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Der habgierige Frosch sitzt auf seinen Münzen –
eine Allegorie aus dem 17. Jahrhundert.
Geld und Gier
Libertäre Trickster: Warum funktionierte der Wirecard-Betrug so
lange? Eine Erklärung
Von Dieter Thomä
29. Juli 2020, 16:54 Uhr / Editiert am 2. August 2020, 15:38 Uhr / DIE ZEIT Nr. 32/2020,
30. Juli 2020
Ein Kartenhaus, das "House of Wirecard" (Dan McCrum, Financial Times), ist
zusammengefallen. Der Börsenwert eines Dax-Unternehmens ist vernichtet. 1,9
Milliarden Euro sind irgendwie verschwunden oder waren nie da. Ein Film über
den Skandal ist in Arbeit. Schuldsprüche gegen einzelne Personen stehen noch
aus, aber Namen tun hier nichts zur Sache.
Die Figuren, die in dieser Geschichte auftreten, sind Typen, die an Klischees
entlangschrammen. Ein Chief Executive Officer, der als "Mann wie ein
Algorithmus" (Spiegel) wirkt und nebenbei Martin Heidegger oder Hannah Arendt
zitiert. Ein Chief Operating Officer, den seine Mutter einen "präpotenten
Zampano" nennt und der sich angeblich gern Sushi auf nackten Frauenkörpern
servieren lässt. Ein Unternehmensberater, der von seinem Amt als
Bundesminister wegen eines erschlichenen Doktortitels zurücktreten musste. Ein
Staatssekretär, der vor seinem Amtsantritt eine Führungsposition in einer großen
Investmentbank innehatte. Eine leitende Mitarbeiterin der Wertpapieraufsicht,
die zuvor an Cum-Ex-Geschäften einer Bank mitwirkte. Ein Chef einer
Aufsichtsbehörde, dessen Hauptbeschäftigung darin zu bestehen scheint, sich für
nicht zuständig zu erklären.
Wer bei diesem Personal an das Nächstliegende denkt – Filz! –, liegt falsch. Filz
ist ein robuster Pressstoff, der aus eng verschlungenen Fasern besteht. Hier
hängt alles mit allem zusammen, nichts kann sich lösen, jeder ist darin
verwickelt, und alle halten dicht. Filz ist, anders als die Finanzwelt, komplett
fantasielos. Die Verführungskraft – und auch die Skandalträchtigkeit – der
Finanzwelt hängt damit zusammen, dass sie Fantasien kanalisiert und auf die
Zukunft ausrichtet: die Fantasien der Finanzjongleure, die Geschäftsfelder
eröffnen oder Luftschlösser bauen, die Fantasien der Anleger, die auf steigende
Kurse und Renditen hoffen, die Fantasien der Politiker, die als Ermöglicher und
nicht als Verwalter in die Geschichte eingehen wollen. Wer bei diesem Spiel
nicht mitspielt, gilt als Spielverderber, Bedenkenträger, bodenständiger
Dickschädel oder einfach nur als Dummkopf, der sich ein Schnäppchen entgehen
lässt. Zu diesem Spiel der Gier gehört die Neigung zum Regelbruch genauso dazu
wie bei Mensch ärgere Dich nicht die Neigung zum Schummeln.
Die Frage, ob es sich bei Wirecard um einen Einzelfall handelt, bei dem
ausnahmsweise gegen allgemein geltende Regeln guten Geschäftsgebarens
verstoßen wird, ist so vorgestrig, dass man sie sich eigentlich sparen kann. Diese
Frage ist seit der letzten Finanzkrise geklärt. Als unübertrefflicher Beleg dafür
taugt die Antwort, die Alexander Dibelius, damals Deutschland-Chef von
Goldman Sachs, 2009 auf die Frage der Spiegel-Interviewer gab, ob seine
Branche denn "kriminelle Energie" habe: "Nein, doch es gibt Einzelfälle wie
Bernie Madoff, die aber auf fruchtbarem Boden gedeihen konnten." Dies ist eine
für einen Mann dieses Kalibers erstaunlich verschwurbelte Antwort.
Aufschlussreich sind vor allem die sich in den Schwanz beißenden Widersprüche:
Nein, doch, aber ...
Am Ende bleibt der "fruchtbare Boden" übrig, also eben die Auskunft, dass die
vermeintlichen "Einzelfälle" keine sind. Viele giftige Früchte hat dieser Boden
damals hervorgebracht, und er ist fruchtbar noch. Der Aufstieg von Wirecard ist
ohne Komplizenschaft, Kollaboration, Betriebsblindheit, Gutgläubigkeit,
Wunschdenken verschiedenster Beteiligter nicht zu erklären. Wenn man einen
Schritt zurücktritt, dann ergeben sich drei Fragen: Warum ist die Sogwirkung der
Finanzwelt so stark? Warum ist der Gegensog so gering? Und wie wird die
Strömungslehre der Zukunft aussehen?
