Siegfried
Trapp
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Damit besaßen die Regierungen in Ost und
West eine enorme Verfügungsgewalt über
gesamte Volkswirtschaften, die gesell-
schaftlich weithin unumstritten war.
Selbst der Neoliberalismus, seit den
1970er Jahren im Aufwind, verstand
Deregulier-ung und Privatisierung zunächst
als ein klar umgrenztes Projekt. In der
globalen Konkurrenz der Systeme konnte
es sich keine Regierung leisten, die eigene
Ökonomie einfach aus der Kontrolle zu
entlassen.
Die Imagination des mächtigen National-
staats prägt die Klimaliteratur bis in die
Gegenwart. Rich lässt sein Buch mit einer
Regierungskonferenz im niederländischen
Noordwijk 1989 enden, auf der sich die
USA querstellten. Dort sei eine historische
Chance vergeben worden: Wenn sich
damals die Regierungen des Westens
einem entschlossenen Kampf gegen die
globale Erwärmung verschrieben hätten,
lebten wir heute in einer anderen Welt.
Das war damals eine durchaus populäre
Vorstellung, die nicht nur von der
idealistischen Sorge um den blauen
Planeten beflügelt wurde.
Aus heutiger Sicht ist offenkundig, dass
die Krise der Staatlichkeit zu den
zentralen Entwicklungen der vergangenen
drei Jahrzehnte zählt. Es ist durchaus
offen, ob die heutigen Regierungen die
politischen Mittel zum drastischen
Umsteuern besäßen, selbst wenn sie einen
solchen Kurswechsel tatsächlich wollten.
Die Macht der Nationalstaaten erodiert in
vielfältigen Formen, unterdessen ächzen
die Wohlfahrtsstaaten des Westens unter
Schuldenbergen, einem Gewirr von
rechtlichen und finanziellen Verpflicht-
ungen und apathischen Bürgern, die sich
für große politische Programme nicht
mehr begeistern lassen.
Die Illusion der nationalstaatlichen
Verfügungsmacht wurde jedoch tief in die
globale Klimapolitik eingeschrieben. Mit
der Klimarahmenkonvention, die 1992 auf
dem Erdgipfel von Rio de Janeiro unter-
zeichnet wurde, wurden die National-
staaten zu entscheidenden Akteuren,
deren Regierungen sich alljährlich zu
Klimakonferenzen mit fünfstelliger
Teilnehmerzahl treffen. Klimapolitik ist
seither automatisch Klimadiplomatie, auch
wenn das von der Sache her nicht unbe-
dingt zwingend war. Man hätte auch die
multinationalen Energiekonzerne ins Visier
nehmen können oder auch das Anspruchs-
denken westlicher Konsumbürger.
Vielleicht brauchte man nicht nur eine
andere Politik, sondern auch andere
Vorstellungen vom guten Leben?
ENGER KLIMAPOLITISCHER
KORRIDOR
Materialismus und Wachstumsdenken sind
in den Gesellschaften des Westens nahezu
zweite Natur, und auch das ist ein Erbe
des Kalten Krieges. In Ost und West lebte
man in den 1950er und 1960er Jahren den
kurzen Traum der immerwährenden
Prosperität, der schon damals mehr
Schein als Sein war. Auch in der Bundes-
republik der Wirtschaftswunderjahre
lebten Menschen in prekären materiellen
Verhältnissen, und Vollbeschäftigung gab
es erst ab 1961, aber all dies verschwand
hinter einem langen Boom mit Wachstums-
raten, die in der Geschichte des modernen
Kapitalismus ihresgleichen suchen. Nach
den multiplen Krisen in der Zeit der Welt-
kriege war das eine gänzlich unerwartete
Wendung, deren praktische Konsequenzen
erst nach und nach ins Bewusstsein
rückten. Die berühmte Studie „Grenzen
des Wachstums“ des Club of Rome konnte
nur deshalb 1972 zum Weltbestseller
werden, weil die meisten Menschen bei
aller Wachstumseuphorie nie darüber
nachgedacht hatten, dass exponentielle
Wachstumsraten auf einem begrenzten
Planeten früher oder später in einer
Katastrophe enden mussten.
