre also doch einfach nur eine Zigarre, wie Hobson und andere Gegner der Traumdeutung postulieren? "Manchmal schon", vermutet Mark Solms. Aber er hat eine neurologische Entsprechung zu diesem Austausch- mechanismus der Traummotive entdeckt, den Freud "Verschiebung" nannte: Einige seiner Patienten, die unter extremen Gedächtnislücken leiden, füllen ihre biografischen Abgründe mit traumartig erfundenen Erzählungen, sogenannten Konfabulationen. Biochemisch ist das Gehirn dieser Patienten in einem ähnlichen Zustand wie das von Träumenden. Auch manche Drogen können solche Zustände hervorrufen. Die meisten Neurologen sagen: "Der Patient konfabuliert, er redet Unsinn." Der Analytiker fragt: "Warum sagt er gerade das?" Solms erinnert sich an einen Patienten, dem bei einer Tumoroperation Hirngewebe entfernt worden war. Der Mann wusste danach nicht mehr, wer er war. In zwölf aufeinander folgenden Sitzungen konnte er sich nicht erinnern, Solms jemals zuvor gesehen zu haben. Abwechselnd sprach er ihn als seinen Kneipenkumpel an, als Automechaniker, der einen seiner Sportwagen reparieren solle (die er gar nicht besaß), oder als Sportkameraden. Eines Tages begrüßte er Solms als seinen Zahnarzt und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. Vieles klang schlicht verrückt, aber als Solms mit der Frau des Patienten sprach, erzählte sie, dass ihr Mann während seiner College-Zeit begeisterter Ruderer gewesen sei. Jahre zuvor hatte ihn eine Operation, bei der er Zahnimplantate bekam, von fürchterlichen Schmerzen befreit. Das Ganze ergab also doch einen Sinn. Eines Tages fasste sich der Mann an den Kopf und sagte: "Ein Stück im Computer fehlt: Modul C 49." "Was macht C 49?", fragte Solms. "Es ist ein Gedächtnismodul. Ich habe es neulich checken lassen, es hatte immer ein paar Takte zu wenig. Jetzt haben sie Implantate eingesetzt, und alles läuft wieder tadellos. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Ding sowieso nie gebraucht." Was der Mann mit der Geschichte vom defekten Computermodul meinte, war für Solms leicht zu deuten: "Es dämmerte ihm, dass etwas mit seinem Gedächtnis nicht stimmt. Diese schockierende Einsicht wischte er beiseite und kreierte sich eine Realität, die er ertragen konnte." Die traumähnlichen Konfabulationen, das hat Solms auch in Experimenten mit Patienten gezeigt, sind keineswegs zufällig, sondern wunscherfüllt. Das Gehirn neigt in bestimmten funktionalen Zuständen offensichtlich dazu, die eigentliche Geschichte metaphorisch zu verpacken - und sei es nur, weil der Erinnerungs- suchmechanismus fehlerhaft arbeitet. "Das beweist nicht Freuds Idee von der Traumverschiebung als motiviertem Akt. Aber es macht vielleicht ein bisschen erträglicher, was die Psychoanalyse über Träume sagt." J. Allan Hobson, Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, hält solche Argumente freilich für den nutzlosen Versuch, moderne Daten nachträglich an einen veralteten theoretischen Rahmen anzupassen. Noch so viel "neurobio- logische Flickschusterei" ändere nichts daran, dass sich die Psychoanalyse in großen Schwierig-keiten befinde. Freuds Rückkehr durch die Hintertür der Hirnforschung ist für viele seiner Kollegen ein Alptraum: "Erforderlich wäre eine derart radikale Generalüberholung, dass viele Neurowissenschaftler lieber ein von Grund auf neues neurokognitives Modell der Psyche entwickeln möchten." FREUD ENTRÜMPELN Schon jetzt haben Psychoanalytiker und Naturwissenschaftler - gemeinsam - viele von Freuds Thesen über Bord geworfen. Nicht zuletzt hat sich die Vorstellung vom Unbewussten gewandelt. Wenn Hirnforscher heute von unbewusst ablaufenden Prozessen reden, meinen sie häufig gar nicht verdrängte Erinnerungen, die unser Verhalten bestimmen, sondern sehr viel banalere Dinge: Kein Mensch etwa denkt beim Sprechen bewusst daran, wie er einzelne Wörter zu Sätzen formt. Auto fahren, Schleife binden, Butterbrot essen, dies alles funktioniert automatisch, ohne dass unser Hippocampus aktiv werden muss, der für das Abspeichern bewusster Erinnerungen zuständig ist. Dieses implizite, unbewusste Wissen entspricht am ehesten dem, was Freud als "Vorbewusstes" bezeichnete. Mit anderen Augen betrachten Wissenschaftler heute aber auch das "dynamische Unbewusste", jenen dunklen Kontinent der Seele, den Freud einmal das "innere Afrika" nannte, bevölkert von einer "psychischen Urbevölkerung", gegen die das vernünftige Ich ein Leben lang ankämpfen müsse. "Aus Es muss Ich werden", lautet einer seiner berühmtesten Lehrsätze. "Man muss das Unbewusste positiver sehen", hält der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth dagegen. "Das Es bedroht nicht das Ich, sondern das Es leitet das Ich." Das Unbewusste sei eine überwiegend nützliche Instanz. In jeder Sekunde melde es sich zu Wort bei der Frage: Soll ich das tun, oder soll ich das nicht tun? "Das Unbewusste trifft seine Entscheidungen vor dem Hintergrund aller Vor- erfahrungen, die unser Gehirn seit dem Mutterleib gemacht hat. So gesehen ist es der Ort einer größeren, weil die gesamte Lebenserfahrung umfassenden Vernunft." Gegenwind spüren die Verfechter der Freudschen Entwicklungstheorie: Der renommierte Säuglingsforscher Daniel Stern gab vor einigen Jahren zu Protokoll, er halte Freuds Stufenmodell von der oralen, analen und ödipalen Phase des Kleinkinds für "schlicht falsch". Als überholt gelten auch die Triebtheorie des Altmeisters und etliche seiner Annahmen über das Gedächtnis oder die Psyche der Frau. Stark bezweifelt wird die Existenz eines Todestriebs, dessen Wirken Freud in jedem Menschen vermutete. "Kein bildgebendes Verfahren wird jemals den Beweis für den Penisneid finden oder ein Ich, Es und Über-Ich, verstrickt in einen unendlichen Machtkampf", sagt Solms. Ihm geht es nicht darum, zu beweisen, dass Freud recht hatte - noch nicht mal darum, die Psychoanalyse als Therapiemethode zu retten. Der ganze ideologische Ballast, fordert Solms, die ganzen Regeln: weg damit! Die Psychoanalyse selbst sei nicht wichtig, sie beschäftige sich nur mit etwas Wichtigem: mit der menschlichen Seele als Teil der Natur. "Freud hat versucht, eine Sprache und eine Methode für die Wissenschaft vom Innenleben zu finden. Er hat eine Art Basis-Topografie der Seele und ihrer grundlegenden Bestandteile geschaffen." Eine bessere gebe es bisher nicht. CHEMIE DER ERINNERUNG Hans Markowitsch sucht auf den farbigen Aufnahmen von den Gehirnen seiner Patienten nach neurobiologischen Erklärungen für Phänomene, die sich mit psychoanalytischen Konzepten wie "Abwehr" oder "Verdrängung" zumindest sehr gut beschreiben lassen. Markowitsch untersucht als Hirnforscher an der Uni Bielefeld Menschen, denen ihr Gedächtnis abhanden gekommen ist - einfach so, ohne eine Verletzung. So hat er einen Mann kennen gelernt, der bis nach Sibirien reiste, ohne zu wissen, warum. Ein anderer wollte Brötchen holen und fuhr mit dem Fahrrad vom Ruhr- gebiet