Die Macht der Finanzwelt, zu der das FinTech-Unternehmen Wirecard gehört,
zeigt sich unter anderem daran, dass sie mit physikalischen Gesetzen brechen
kann. Sie setzt den Hebel, mit dem Menschen in Bewegung gebracht werden, an
einer Stelle an, wo doch jeder Gegenhalt, jedes Widerlager fehlt: im Nichtort
der Zukunft, auf die alle Fantasien eingenordet werden. Im Vergleich dazu sah
der Riese Atlas, der die wirkliche Welt hätte aus den Angeln heben können, echt
alt aus, denn er benötigte noch einen festen Standpunkt außerhalb dieser Welt
und befand sich nicht im virtuellen Raum.
Die Finanzwelt erscheint so attraktiv, weil sie mit einem doppelten Versprechen
operiert. Auf der Makroebene verspricht sie Dynamik, Wachstum, Gewinn. Damit
dieses Versprechen nicht von vornherein als Exklusivangebot für Privilegierte
abschmiert, damit es also auf der Mikroebene funktioniert, muss es in einer
Sprache verfasst sein, die jeder versteht und jedem zugänglich ist. Das ist die
Sprache des Geldes. Mit Geld kann jeder etwas anfangen – und zwar deshalb,
weil es wie eine Allzweckwaffe funktioniert: Es steht selbst für ein Versprechen
– dafür, sich in alles Denk- und Wünschbare verwandeln zu können – und ist
darauf geeicht, dieses Versprechen zu halten. So wird die Gier massenwirksam.
Wer Geld zur Verfügung hat, kommt – wie der Philosoph Georg Simmel im Jahr
1900 gesagt hat – in den Genuss "absoluter Flüssigkeit" und "voll besessener
Potenzialität". Dies erklärt das Machtgefühl des COO von Wirecard, der im Chat
mit einem Vertrauten darüber fantasiert, eine Karibikinsel oder den Starnberger
See kaufen zu wollen. Dies erklärt aber auch, warum so ein Typ nicht für
verrückt erklärt wird und jahrelang im Mainstream sozialverträglicher
Sehnsüchte mitgeschwommen ist.
Gegenkräfte zur Gier sind schwach
Warum waren die Gegenkräfte, die den Wirecard-Skandal hätten verhindern
können, so schwach? Diese Frage bezieht sich – allgemein gesagt – auf das
Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen individuellem Eigennutz
und rechtlich-moralischen Regeln. Diverse Warnsignale, die schon vor Jahren zu
blinken begannen, sind übersehen oder abgeschaltet worden. Die politischen
Aufsichtsbehörden haben – gelinde gesagt – unbeholfen agiert. Die
Wirtschaftsprüfer, die darauf achten sollten, ob im Unternehmen alles mit
rechten Dingen zugeht, haben während langer Jahre einen ähnlich miserablen
Job gemacht wie damals die Rating-Agenturen im Vorlauf zur Finanzkrise 2008.
Zu diesem Versagen gehört ein Gelingen: Die Wirtschaftssubjekte schafften es,
sich der Kontrolle zu entziehen und ihr Ding zu machen.
Wer diese Dynamik verstehen will, muss in ein Buch schauen, das 1651
erschienen ist: Thomas Hobbes’ Leviathan. Hobbes warf in diesem Buch einen
Blick auf eine amoralische Welt, eine Welt im sogenannten Naturzustand, in der
jedes Individuum für "gut" hält, was ihm "Lust bringt", und für "böse" hält, "was
Unlust bringt oder eine Belästigung darstellt". Hobbes glaubte nicht, dass dieser
Egotrip auf Dauer gut gehen könne, aber er bemerkte, dass die Reichen
besonders mit ihm liebäugeln. "Mittelmäßiger Reichtum" mache es möglich,
"Freundschaften zu erwerben" und sich damit eine gewisse Sicherheit zu
verschaffen. (Heute würde man dies Networking und Lobbyarbeit nennen.) Wenn
der Reichtum sogar "ungeheuer" groß sei, dann stelle er einen "nahezu sicheren
Schutz" in Aussicht. Hobbes schrieb "nahezu", um auch die Reichen dazu zu
bewegen, sich an Gesetze zu halten, aber ungewollt entwarf er damals ein
Drehbuch für diejenigen, die darauf pfeifen.
Hobbes nahm zur Kenntnis, dass es für solche Typen "keine allgemeine Regel für
Gut und Böse" gebe, sie legten sich diese Regel einfach so zurecht, wie sie ihnen
in den Kram passe – jedenfalls "dort", wie er hinzufügte, "wo es keinen Staat
gibt". Damit ist auch das Entscheidende über den Wirecard-Skandal gesagt.
Einen Staat oder, allgemein gesagt, eine wirksame rechtliche Ordnung muss es
geben, wenn man denjenigen, die das Gute nur zu ihren Gunsten auslegen, in
die Quere kommen will. Und umgekehrt: Einen Staat oder eine wirksame
rechtliche Ordnung werden diejenigen lästig finden, die auf eigene Faust
zurechtzukommen meinen.
