Freiheit und Handschellen
SCHLAGLOCH VON ILIJA TROJANOW
Die Hysterie im Anschluss an "Charlie Hebdo" ist unerträglich
Auf den Schock über die Anschläge in Paris folgte der Schock über die öffentlichen und
privaten Debatten. Selbst ansonsten vernünftige Menschen reagierten mit Äußerungen, die
unter der Last ihrer Panik torkelten. Die Wiener Tageszeitung “Der Standard” betitelte ihren
Kommentar "Freiheit braucht Sicherheit", ohne diese Losung in ihrer perfiden Logik
durchzudeklinieren: Freiheit braucht Belauschung, Freiheit braucht Handschellen.
Blindheit und Aktivismus
Mit anderen Worten: Wir brauchen keine Freiheit. Keine Überraschung, dass Politiker,
Experten und Law-and-Order-Befürworter die Morde instrumentalisierten, um ihre schon
oftmals diskreditierten Behauptungen zu dringlichen Forderungen zu schmieden. Die
Vorratsdatenspeicherung wurde von den Toten wiederauferweckt, ungeachtet dessen, dass
sie sowohl vom Bundeserfassungs-gericht als auch vom Europäischen Gerichtshof
abgeschmettert wurde, so als hätten die Morde in Paris die Gerichte überstimmt.
Der Rechtsstaat soll gewährleistet werden, indem er ausgehöhlt wird, gemäß dem seit Jahren
befolgten Prinzip, die Freiheit durch die Einschränkung der Freiheit zu verteidigen. In einigen
Ländern wurde Aufrüstung des Sicherheitsapparats im Eilver-fahren beschlossen,
unabhängig davon, ob die Maßnahmen ihren behaupteten Zweck überhaupt erfüllen können.
Ganze Gesellschaften gossen sich einen potenten Cocktail aus Angst, Blindheit und
Aktionismus hinter die Binde.
Dabei sollte die erste Bürgerpflicht in Zeiten wie diesen das Nachdenken sein. Zorn, Trauer
und Schmerz entledigen uns nicht der Verantwortung, möglichst nüchtern zu analysieren,
Gründe auszuloten, nachhaltige, gerechte Lösungen zu suchen. Fakten sind wichtiger als
Gesten, wenn man nicht möchte - wie geschehen -, dass Heuchelei auf dem Trauma
aufsattelt. Auch eine ritualisierte Trauergestik bedarf blasphemischer Einwürfe. Das wäre ein
Zeichen jener Stärke, jenes Muts, der allenthalben eingefordert wird. Die Militarisierung, die
intensivierte Durchherrschung unserer Gesellschaften hingegen ist eine feige Reaktion,
ebenso wie das Anwachsen von Islamophobie und Rassismus.
Wie kann man etwa hierzulande nach den ausgiebig dokumentierten Erkenntnissen des
NSU-Untersuchungsausschusses blind darauf vertrauen, dass die im Geheimen
operierenden Sicherheitsbehörden unser aller Menschen- und Bürgerrechte schützen
werden?
Ökonomie ist der größte Feind
Darf man sich das Recht herausnehmen, trotz der Verbrechen von Paris, die Zeitschrift
Charlie Hebdo, die sich von ihren anarchistischen Wurzeln schon weit entfernt hatte, zu
kritisieren? Nicht wegen der antireligiösen Haltung, sondern wegen der intellektuell dürftigen
plakativen Provokation, die oft gerade das nicht leistete, was Satire in ge-lungenen Fällen
vermag: die Herrschenden, die Selbstgerechten zu entlarven. Sich über die Schwächsten in
einer Gesellschaft lustig zu machen, nur weil sie einem vermeintlichen archaischen Glauben
anhingen, ist billig und unwürdig.
Wie kann man so tun, als sei Terrorismus der größte Feind der freien Meinungs-äußerung, da
sie doch vor allem von ökonomischen Zwängen (Charlie Hebdo war de facto pleite, die
Überlebenskämpfe der freien Printmedien sind Leserinnen und Lesern dieser Zeitung bestens
bekannt) sowie von staatlicher Repression bedroht ist?
Ein bemerkenswerter Artikel in der Washington Post war betitelt: "Die größte Gefahr für die
freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der Terrorismus." Der Autor Jonathan Turley
schildert darin eine Reihe von Fällen der Zensur unter Zuhilfenahme von
Antidiffamierungsgesetzen. Die Verhaftung des Komikers Dieudonné M'Bala M'Bala wenige
Tage später wegen seines Ausspruches "Je suis Charli Coulibaly" war Beleg für diese
Behauptung. Mörder können Journalisten umbringen, der Staat allein kann ein Recht zu
Grabe tragen.
Selektive Einfühlung
Müssen wir unsere Empathie nicht hinterfragen, wenn sie als intimes Gefühl politisch
enggeführt und ausgebeutet wird? Irritation, Misstrauen, letztlich Feindseligkeit entstehen
aufgrund einer vermeintlich selektiven Empathie, die das Prinzip universeller Rechte infrage
stellt. Ich werde nie vergessen, wie ich mit einigen Ulema, islamischen Rechtsgelehrten,
zufällig an jenem Tag in Bombay zusammensaß, als der Angriffskrieg gegen den Irak begann,
live übertragen von CNN.
Ich werde nie vergessen, wie einer der jungen Männer angesichts der schrecklich abstrakten
Bilder, die der Fantasie viel Raum ließen, ausrief: "Wieso tun sie uns das an?" Und ein
anderer zu weinen begann. Viele Stimmen haben in den letzten Wochen Zeichen der
Anteilnahme und der Solidarität von muslimischen Organisationen und Respektspersonen
gefordert. Das ist verständlich, ebenso verständlich ist die schwelende Frage im Herzen vieler
Muslime: Wie viel Anteilnahme und Solidarität habt ihr gezeigt, als grauenvolle
Kriegsverbrechen in Falludscha oder in Gaza begangen wurden?
Man mag ein solches Gegenüberstellen von Opfern verwerflich finden, aber man sollte sich
nicht darüber täuschen, dass es die Wahrnehmung in den ehemals kolonialisier-ten
Gesellschaften (nicht nur in den islamischen) dominiert, wo genau darauf geachtet wird, wie
die moralische Schere immer wieder auseinandergeht.
Der genozidale Angriff von Boko Haram auf das Dorf Baga, dem wohl zweitausend
schutzlose Menschen zum Opfer fielen (überwiegend Frauen, Kinder und Alte), wurde medial
viel weniger wahrgenommen, von massenhaften Solidaritätskundgebungen ganz zu
schweigen. Der Terror in Nordnigeria, wo die Bevölkerung zwischen obskuran-tistischen,
blutrünstigen Fanatikern und einer korrupten, brutalen Armee zerrieben wird, ist für uns
unvorstellbar, also bleibt er ohne Folgen.
Angesichts der inszenierten Trauerarbeit im freien Westen kann ich durchaus verstehen, dass
ein afrikanischer Kollege ausrief: "Je ne suis pas Charlot."
Mörder können Journalisten umbringen, der Staat allein kann ein Recht zu Grabe tragen.
Ilija Trojanow, 27.01.2015
Ilija Trojanow ist Schriftsteller und Weltensammler. Letzte Buchveröffentlichungen: "Der
überflüssige Mensch: Unruhe bewahren" (Residenz Verlag 2013) und "Stadt der Bücher" mit Anja
Bonhof (Langen/Müller 2012)
Text-Quelle:
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2015%2F01%2F27%2Fa0084&cHash=d175b60b1c10b3f295
19c54de731d83f
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