bis nach Frankfurt am Main: "Er konnte sich an nichts mehr erinnern, nicht mal an den Namen seiner Frau. Sah er in Schaufensterscheiben sein Spiegelbild, blickte ihm ein fremdes Gesicht entgegen. Verflogen waren sein Asthma und seine Allergie." Was war geschehen? Markowitsch fand heraus, dass die Mutter dieses Mannes ihn als Kind in Mädchenkleider gesteckt und als Versager hingestellt hatte. Später hatte er eine Frau geheiratet, die das Ebenbild seiner Mutter war. Sie hatte prophezeit, er werde seine Firma ruinieren, und genau das war eingetreten. Für den teuren Familien-urlaub, den ihm seine Frau aufgenötigt hatte, fehlte nun das Geld. Drei Tage vor Urlaubsantritt setzte er sich aufs Rad. Mehr als ein Dutzend solcher Patienten hat Markowitsch untersucht. "Bei allen finden wir extrem schlechte Kindheitserfahrungen", sagt der Neurobiologe. "Das hat ja schon Freud vermutet." Markowitsch hat eine biologische Erklärung dafür, warum solche Erfahrungen das ganze Leben überschatten können: "Traumatische Erlebnisse verstellen im kindlichen Gehirn biochemische Schrauben. Ständig herrscht ein erhöhter Level von Stresshormonen, der eine dauerhaft erhöhte Empfindlichkeit hervorruft." Im Erwachsenenalter werden dann bereits bei kleineren Stressereignissen ganze Hormonkaskaden freigesetzt, die den normalen Informationsfluss - und auch das Gedächtnis - blockieren können. Wenn uns unser erster Kuss oder die Zeugnisausgabe einfällt, setzt das Gehirn diese autobiografische Erinnerung aus zwei unterschiedlichen Teilen zusammen: Die Sachinformation holt es aus dem Hippocampus, die dazugehörigen Gefühle von der Amygdala. Genau in diesen Regionen des limbischen Systems sitzen auch die meisten Rezeptoren für Stresshormone. Überfluten die Hormone das Gehirn und docken in Hippocampus und Amygdala an, verhindert dies das Zusammenfügen der Erinnerung. Markowitsch hat Patienten erlebt, bei denen eine Depression ein solches "mnestisches Blockadesyndrom" hervorrief. Ein schwermütiger Werbemanager rutschte nach und nach in einen so umfassenden Gedächtnisverlust, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Bei traumatischen Erlebnissen hingegen verschwinden oft nur die Erinnerungen an deren Details. Es bleibt das Gefühl: "Da ist irgendetwas Schreckliches." So erging es einem anderen Patienten aus seiner Praxis: Ein 23-jähriger Banker entdeckte einen harmlosen Kellerbrand. Sein Freund rief die Feuerwehr, die den Brand löschte. Als der Mann am nächsten Morgen aufwachte, waren die letzten sechs Jahre seines Lebens aus seinem Gedächtnis ausradiert. Im Laufe seiner Therapie berichtete er, dass offenes Feuer für ihn eine lebensbedrohliche Situation darstelle: Er hatte als Vierjähriger mit angesehen, wie jemand in einem Auto bei lebendigem Leib verbrannte. Das Feuer im Keller musste die Erinnerung an dieses Trauma und damit einen Schwall von Stresshormonen aktiviert haben, die durch Andocken an Rezeptoren limbischer Nervenzellen den Informationsfluss zum Kollaps brachten. Für Psychoanalytiker ist das ein alter Hut: Gedächtnisverlust als Notfall- mechanismus sozusagen, ausgelöst durch eine Erinnerungsspur, die ins Zentrum der verdrängten traumatischen Erfahrung reicht. Für die Hirnforschung hingegen ist der Nachweis einer neurochemischen Zündschnur, die vom Kleinkindgehirn direkt in die Gegenwart des Erwachsenen führt, eine vergleichsweise neue Erkenntnis. Psychisch bedingter Gedächtnisverlust gilt unter Neurologen