Siegfried
Trapp
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Deutsche Protestantische Republik
Luther ist einer von uns. Er prägt bis heute Politik und Moral, Mode und Kultur –
und sogar die Essgewohnheiten.
Von Tobias Becker
Das vereinte Deutschland ist in seiner Substanz kein christlich geprägtes Land, es ist
weder katholisch noch protestantisch“, schrieb ein Autor 1991 im SPIEGEL – und fügte
an: „Christlich ist allein die Kirchensteuer.“ Es war ein begnadeter Sarkast, sein Name
Rudolf Augstein, der Hausheilige des SPIEGEL, und Hausheilige irren nie, erst recht
nicht in Fragen der Religion. Oder doch?
Von heute aus betrachtet ist Augsteins Aussage zunächst noch einleuchtender als
damals: Die katholische Kirche hat seit der Wende mehr als 3,5 Millionen Menschen
verloren, die evangelische Kirche gar über 5 Millionen. Nicht einmal zwei Drittel der
Deutschen sind noch Mitglied in einer Kirche. Und die, die es noch sind, gehen sonntags
seltener hin. Ja, sogar der Anteil derer sinkt, die sich kirchlich bestatten lassen, die also
wenigstens im Angesicht des Todes Halt suchen im christlichen Glauben und im kirch-
lichen Ritus. Die Lutherstadt Wittenberg, im Lutherjahr so etwas wie ein evangelischer
Wallfahrtsort, ist eine der säkularsten Städte des Kontinents: Nur ungefähr 15 Prozent
der Bewohner sind Christen. Man könnte glauben, im Lutherjahr feiere sich eine
sterbende Institution.
Die großen Kulturkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken sind überwunden:
Welche Konfession ihr Nachbar oder ihr Kollege hat, ist den meisten schnuppe. Nicht
mal die Mischehe schreckt noch: Etwa ein Drittel der deutschen Paare, die kirchlich
heiraten, gehört verschiedenen Kirchen an. Es ist mehr als 40 Jahre her, dass der
Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen Verhaltensweisen ermittelte, die typisch waren
für die Angehörigen der unterschiedlichen Konfessionen. Protestanten führten eher
Haushaltsbücher als Katholiken, hielten mehr Ordnung, nahmen die Körperhygiene
ernster, machten höhere Bildungsabschlüsse, lasen und arbeiteten mehr, begingen
häufiger Selbstmord.
Ähnlich grundlegende Untersuchungen neueren Datums scheint es nicht zu geben, „die
konfessionellen Unterschiede haben sich im Alltagsleben verwischt“, schrieb die
Journalistin Christine Eichel 2015 in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“.
Hat der Protestantismus im Lutherjahr also überhaupt noch Einfluss auf unsere
Gesellschaft?
„Das Wörtchen noch stört mich“, sagt der Zeithistoriker Paul Nolte, der auch Präsident
der Evangelischen Akademie zu Berlin ist. „Deutschland ist protestantischer geworden
in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten.“
Ist das plausibel, in einer zunehmend säkularen Gesellschaft?
„So säkular wie oft angenommen ist unsere Gesellschaft nicht“, sagt der evangelische
Theologe Friedrich Wilhelm Graf und verweist auf annähernd 1,3 Millionen Menschen,
die in Deutschland hauptamtlich für die Kirchen und ihre Sozialwerke arbeiten, für
Diakonie und Caritas. „Die Kirchen haben großen politischen Einfluss, allein schon weil
sie die zentralen Akteure im Sozialstaatssystem sind.“
Noch entscheidender sei aber dies: „Wer austritt, behält oft ein protestantisches
Selbstverständnis.“ Ganz im Sinne des ver- storbenen Publizisten Klaus Harpprecht:
„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ein Christ bin“, sagte der. „Dass ich Protestant bin,
das weiß ich allerdings!“ Protestantismus nicht als Glaubens-, sondern als Geistes-
haltung, als Art zu fühlen, zu denken, zu leben.