Das Jahr 1945 gilt inzwischen als umwelt-
historische Epochenschwelle erster Güte.
Der Schweizer Umwelthistoriker Christian
Pfister prägte in den 1990er Jahren den
Begriff „1950er Syndrom“, sein amerika-
nischer Kollege John McNeill sprach lieber
von einer „großen Beschleunigung“, aber
im Kern ging es um den gleichen Befund:
Nahezu alle Parameter, die den Einfluss
des Menschen auf seine natürliche
Umwelt maßen, schnellten mit
beängstigender Geschwindigkeit und
Stetigkeit nach oben. Die Folgen sind
nicht nur in dem beständig steigenden
CO2 -Gehalt der globalen Atmosphäre zu
erkennen. Sie stecken gleichermaßen in
Siedlungsstrukturen und gesellschaftlichen
Leitbildern, Ernährungsgewohnheiten und
Mobilitätsansprüchen, elektrischen
Küchengeräten und Düsenflugzeugen, und
all dies erwies sich als ausgesprochen
resistent gegenüber den moralischen
Appellen, die ab den 1980er Jahren zur
transnationalen Klimadebatte gehörten.
Einige zentrale Entwicklungen fallen sogar
in die Zeit nach dem Erdgipfel von Rio
1992, so etwa der Boom der Billigflieger
oder der globale Siegeszug der Klima-
anlage.
So operierten die Klimapolitiken der Welt
von Anfang an in einem ziemlich engen
Korridor. Die demokratischen
Industriegesellschaften des Westens
fürchteten, durch eine allzu forsche
Politik die eigene Legitimität zu unter-
graben, und die boomenden Ökonomien
des Globalen Südens, allen voran China,
folgten dem westlichen Wachstumspfad
mit der naiven Begeisterung der
bundesdeutschen Wirtschaftswunder-
jahre. Auch institutionell waren die Würfel
gefallen. Das Intergovernmental Panel on
Climate Change (IPCC) war seit seiner
Gründung 1988 der zentrale Aushandlungs-
mechanismus für periodische Berichte
über den Stand der Klimaforschung, und
die Klimapolitik operierte im Takt der
„conferences of parties“ der Klima-
rahmenkonvention. Das war, so der
Globalsprech der Diplomaten, „the only
game in town“.
Das IPCC baute auf der Tradition der
vernetzten Großforschung auf, aber seine
Mission war bedeutend anspruchsvoller
als beispielsweise die gemeinsamen
Expeditionen des Internationalen
Geophysikalischen Jahres. Seine Aufgabe
war Konsensfindung unter intensiver
Beobachtung von Medien und Politik, und
es fehlte nicht an skeptischen Prognosen.
Ein Team um den Wissenschaftssoziologen
Peter Weingart ging davon aus, dass die
Klimadebatte auf ewig in einem Dreieck
von Wissenschaft, Medien und politischen
Entscheidungsträgern pendeln würde,
weil die Akteure im Umgang mit Un-
sicherheit ganz unterschiedlich gepolt
waren. Für Journalisten sei Unsicherheit
eine Neuigkeit, für Wissenschaftler
Ausgangspunkt für Forschungsprojekte,
und die Politik lege am liebsten die Hände
in den Schoß, solange nicht alles klar ist.
BOOM DER KLIMAFORSCHUNG
Vor dem Hintergrund dieser Erwartungen
wurde die globale Klimaforschung zu einer
der großen Erfolgsgeschichten der
modernen Wissenschaft. Es gab zwar ein
paar peinliche Fehlleistungen, die von
einschlägigen Interessenten grell ausge-
leuchtet wurden, aber letztlich zeigte das
eher die wachsende Verzweiflung der
Skeptiker. Vor der Jahrtausendwende gab
es noch Wissenschaftler, die die Forschung
mit gut begründeten Zweifeln heraus-
forderten, aber danach wuchs die
Gewissheit, während sich die Kritiker mit
schrillen Tönen um Kopf und Kragen
redeten. Irgendwann machten sie sich
nicht einmal mehr die Mühe, eigene
Hypothesen aufzustellen, die man mit
den Mitteln der Wissenschaft überprüfen
konnte, und konzentrierten sich ganz auf
das Streuen ätzender Zweifel.