als besonders therapieresistent. Aber vielleicht liegt das auch an der Therapie? Die Neuro- psychologie versucht gewöhnlich, das Symptom mit systematischem Gedächtnis- training zu beseitigen. Der Analytiker dagegen versteht das Symptom als Botschaft aus dem Unbewussten. Es verweist nur auf etwas Tieferliegendes. Selbst wenn der Fahrradfahrer sein Gedächtnis zurückbekäme, wäre sein Problem nicht gelöst. Seine Patienten haben Hirnforscher Markowitsch nachdenklich gemacht. Dringend brauche man in der Psychiatrie und Neurologie alternative Behandlungswege, welche die Persönlichkeitskonstellation des Patienten berücksichtigen, sagt er. Vielleicht die Psychoanalyse? Markowitsch ist skeptisch. Er kennt Patienten, denen die Redekur geholfen hat. Aber gerade dort, wo besonders monströse Erinnerungen lauern, hat er das Gefühl, es sei manchmal hilfreicher, die Behandlung auf die zukünftige Lebenssituation eines Patienten auszurichten, anstatt die schrecklichen Dinge aus der Vergangen- heit hervorzugraben wie Knochen aus einem Massengrab. Mark Solms ist anderer Meinung: Einer seiner Patienten hatte beispielsweise versucht, sich aufzuhängen. In den letzten Jahren war der Mann ein schwerer Trinker gewesen. Er hatte seinen Job verloren, seine Mutter war gestorben, dann starb sein Vater in seinen Armen. All dies geschah kurz vor dem Selbstmord- versuch. Danach hatte er all diese Ereignisse vergessen. Der Mann war aber keineswegs guter Dinge gewesen. Wie ein Schiff ohne Anker trieb er durch den Ozean seiner traurigen Ahnungen. Er begriff nicht, warum er sich so hilflos, verloren und allein fühlte. "Wir brauchen unsere Erinnerung, auch wenn sie kaum zu ertragen ist", sagt Solms. "Wenn wir nicht wissen, woher unsere Gefühle kommen, können wir keine Lösung finden." Solms ist nicht nur Theoretiker. Er verbrachte selbst elf Jahre auf der Couch. Sein Bruder war als Fünfjähriger vom Dach eines Hauses gefallen und hatte sich schwer am Kopf verletzt. Als er nach Monaten aus dem Hospital zurückkehrte, war er ein anderer Mensch. "All diese Patienten leiden an ihrer Unfähigkeit nicht weniger als jemand, mit dessen Bewusstsein alles in Ordnung ist", sagt Solms. "Neurologische Patienten bekommen äußerst selten Psychotherapie. Dabei brauchen sie besonders dringend jemanden, der ihnen hilft, den Horror auszuhalten, den für sie die Berührung mit der Realität bedeutet." Seine Patientin Kate beispielsweise hat auf diese Weise allmählich eine gewisse Orientierung in ihrem oszillierenden Bewusstsein erlangt. Kate ist Ende 50. Seit ein Junkie ihr mit dem Golfschläger einen Schlag auf den Kopf versetzte, um sie zu berauben, ist sie blind und gelähmt. Doch als Kate aus dem Koma erwachte, war sie überzeugt, gehen und sehen zu können. Sie sah zum Beispiel einen fremden, dunkelhäutigen Jungen, der oft an ihrem Bett stand. Kate schätzte ihn auf 12, höchstens. Sie nannte ihn Pickie. "Erzählen Sie von Pickie", sagt Solms. Kate strahlt: "Oh, er war so ein fröhlicher kleiner Kerl. Eines Tages sagte ich zu ihm: ,Ich nenne dich Sonnenschein, genau so sieht dein Lächeln aus.''" Dann wiegt sie sich im Rollstuhl vor und zurück: "Dabei konnte ich ihn doch gar nicht sehen. Er war auch zu jung, um im Krankenhaus zu arbeiten. Und Sie sagen, er sei wahrscheinlich eine Figur aus meiner Phantasie!" Kate hatte Hilfe gesucht, weil sie überhaupt nicht mehr wusste, was los war. In ihrer Familie glaubte niemand, dass sie gehen und sehen konnte. Alle