Auch bei Katholiken findet sie sich, selbst bei Atheisten, besonders in Deutschland. Das
protestantische Ideal verantwortungs-voller, pflichtbewusster Lebensführung, fußend
auf freien, individuellen Entscheidungen, habe im Land Luthers einen Menschentypus
geformt, schreibt Eichel: den Deutschen. Was heute als typisch deutsch gilt, das sei
früher typisch protestantisch gewesen: Fleiß, Pflichtbewusstsein, Sparsamkeit,
Affektkontrolle, Rationalität, Leselust, Musikbegeisterung.
Die Deutsche Protestantische Republik.
Auf Luther und die anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts lässt sich vieles
zurückführen: die Tugenden, auf die die Deutschen stolz sind, aber auch die Zwänge, die
ihnen peinlich sind – und vor denen sie im Urlaub gern mal für zwei Wochen nach
Italien, Spanien, Frankreich flüchten (für Hamburger tut es manchmal schon ein
Wochenendtrip nach München). Es geht nicht bloß ums Wetter, es geht um Urlaub vom
Protestantismus.
Diese Geschichte erklärt, wieso das kein Zufall ist: dass die Pfarrerstochter Angela
Merkel dieses Land regiert. Dass sie dabei die immer gleichen uniformartigen Blazer
trägt. Dass Finanzminister Wolfgang Schäuble der oberste Sparkommissar in der
Europäischen Union ist. Dass Deutschland der Welt den Discounter beschert hat, also
ein Supermarktkonzept mit kleinen Preisen, aber auch kleiner Auswahl und schlichter
Präsentation. Dass Deutsche, wenn sie doch mal viel Geld für Lebensmittel ausgeben,
dies eher nicht in Feinkostläden tun, sondern in Reformhäusern und Biosupermärkten,
in Läden also, die ökonomische Verschwendung und moralische Vernunft versöhnen.
Dass die grüne Partei bei uns so bedeutend ist wie in keinem anderen europäischen
Land. Dass Deutsche den Müll vorbildlich trennen und das Rauchen vielerorts verbieten.
Dass Deutsche so viel Wasser sparen, dass die Kanalisation zu wenig durchgespült wird.
Dass der Buchmarkt in Deutschland der zweitgrößte der Welt ist und die Buchmesse in
Frankfurt am Main die größte überhaupt. Dass deutsches Theater oft politisch und gern
pädagogisch ist, nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Dass allerorten Askese herrscht,
selbst in mancher Kunstausstellung.
Der Reformator Luther, das zeigt diese Geschichte, ist noch immer einer von uns. Er
prägt bis heute die deutsche Politik und die deutsche Moral, die deutsche Psyche und
den deutschen Geschmack, die Mode und die Esskultur, die Kunst, die Literatur, das
Theater.
Denn die Reformation, das war nicht einfach eine Kirchenreform, das war eine
Kulturrevolution: „Angesichts der Folgen der Reformation ist zu konstatieren, dass die
Reformidee für die deutsche Gesellschaft von größerer Bedeutung war als für die
Kirche“, schreiben die Schriftsteller Thea Dorn und Richard Wagner im Buch „Die
deutsche Seele“.
Von innen muss man sich diese deutsche Seele vorstellen wie eine evangelische Kirche:
schlicht und aufgeräumt, keine Extravaganzen, keine überflüssigen Ornamente.
Der Katholizismus kennt den Karneval und die Fastenzeit, eine Zeit des Frusts nach
übertriebener Freude, der Buße nach exzessiver Sünde; ein ritualisierter Kater.
Er kennt die Beichte, ein Ritual mit reinigender Kraft, er kannte den Ablasshandel, also
das Freikaufen von Sündenstrafen. All das hat Luther den Leuten ausgetrieben.
Regiert seit Luther das schlechte Gewissen?
Der Psychoanalytiker C. G. Jung fand: ja. „Der Protestant ist Gott allein anheim-
gegeben“, schrieb Jung, der selbst Sohn eines Pfarrers war, „er muss seine Sünden allein
verdauen.“ Dieser Tatsache sei es zu verdanken, „dass das protestantische Gewissen
wachsam geworden ist, und dieses schlechte Gewissen hat die unangenehmen
Eigenschaften einer schleichenden Krankheit“.
