ICH HABE EINEN TRAUM
"Es ging so viel verloren"
Der Hirnforscher Eric Kandel wünscht sich den Wiederaufbau
einer jüdischen Gesellschaft in Wien
Vor etwa zehn Jahren las ich das Buch Die innere Statue von François Jacob. Darin
beschreibt der französische Biologe Tageswissenschaft und Nachtwissenschaft. Die
Tageswissenschaft umfasst die Versuche im Labor, Auswertungen und Diskussionen.
In der Nachtwissenschaft fantasieren Wissenschaftler über neue, wichtige Ideen. Ich
glaube, dies ist der bedeutendste Teil unserer Arbeit.
Ich bin oft in Nachtwissenschaften verstrickt, meine Frau Denise würde sagen, zu oft.
Die Gedanken kommen dann unkontrolliert, meistens wenn ich entspannt bin,
schläfrig, aber nicht müde. Sie handeln von Grenzen, die ich überschreiten, und
Wissenschaften, die ich zusammenbringen muss. Sie führen mich zu den
elementarsten Veränderungen in meinem Leben.
Als junger Mann wollte ich Psychoanalytiker werden. Bald war ich jedoch mehr von
der Biologie des Gehirns fasziniert. Zu meiner Überraschung machte mir die Arbeit
im Labor Spaß. Wer aber hätte in den fünfziger Jahren voraussagen können, dass die
Bedeutung der Psychoanalyse abnehmen und die der Neurobiologie gewinnen würde?
Mein Wechsel zur Neurobiologie war ein Sprung ins Ungewisse, ein Vertrauens-
vorschuss an das Schicksal.
Später träumte ich von der Meeresschnecke Aplysia als Objekt für neue Versuche.
Namhafte Kollegen rieten mir ab, ihnen schien eine Meeresschnecke zu weit vom
Menschen entfernt. Doch die Aplysia, ausgestattet mit riesigen Nervenzellen, war
perfekt. Mittlerweile können wir durch unsere Experimente biologisch erklären, was
im menschlichen Hirn passiert, wenn eine kurzzeitige Erinnerung in das
Langzeitgedächtnis übergeht. Das ist der Kern der Wissenschaft: mit reduziertesten
Versuchsanordnungen die komplexesten Fragen zu beantworten.
Ich weiß heute, dass das Leben eine Reihe von Vertrauensvorschüssen ist. Wir
müssen einen Sinn für richtige Entscheidungen entwickeln und bereit sein,
unbekanntes Terrain zu betreten. Im Moment träume ich von Wien, der Stadt, in der
ich geboren bin und aus der ich als Kind vertrieben wurde. Ich bin dort in diesem Jahr
Ehrenbürger geworden, ein bittersüßer Moment. Ich träume davon, dass Österreich
seine Vergangenheit aufarbeitet. Die Integrität und Offenheit, mit der Deutschland
die Hitler-Zeit untersucht und eine Demokratie geformt hat, ist vorbildlich. Von
solcher Transparenz ist in Österreich nichts zu spüren.
Ich träume von Wissenschaftlern, besonders von jungen jüdischen Wissenschaftlern,
die wieder nach Wien kommen. Dass die Universität von Wien, die moralische
Instanz, an einem Teil der Ringstraße liegt, die nach dem Antisemiten Karl Lueger
benannt wurde, ist nicht zu akzeptieren. Dieser ehemalige Wiener Bürgermeister hat
Hitler erst gezeigt, dass man mit Antisemitismus Wahlen gewinnen kann.
Es ging so viel verloren. Ich wünsche mir den Wiederaufbau einer jüdischen
Gesellschaft in Wien. Meinetwegen nennen Sie das meschugge.
Aufgezeichnet von Vanessa Oelker
http://www.zeit.de/2009/30/Traum-Kandel-30
Siegfried
Trapp
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