widersprachen ihr ständig. Es war ein einsamer Kampf ohne Ende. Bei Solms hat sie sich alles von der Seele geredet. Irgendwann begann sie zu akzeptieren, dass sie blind ist, auch wenn es ihr manchmal anders vorkommt. Neulich sah sie zum Beispiel ein Fahrrad vom Himmel hängen. "Dann mache ich die Augen auf, und alles ist wie Kohle da draußen. Es ist schrecklich. Wenn ich nur sehen könnte, wären all meine Probleme gelöst." Verglichen damit war es eine rosige Zeit damals mit dem kleinen Pickie in der Klinik. Andererseits hat sich zu Hause die Lage in mancher Hinsicht hoffnungsvoll entwickelt, seit Kate wieder Bodenkontakt hat. Zum ersten Mal seit dem ganzen Drama hat sie bei ihrer Tochter angerufen. Kate will versuchen, ihrer Enkelin eine Großmutter zu sein: eine blinde und gelähmte Großmutter, die nicht ganz richtig im Kopf ist. Es hat sie enorme Überwindung gekostet, das zu akzeptieren. "Aber vielleicht habe ich ja eine Zukunft mit diesem Kind", sagt sie. Immerhin existiert es wirklich. BEATE LAKOTTA * Die Namen aller Patienten sind geändert. * Karen Kaplan-Solms, Mark Solms: "Neuro-Psychoanalyse. Eine Einführung mit Fallstudien". Klett-Cotta, Stuttgart; 312 Seiten; 34 Euro. / Mark Solms, Oliver Turnbull: "Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse". Walter-Verlag, Düsseldorf; 360 Seiten; 34,90 Euro. * Klaus Grawe: "Neuropsychotherapie". Hogrefe-Verlag, Göttingen; 512 Seiten; 39,95 Euro. * "Der Nachtmahr", Gemälde von Johann Heinrich Füssli (1782). * Szene aus "Der Stadtneurotiker" (1977) mit Diane Keaton, Woody Allen als Patienten und Humphrey Davis als Psychiater. Quelle: DER SPIEGEL 16/2005
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FREUD ENTRÜMPELN Schon jetzt haben Psychoanalytiker und Naturwissenschaftler - gemeinsam - viele von Freuds Thesen über Bord geworfen. Nicht zuletzt hat sich die Vorstellung vom Unbewussten gewandelt. Wenn Hirnforscher heute von unbewusst ablaufenden Prozessen reden, meinen sie häufig gar nicht verdrängte Erinnerungen, die unser Verhalten bestimmen, sondern sehr viel banalere Dinge: Kein Mensch etwa denkt beim Sprechen bewusst daran, wie er einzelne Wörter zu Sätzen formt. Auto fahren, Schleife binden, Butterbrot essen, dies alles funktioniert automatisch, ohne dass unser Hippocampus aktiv werden muss, der für das Abspeichern bewusster Erinnerungen zuständig ist. Dieses implizite, unbewusste Wissen entspricht am ehesten dem, was Freud als "Vorbewusstes" bezeichnete. Mit anderen Augen betrachten Wissenschaftler heute aber auch das "dynamische Unbewusste", jenen dunklen Kontinent der Seele, den Freud einmal das "innere Afrika" nannte, bevölkert von einer "psychischen Urbevölkerung", gegen die das vernünftige Ich ein Leben lang ankämpfen müsse. "Aus Es muss Ich werden", lautet einer seiner berühmtesten Lehrsätze. "Man muss das Unbewusste positiver sehen", hält der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth dagegen. "Das Es bedroht nicht das Ich, sondern das Es leitet das Ich." Das Unbewusste sei eine überwiegend nützliche Instanz. In jeder Sekunde melde es sich zu Wort bei der Frage: Soll ich das tun, oder soll ich das nicht tun? "Das Unbewusste trifft seine Entscheidungen vor dem Hintergrund aller Vor-erfahrungen, die unser Gehirn seit dem Mutterleib gemacht hat. So gesehen ist es der Ort einer größeren, weil die gesamte Lebenserfahrung umfassenden Vernunft." Gegenwind spüren die Verfechter der Freudschen Entwicklungstheorie: Der renommierte Säuglingsforscher Daniel Stern gab vor einigen Jahren zu Protokoll, er halte Freuds Stufenmodell von der oralen, analen und ödipalen Phase des Kleinkinds für "schlicht falsch". Als überholt gelten auch die Triebtheorie des Altmeisters und etliche seiner Annahmen über das Gedächtnis oder die Psyche der Frau. Stark bezweifelt wird die Existenz eines Todestriebs, dessen Wirken Freud in jedem Menschen vermutete. "Kein bildgebendes Verfahren wird jemals den Beweis für den Penisneid finden oder ein Ich, Es und Über-Ich, verstrickt in einen unendlichen Machtkampf", sagt Solms. Ihm geht es nicht darum, zu beweisen, dass Freud recht hatte - noch nicht mal darum, die Psychoanalyse als Therapiemethode zu retten. Der ganze ideologische Ballast, fordert Solms, die ganzen Regeln: weg damit! Die Psychoanalyse selbst sei nicht wichtig, sie beschäftige sich nur mit etwas Wichtigem: mit der menschlichen Seele als Teil der Natur. "Freud hat versucht, eine Sprache und eine Methode für die Wissenschaft vom Innenleben zu finden. Er hat eine Art Basis-Topografie der Seele und ihrer grundlegenden Bestandteile geschaffen." Eine bessere gebe es bisher nicht. CHEMIE DER ERINNERUNG Hans Markowitsch sucht auf den farbigen Aufnahmen von den Gehirnen seiner Patienten nach neurobiologischen Erklärungen für Phänomene, die sich mit psychoanalytischen Konzepten wie "Abwehr" oder "Verdrängung" zumindest sehr gut beschreiben lassen. Markowitsch untersucht als Hirnforscher an der Uni Bielefeld Menschen, denen ihr Gedächtnis abhanden gekommen ist - einfach so, ohne eine Verletzung. So hat er einen Mann kennen gelernt, der bis nach Sibirien reiste, ohne zu wissen, warum. Ein anderer wollte Brötchen holen und fuhr mit dem Fahrrad vom Ruhr-gebiet bis nach Frankfurt am Main: "Er konnte sich an nichts mehr erinnern, nicht mal an den Namen seiner Frau. Sah er in Schaufensterscheiben sein Spiegelbild, blickte ihm ein fremdes Gesicht entgegen. Verflogen waren sein Asthma und seine Allergie." Was war geschehen? Markowitsch fand heraus, dass die Mutter dieses Mannes ihn als Kind in Mädchenkleider gesteckt und als Versager hingestellt hatte. Später hatte er eine Frau geheiratet, die das Ebenbild seiner Mutter war. Sie hatte prophezeit, er werde seine Firma ruinieren, und genau das war eingetreten. Für den teuren Familien- urlaub, den ihm seine Frau aufgenötigt hatte, fehlte nun das Geld. Drei Tage vor Urlaubsantritt setzte er sich aufs Rad. Mehr als ein Dutzend solcher Patienten hat Markowitsch untersucht. "Bei allen finden wir extrem schlechte Kindheitserfahrungen", sagt der Neurobiologe. "Das hat ja schon Freud vermutet." Markowitsch hat eine biologische Erklärung dafür, warum solche Erfahrungen das ganze Leben überschatten können: "Traumatische Erlebnisse verstellen im kindlichen Gehirn biochemische Schrauben. Ständig herrscht ein erhöhter Level von Stresshormonen, der eine dauerhaft erhöhte Empfindlichkeit hervorruft." Im Erwachsenenalter werden dann bereits bei kleineren Stressereignissen ganze Hormonkaskaden freigesetzt, die den normalen Informationsfluss - und auch das Gedächtnis - blockieren können. Wenn uns unser erster Kuss oder die Zeugnisausgabe einfällt, setzt das Gehirn diese autobiografische Erinnerung aus zwei unterschiedlichen Teilen zusammen: Die Sachinformation holt es aus dem Hippocampus, die dazugehörigen Gefühle von der Amygdala. Genau in diesen Regionen des limbischen Systems sitzen