Gerne klagen Klimaforscher über die
Hartnäckigkeit der Skeptiker, aber darin
hallt auch das Triumphgeheul der
Gewinner nach. Inzwischen ist das
Leugnen des Klimawandels nur noch ein
politisches Problem, und man muss eher
Sorgen haben, dass sich die Forscher im
Siegesrausch einen gehörigen Schwips
antrinken.
Weniger augenfällig war ein Sieg der
Wissenschaft an einer anderen Front.
Es gab neben den Skeptikern auch
forsche Experten mit einfachen
Lösungen, die man erst einmal im
Zaum halten musste. Der Ozeanograf
John Martin prahlte 1988, er könnte
mit einem halben Tanker voller Eisen
eine neue Eiszeit auslösen. Das Eisen
würde zu einem schnellen Wachstum
des Phytoplanktons im südlichen
Polarmeer führen und dadurch die
Sequestrierung von Kohlendioxid im
Ozean auf Touren bringen. Das
Geoengineering ist als Option
weiterhin im Spiel, aber bislang ist
klar, dass es dafür eines breiten
Konsenses und einer Sensibilität für
Nebenwirkungen bedarf.
Kritische Entwicklungen gab es in der
Forschung vor allem im Globalen
Süden, und sie hatten weniger mit
kognitiven Unsicherheiten zu tun als
mit den ungeplanten Nebenfolgen
gutgemeinter Politik. Während
westliche Gesellschaften problemlos
große Forschungszentren für Klima-
forschung finanzieren konnten, sah das
in armen Ländern anders aus. Die
Soziologin Anita Engels hat für den
Senegal gezeigt, wie knappe
Ressourcen aus lokal wichtigen
Forschungsprojekten abgezogen
wurden, weil das Land gemäß Kyoto-
Protokoll ein eigenes Klimakonzept
entwickeln musste, auch wenn es nur
ein paar Millionstel der globalen
Treibhausgase produzierte.
Der globale Kampf gegen die Wüsten-
bildung, der ebenfalls auf einer Rio-
Konvention basiert, blieb notorisch
unterfinanziert, und es ist offen, ob
die geplanten Hilfsprogramme für
Klima-adaption daran etwas ändern
werden.
Inzwischen kämpft die Klima-
forschung zunehmend mit dem
Problem, dass sie an die Grenzen
ihres Erfolgsmodells gelangt. Bei der
Problemdiagnose geht es nur noch um
graduelle Verbesserungen, die sich
begrenzt zur fachwissenschaftlichen
Profilierung eignen, und Fragen der
Klimaadaption und Klimagerechtigkeit
entziehen sich einer Beantwortung,
die in vertrauter Weise auf die
Instrumente der naturwissen-
schaftlichen Forschung setzt. Zugleich
geht es bei der Klimaadaption um viel
Geld. Es bleibt abzuwarten, wie viel
Finanzmittel nach dem Klima-
abkommen von Paris für den Umgang
mit Schäden zur Verfügung stehen
werden, aber Verteilungskonflikte und
ungeplante Nebenfolgen sind
vorprogrammiert. Vom Abglanz der
Aufklärung wird nicht viel übrig-
bleiben, wenn es um Entscheidungen
über Milliardenetats geht, und im
schlimmsten Fall droht die Rückkehr
der Entwicklungshilfe mit der
Gießkanne.
Das größte Problem der Klima-
forschung bleibt freilich die Kluft
zwischen Wissen und Handeln. Das
Schneckentempo der Politik ist immer
schwerer zu ertragen, von den
reaktionären Zumutungen eines
Donald Trump oder Jair Bolsonaro
einmal ganz zu schweigen, und am
Ende lockt die Versuchung der
rhetorischen Eskalation.
