Siegfried
Trapp
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24. Juli 2016, 18:47 Uhr
Studie Hört! Hört!
Gibt es die "Weltsprache Musik", die alle Völker verstehen und
beherrschen? Ein empirische Studie in der aktuellen "Nature" kann
dies nicht bestätigen.
Nicht nur Politiker lieben es, bei feierlichen Anlässen die
kulturenübergreifende Wirkung von Musik zu beschwören. Von der
"Weltsprache Musik" ist dann die Rede, die man überall
gleichermaßen verstehe. Aber stimmt das überhaupt?
Eine aktuell in der Zeitschrift Nature erschienene Studie wirft ein
interessantes Licht auf diese Frage. Josh McDermott vom
Massachusetts Institute of Technology (MIT) besuchte dafür die
Tsimane, ein Volk im bolivianischen Amazonasgebiet. Erreichen
kann man es nur per Kanu, Elektrizität kennen die Tsimane nicht
und damit auch keinen Fernseher. Zum Radio haben sie nur
gelegentlich Zugang - und damit auch zu westlich geprägter Musik.
Die Tsimane singen einstimmig, kennen also keine Harmonisierung
von Musik.
McDermott, der mit neurobiologischen Grundlagenarbeiten zur
Akustikforschung hervorgetreten ist, wollte herausfinden, ob die
Tsimane zwischen Konsonanzen und Dissonanzen unterscheiden,
also wie Durchschnittseuropäer und -amerikaner Terzen und
Quinten angenehmer empfinden als Sekunden oder den Tritonus.
Und siehe da: Die Testpersonen stellten keinerlei qualitativen
Unterschied zwischen den Intervallen fest.
Westliche Dissonanzen erweckten in ihnen keineswegs das
Unwohlsein, das Vergleichsgruppen aus US-Amerikanern und aus
Bolivianern mit westlicher Musikerfahrung damit verbanden.
Die Studie wirft ein Licht auf die aktuell auf vielen Gebieten
diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur, also
dem, was beim Menschen angeboren und was kulturell geprägt ist.
Dabei scheint das auch im musikalischen Bereich eine latente
Wegscheide zwischen den "zwei Kulturen" zu erzeugen, der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung auf der einen
und der kulturwissenschaftlichen auf der anderen Seite.
Bereits der antike Philosoph Pythagoras hatte postuliert, dass sich
die klassischen Konsonanzen wie Oktave, Quarte und Quinte in
Verhältnissen kleiner rationaler Zahlen ausdrücken lassen, also in
der Ordnung der Natur liegen. Bedeutende Mathematiker wie
Galileo Galilei oder Leonhard Euler übernahmen die Idee in die
Wellentheorie des Klangs, indem sie darauf hinwiesen, dass die
Wellen zueinander konsonanter Töne häufiger gemeinsame
Schnittpunkte haben als die dissonanter Töne, bei der Quinte zum
Beispiel im Verhältnis 3:2, während das "Teufelsintervall" Tritonus
schwache 45:32 erreicht.
Als wichtiges Indiz gilt auch die im Barock erstmals beschriebene
Obertonreihe, nach der jeder natürliche Klang seine wichtigsten
Konsonanzen besser hörbar enthält als die Dissonanzen. Im 19.
Jahrhundert postulierte der Physiker Hermann von Helmholtz, dass
sich bei dissonanten Intervallen mehr Obertöne aneinander reiben
als bei konsonanten.
In der jüngsten Zeit haben Naturwissenschaftler immer wieder
Hinweise entdeckt, dass das Konsonanzempfinden angeboren sein
könnte. So zeigte ein älteres Paper in Nature, dass bereits zwei
Monate alte Kinder sich länger mit Konsonanzen beschäftigen als
mit Dissonanzen. Selbst bei manchen Affen- und Vogelarten hat
man die Unterscheidung nachzuweisen versucht. Nicht
auszuschließen ist allerdings, dass im Westen geborene Babys
bereits im Mutterleib durch die europäische Klangtradition geprägt
werden.
Kulturwissenschaftler weisen dagegen schon länger auf die
gewaltige Vielfalt der weltweiten Musikkulturen hin. Fragt man etwa
den Musikethnologen Tiago de Oliveira Pinto, der am Institut für
Musikwissenschaft Weimar-Jena lehrt, dann sagt er, dass ihn die
Studie nicht überrasche. Er verweist auf Gruppen aus dem
portugiesischen Alentejo, die beim gemeinsamen Singen Klänge
erzeugen, die für den Durchschnittseuropäer nicht gerade
angenehm klingen, oder darauf, dass in der indonesischen Gamelan
Musik manche Gongs so eng zueinander gestimmt sind, dass sich
die Töne hart aneinander reiben.
Die Verwendung der Obertonreihe zur Erzeugung von
Mehrstimmigkeit kennt man dagegen auch von den
südafrikanischen Xhosa oder aus dem zentralasiatischen
Kehlkopfgesang. Was alle Kulturen teilten, so Oliveira Pinto, sei,
dass sie ein Schönheitsempfinden für Musik ausbilden, Klänge also
prinzipiell in schön und hässlich unterteilen.
Für die Tsimane tippt Oliveira Pinto, dass sie mit dem Konzept
mehrerer gleichzeitiger Töne wenig anfangen könnten. Zwar zeigt
McDermotts Studie, dass die meisten der indigenen Hörer die
Mehrstimmigkeit wahrnahmen und auch einen Sensus für die
Reibung eng beieinander liegender Töne hatten. Aber ein nach
westlicher Tradition harmonisiertes Tsimane-Lied fanden sie
genauso schön oder hässlich wie eine Version, die für die
Vergleichsgruppen voller Dissonanzen steckte.
Bemerkenswert an McDermotts Studie ist, dass hier ein aus der
neurobiologischen Forschung kommender Wissenschaftler die
klassische musikethnologische Perspektive zu bestätigen scheint.
Wer von der "Weltsprache Musik" spricht, sollte also wissen, dass er
damit unter Umständen einen verkappten Kulturimperialismus
verfolgt. In der Praxis erfolgreich ist der sowieso. Das zeigt nicht
nur die rasante Adaptierung der abendländischen Klassik in China
oder Japan. Es zeigt sich auch darin, dass mit dem
Verbreitungsgrad westlicher Medien Völker wie die Tsimane immer
seltener werden und damit vielleicht bald nichts mehr zur Klärung
solcher Fragen beitragen können.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/studie-hoert-hoert-1.3092540