auch die meisten Rezeptoren für Stresshormone. Überfluten die Hormone das Gehirn und docken in Hippocampus und Amygdala an, verhindert dies das Zusammenfügen der Erinnerung. Markowitsch hat Patienten erlebt, bei denen eine Depression ein solches "mnestisches Blockadesyndrom" hervorrief. Ein schwermütiger Werbemanager rutschte nach und nach in einen so umfassenden Gedächtnisverlust, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Bei traumatischen Erlebnissen hingegen verschwinden oft nur die Erinnerungen an deren Details. Es bleibt das Gefühl: "Da ist irgendetwas Schreckliches." So erging es einem anderen Patienten aus seiner Praxis: Ein 23-jähriger Banker entdeckte einen harmlosen Kellerbrand. Sein Freund rief die Feuerwehr, die den Brand löschte. Als der Mann am nächsten Morgen aufwachte, waren die letzten sechs Jahre seines Lebens aus seinem Gedächtnis ausradiert. Im Laufe seiner Therapie berichtete er, dass offenes Feuer für ihn eine lebensbedrohliche Situation darstelle: Er hatte als Vierjähriger mit angesehen, wie jemand in einem Auto bei lebendigem Leib verbrannte. Das Feuer im Keller musste die Erinnerung an dieses Trauma und damit einen Schwall von Stresshormonen aktiviert haben, die durch Andocken an Rezeptoren limbischer Nervenzellen den Informationsfluss zum Kollaps brachten. Für Psychoanalytiker ist das ein alter Hut: Gedächtnisverlust als Notfall- mechanismus sozusagen, ausgelöst durch eine Erinnerungsspur, die ins Zentrum der verdrängten traumatischen Erfahrung reicht. Für die Hirnforschung hingegen ist der Nachweis einer neurochemischen Zündschnur, die vom Kleinkindgehirn direkt in die Gegenwart des Erwachsenen führt, eine vergleichsweise neue Erkenntnis. Psychisch bedingter Gedächtnisverlust gilt unter Neurologen als besonders therapieresistent. Aber vielleicht liegt das auch an der Therapie? Die Neuro- psychologie versucht gewöhnlich, das Symptom mit systematischem Gedächtnistraining zu beseitigen. Der Analytiker dagegen versteht das Symptom als Botschaft aus dem Unbewussten. Es verweist nur auf etwas Tieferliegendes. Selbst wenn der Fahrradfahrer sein Gedächtnis zurückbekäme, wäre sein Problem nicht gelöst. Seine Patienten haben Hirnforscher Markowitsch nachdenklich gemacht. Dringend brauche man in der Psychiatrie und Neurologie alternative Behandlungswege, welche die Persönlichkeitskonstellation des Patienten berücksichtigen, sagt er. Vielleicht die Psychoanalyse? Markowitsch ist skeptisch. Er kennt Patienten, denen die Redekur geholfen hat. Aber gerade dort, wo besonders monströse Erinnerungen lauern, hat er das Gefühl, es sei manchmal hilfreicher, die Behandlung auf die zukünftige Lebenssituation eines Patienten auszurichten, anstatt die schrecklichen Dinge aus der Vergangen-heit hervorzugraben wie Knochen aus einem Massengrab. Mark Solms ist anderer Meinung: Einer seiner Patienten hatte beispielsweise versucht, sich aufzuhängen. In den letzten Jahren war der Mann ein schwerer Trinker gewesen. Er hatte seinen Job verloren, seine Mutter war gestorben, dann starb sein Vater in seinen Armen. All dies geschah kurz vor dem Selbstmordversuch. Danach hatte er all diese Ereignisse vergessen. Der Mann war aber keineswegs guter Dinge gewesen. Wie ein Schiff ohne Anker trieb er durch den Ozean seiner traurigen Ahnungen. Er begriff nicht, warum er sich so hilflos, verloren und allein fühlte. "Wir brauchen unsere Erinnerung, auch wenn sie kaum zu ertragen ist", sagt Solms. "Wenn