Auf die von Hobbes porträtierten "Reichen" folgen diverse derartige Figuren.
Mitte des 19. Jahrhunderts treten diejenigen auf, die sich in einer "Anarchie plus
Schutzpolizist" (Thomas Carlyle) wohlfühlen. Dazu gesellt sich 1922 der von
Fernando Pessoa porträtierte "anarchistische Bankier", der als "vollkommener
Egoist" alle gesellschaftlichen Regeln für "Fiktionen" hält. Ihm folgen 1930 die
von Robert Musil geschilderten "Direktoren der Banken", die überzeugt sind,
"dass die Welt viel besser wäre, wenn man sie einfach dem freien Spiel von
Angebot und Nachfrage überließe" – und nicht "wirtschaftsunkundigen
Diplomaten".
Am Ende dieser Reihe stehen die libertären Trickster unserer Tage. Die
Gegenkräfte zur Gier sind heutzutage deshalb so schwach, weil wirtschaftliche
Akteure in Bereichen operieren können, in denen es, Hobbes’ Erwartung zum
Trotz, tatsächlich "keinen Staat gibt" – oder jedenfalls nur einen schwachen
Staat. Die Probleme sind bekannt: Zu ihnen gehören die Asymmetrie zwischen
nationalen Rechtssystemen und globaler Wirtschaft sowie die Willfährigkeit der
Staaten im Kampf um ökonomische Standortvorteile. Interessant ist in diesem
Zusammenhang, auf welchem Wege das Wirecard-Kartenhaus zum Einsturz
gebracht worden ist: nämlich nicht durch staatliche Kontrolle, sondern weil eine
japanische Firma ihr Investment in Wirecard an die Bedingung einer zusätzlichen
Buchprüfung koppelte, die schließlich das Schlamassel ans Licht brachte. Ob
man sich auf die Selbstheilungskräfte der globalen Wirtschaft langfristig
verlassen kann, ist zu bezweifeln. Derzeit gilt in diesem Bereich immer noch das
"Prinzip der Arbeitsteilung", das Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne
Eigenschaften auf unübertreffliche Weise beschrieben hat. Unser "ganzes
Zeitalter", so heißt es dort, "betet den Geist des Geldes an" und "beklagt das
zugleich". In dieser gespaltenen Gesellschaft gibt es dann auf der einen Seite
diejenigen, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit "über Kontinente" ausbreiten und
für ein "großes Geschäft" auch die "gerissensten" ihrer Konkurrenten reinlegen.
Auf der anderen Seite stehen Politiker, "welche das ihnen wesensfremde, aber
wichtige Gebiet der Wirtschaft mit der Vorsicht von Männern behandeln, die
einen nicht ganz verlässlichen Elefanten zu pflegen haben". Zu ihnen gesellen
sich "Intellektuelle", "Ablasszettelexistenzen" und "Bußprediger", deren "innere
Mahnung zur Umkehr" folgenlos bleibt.
Wie kann man dieser verhängnisvollen "Arbeitsteilung" ein Ende setzen? Wie
lassen sich die Strömungsverhältnisse, in denen der Sog der Gier und der
Gegensog des Rechts wirken, beeinflussen?
Zwei Strategien bieten sich an. Diejenigen, die nach Musil für die "Mahnung der
Umkehr" zuständig sind, müssen aus ihrer Nische oder Schmollecke heraustreten
und nach der Macht greifen. Angesichts des Klimawandels ist es Zeit für eine
Politik, in der soziale Bewegungen, Staaten und überstaatliche Organisationen
nicht auf das Bremsen der wirtschaftlichen Dynamik, sondern auf das
Umgestalten einer ganzen Lebensweise zielen. Diejenigen, die – wie Musil dies
nannte – vom "Geist des Geldes" besessen und von der "Ichsucht" ergriffen sind,
müssen eine Art Entziehungskur machen. Das klingt mühsam und schmerzhaft,
ist es aber gar nicht. Denn die Gier nach Geld ist eine selten einfallslose und öde
Angelegenheit. "Die Freude am Geldbesitz", so meinte Georg Simmel, "gleicht
der Freude am Siege, die bei manchen Naturen so stark ist, dass sie gar nicht
danach fragen, was sie denn eigentlich durch den Sieg gewinnen." Die Gier nach
Geld basiert also auf einer Verwechslung, bei der man ein Mittel für den Zweck
selbst hält und am Ende ziellos durchs Leben irrt. Bei Arthur Schopenhauer heißt
es: "Das Geld ist die menschliche Glückseligkeit in abstracto; daher, wer nicht
mehr fähig ist, sie in concreto zu genießen, sein ganzes Herz an dieselbe hängt.
DIETER THOMÄ
lehrt Philosophie an der Universität St. Gallen und veröffentlichte zuletzt bei Ullstein das Buch Warum
Demokratien Helden brauchen (2019).
© Artokoloro/Alamy Stock