Wenn alle Metaphern ausgelaugt und
die moralischen Ressourcen
erschöpfend zitiert sind, bleibt
nur noch die Flucht in Visionen, bei
denen auch dem aufgeklärten
Zeitgenossen ein wenig mulmig wird.
Rich spricht in seinem Buch von
„Verbrechen gegen die Menschlich-
keit“ und internationalen Tribunalen,
von Wahrheitskommissionen,
Reparationen und Verstaatlichung der
Energieindustrien und fügt hinzu, dass
all dies natürlich nicht genug wäre,
um den moralischen Makel wieder gut
zu machen. Es spricht nur wenig dafür,
dass eine Politik, die vor allem eine
kollektive Schuld abarbeiten möchte,
dem klassischen Politikstil westlicher
Gesellschaften überlegen ist. Eine
Politik ohne Augenmaß und Effizienz-
kalküle ist nicht ohne Risiko, und das
erst recht, wenn es trägen Konsum-
bürgern an den Kragen geht.
Außerdem gibt es eine Menge
Menschen, die durchaus umwelt-
bewusst und zu Selbstkritik fähig, aber
gerade so gar nicht in Kreuzzugss-
timmung sind.
SCHLUSS
So ist die populäre Erzählung des
Nathaniel Rich nicht nur ein Beispiel
für schlechte Geschichtsschreibung.
Sie dokumentiert auch eine fatale
Zweiteilung, die sich in der Klima-
debatte mit zunehmender Schärfe
abzeichnet. Da gibt es auf der einen
Seite das Heer der Berater und
Kommentatoren, die sich mit der
realen Politik mit all ihren Halbherzig-
keiten und Problemen herum-
schlagen. Auf der anderen Seite gibt
es die moralische Klarheit einer
imaginierten Klimapolitik, wie sie sein
sollte oder hätte sein sollen. Es ist
eine warme Vision, frei von mächtigen
Interessen, trägen Konsumenten und
kognitiven Zweifeln. Sie liefert das
gute Gefühl, auf der richtigen Seite
der Geschichte zu stehen. Aber
vielleicht ist eine solche Vision nicht
unbedingt das, was wir im globalen
Treibhaus brauchen?
Das Basteln mit Modellen gehört zur
Klimaforschung, aber in der Klimage-
schichte läuft Modellieren leicht auf
Teleologien à la Nathaniel Rich hinaus,
die alles, was irgendwie nicht den
Erwartungen entspricht, aus der
historischen Erzählung herausbügeln.
So könnte der Nutzen der Klima-
geschichte nicht zuletzt darin
bestehen, ein Stachel gegen
Vereinfachungen und trügerische
Gewissheiten zu sein. Die Klima-
forschung baut auf Vorarbeiten von
Menschen auf, die noch keine globale
Erwärmung kannten. Klimapolitik setzt
in einer Weise auf nationalstaatliche
Regierungen, die letztlich nur
historisch zu erklären ist, während
wohlmeinende Moralisten ein Eigentor
nach dem anderen schießen.
Zusammengehalten wird das Ganze
von einer globalen Vision, die sich im
Kalten Krieg neben lokale und
regionale Wahrnehmungsmuster
drängte, die freilich nicht ver-
schwanden. Und vielleicht erleben wir
gerade einen erneuten Perspektiv-
wechsel, weil mit der Klimaadaption
verstärkt die regionalen Spezifika in
den Fokus rücken. Es wäre nicht die
erste unerwartete Wendung in der
Geschichte der globalen Klimadebatte.
FRANK UEKÖTTER
ist Historiker mit den
Schwerpunkten Umwelt-, Land-
wirtschafts-, Technik- und
Wissenschaftsgeschichte
und lehrt an der der University
of Birmingham,
Vereinigtes Königreich.
f.uekoetter@bham.ac.uk
Quelle: APuZ, 69. Jahrgang, 47–48/2019,
18. November 2019