wir nicht wissen, woher unsere Gefühle kommen, können wir keine Lösung finden." Solms ist nicht nur Theoretiker. Er verbrachte selbst elf Jahre auf der Couch. Sein Bruder war als Fünfjähriger vom Dach eines Hauses gefallen und hatte sich schwer am Kopf verletzt. Als er nach Monaten aus dem Hospital zurückkehrte, war er ein anderer Mensch. "All diese Patienten leiden an ihrer Unfähigkeit nicht weniger als jemand, mit dessen Bewusstsein alles in Ordnung ist", sagt Solms. "Neurologische Patienten bekommen äußerst selten Psychotherapie. Dabei brauchen sie besonders dringend jemanden, der ihnen hilft, den Horror auszuhalten, den für sie die Berührung mit der Realität bedeutet." Seine Patientin Kate beispielsweise hat auf diese Weise allmählich eine gewisse Orientierung in ihrem oszillierenden Bewusstsein erlangt. Kate ist Ende 50. Seit ein Junkie ihr mit dem Golfschläger einen Schlag auf den Kopf versetzte, um sie zu berauben, ist sie blind und gelähmt. Doch als Kate aus dem Koma erwachte, war sie überzeugt, gehen und sehen zu können. Sie sah zum Beispiel einen fremden, dunkelhäutigen Jungen, der oft an ihrem Bett stand. Kate schätzte ihn auf 12, höchstens. Sie nannte ihn Pickie. "Erzählen Sie von Pickie", sagt Solms. Kate strahlt: "Oh, er war so ein fröhlicher kleiner Kerl. Eines Tages sagte ich zu ihm: ,Ich nenne dich Sonnenschein, genau so sieht dein Lächeln aus.''" Dann wiegt sie sich im Rollstuhl vor und zurück: "Dabei konnte ich ihn doch gar nicht sehen. Er war auch zu jung, um im Krankenhaus zu arbeiten. Und Sie sagen, er sei wahrscheinlich eine Figur aus meiner Phantasie!" Kate hatte Hilfe gesucht, weil sie überhaupt nicht mehr wusste, was los war. In ihrer Familie glaubte niemand, dass sie gehen und sehen konnte. Alle widersprachen ihr ständig. Es war ein einsamer Kampf ohne Ende. Bei Solms hat sie sich alles von der Seele geredet. Irgendwann begann sie zu akzeptieren, dass sie blind ist, auch wenn es ihr manchmal anders vorkommt. Neulich sah sie zum Beispiel ein Fahrrad vom Himmel hängen. "Dann mache ich die Augen auf, und alles ist wie Kohle da draußen. Es ist schrecklich. Wenn ich nur sehen könnte, wären all meine Probleme gelöst." Verglichen damit war es eine rosige Zeit damals mit dem kleinen Pickie in der Klinik. Andererseits hat sich zu Hause die Lage in mancher Hinsicht hoffnungsvoll entwickelt, seit Kate wieder Bodenkontakt hat. Zum ersten Mal seit dem ganzen Drama hat sie bei ihrer Tochter angerufen. Kate will versuchen, ihrer Enkelin eine Großmutter zu sein: eine blinde und gelähmte Großmutter, die nicht ganz richtig im Kopf ist. Es hat sie enorme Überwindung gekostet, das zu akzeptieren. "Aber vielleicht habe ich ja eine Zukunft mit diesem Kind", sagt sie. Immerhin existiert es wirklich. BEATE LAKOTTA * Die Namen aller Patienten sind geändert. * Karen Kaplan-Solms, Mark Solms: "Neuro- Psychoanalyse. Eine Einführung mit Fallstudien". Klett-Cotta, Stuttgart; 312 Seiten; 34 Euro. / Mark Solms, Oliver Turnbull: "Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse". Walter-Verlag, Düsseldorf; 360 Seiten; 34,90 Euro. * Klaus Grawe: "Neuropsychotherapie". Hogrefe- Verlag, Göttingen; 512 Seiten; 39,95 Euro. * "Der Nachtmahr", Gemälde von Johann Heinrich Füssli (1782). * Szene aus "Der Stadtneurotiker" (1977) mit Diane Keaton, Woody Allen als Patienten und Humphrey Davis als Psychiater. Quelle: DER SPIEGEL 16/2005
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