Erfindungen und Entdeckungen
aus: Aus Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater, 1939
Der heutige Mensch weiß wenig über die Gesetzlichkeiten, die sein Leben
beherrschen. Er reagiert als gesellschaftliches Wesen meist gefühlsmäßig, aber
diese Gefühlsmäßigkeit ist verschwommen, unscharf, uneffektiv. Die Quellen
seiner Gefühle und Leidenschaften sind ebenso verschlammt und verunreinigt wie
die Quellen seiner Erkenntnisse. Der heutige Mensch, lebend in einer sich rapid
ändernden Welt und sich selbst rapid ändernd, hat kein Bild dieser Welt. Seine
Vorstellungen vom Zusammenleben dieser Menschen sind schief, ungenau und
widersprechend, sein Bild ist, was man unpraktikabel nennen könnte, d. h. mit
seinem Bild von der Welt und den Menschen kann der Mensch diese Welt nicht
beherrschen. Er weiß nicht, wovon er abhängt, er kennt nicht den Griff in die
soziale Maschinerie, der nötig ist, der den gewünschten Effekt hervorbringt. Aber
ohne die Kenntnis der Natur des Menschen, ohne die Kenntnis der menschlichen
Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ist der Mensch nicht imstande, die Natur zu
beherrschen, geschweige denn sie zu einer Quelle menschlichen Glücks zu
machen.
Weit eher wird sie zu einer Quelle des Unglücks. So kommt es, dass die großen
Erfindungen und Entdeckungen nur eine immer schrecklichere Bedrohung der
Menschheit geworden sind, so dass heute beinahe jede neue Erfindung nur mit
einem Triumphschrei empfangen wird, der in einen Angstschrei übergeht.
Einstein begründet das Faktum, dass die Beherrschung der Natur, in der wir es so
weit gebracht haben, so wenig zu einem glücklichen Leben beitragt, damit, dass
es den Menschen im Allgemeinen an Belehrungen mangelt, wie sie die
Entdeckungen und Erfindungen nützlich verwenden können. Sie wissen zu wenig
über ihre eigene Natur. Dass die Menschen so wenig über sich selber wissen, ist
schuld daran, dass ihr Wissen über die Natur ihnen so wenig hilft.
In der Tat haben Unterdrückung, Ausbeutung, Folterungen und Kriege schon
etwas Natürliches bekommen, aber diesen natürlichen Erscheinungen steht der
Mensch keineswegs so erfinderisch gegenüber wie anderen natürlichen
Erscheinungen. Die großen und kleinen Kriege scheinen unzählig wie Erdbeben.
Aber während die Menschen mit Erdbeben schon fertig werden, werden sie mit
sich selbst nicht fertig.
Es ist klar, wieviel gewonnen wäre, wenn z.B. das Theater, wenn überhaupt die
Kunst imstande wäre, ein praktikables Weltbild zu geben. Eine Kunst, die das
könnte, würde in die gesellschaftliche Entwicklung tief eingreifen können, sie
würde nicht nur dumpfe Impulse verleihen, sondern dem fühlenden und
denkenden Menschen die Welt, die Menschenwelt, für seine Praxis ausliefern.
Siegfried
Trapp
Willkommen
Bienvenido
Welcome