Theologen haben den Protestantismus eine „Gewissensreligion“ genannt, eine
„persönliche Überzeugungs- und Gesinnungs-religion“, die hohe ethische Ansprüche an
den Einzelnen stellt. Der Protestantismus: eine Individualisierungsmaschine mit
höllischen Folgen.
Luther lehnte die sogenannte Zweistufenethik ab, laut der Kleriker moralischer zu sein
hatten als normale Christen. Die Folge war eine doppelte, erklärt der Theologe Friedrich
Wilhelm Graf: „Die Welt wurde einerseits entklerikalisiert, von kirchlicher Fremd-
bestimmung befreit, andererseits religiös aufgewertet.“ Den wahren Gottesdienst sah
Luther nun nicht mehr in heiligen Handlungen, vollführt von geweihten Zeremonien-
meistern, sondern in der Erfüllung alltäglicher Pflichten, besonders im Beruf. Das ganze
Leben ein Gottesdienst.
Protestantisch geprägte bürgerliche Milieus waren laut Graf daher bald leistungs-
orientierter als katholische Gemeinwesen, ein Habitus rationaler Selbstdisziplinierung
machte sich breit, den der Soziologe Max Weber „innerweltliche Askese“ nannte. In
seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“
zielte Weber zwar vor allem auf die Lehren des Calvinismus und des Pietismus. Aber
auch Luther rühmte die Arbeit und geißelte die Faulheit: „Von Arbeit stirbt kein Mensch,
aber von Ledig und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der
Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen.“
Protestantische Gelehrte präsentierten sich seit dem 18. Jahrhundert gern als selbst-
mächtige Subjekte, die ihre Triebe im Griff haben. Den Katholiken und besonders dem
katholischen Klerus warfen sie Lüsternheit vor, zeichneten Bilder sittlichen Verfalls für
katholisch geprägte Länder wie Italien, Spanien, Frankreich.
Darin angelegt war schon das, was man Protestanten bis heute gern vorwirft:
Prinzipienreiterei und Selbstgerechtigkeit. „Alltagsprotestantismus kann manchmal
ganz schön anstrengend sein – der Hang nämlich, einander ungefragt zu erziehen“,
schreibt Eichel. Es ist der Hang, der heute in sozialen Netzwerken einen idealen Kanal
hat: Twitter und Facebook, das sind Paradiese für Menschen, die mit erhobenem
Zeigefinger durchs Leben laufen.
„Widerrufen will ich nicht. Gott helfe mir“, sagte Luther und machte die unbedingte
Überzeugung zur Leitlinie deutscher Politik. Indem er kirchliche Institutionen
theologisch abwertete, wertete er politische Institutionen religiös-moralisch auf. „Das
Moralisieren ist auf jeden Fall sehr protestantisch, die Bewertung von Politik unter
ethischen Gesichtspunkten“, sagt der Zeithistoriker Nolte. „Auch andere Länder haben
ihre Grenzwerte für Luftverschmutzung, aber sie verhandeln das viel nüchterner, nicht
mit einer solch moralischen Emphase wie wir.“ Es sei kein Zufall, dass die neuen
sozialen Bewegungen der Achtzigerjahre in Deutschland besonders stark gewesen seien.
„Die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraft-Proteste, die ökologische Wende: Das
waren Einfallstore für einen neuen protestantischen Geist in unserer Kultur.“ Diesem
Geist hat es die Partei der Grünen zu verdanken, dass sie hierzulande so bedeutend
werden konnte wie in fast keinem anderen Land: „Die Grünen verkörpern eine Politik
des schlechten Gewissens. Sie sind eine ungemein protestantische Partei.“
Luther ist der Religion mit Rationalität begegnet, er hat die Bibel ins Deutsche übersetzt
und für mehr Menschen lesbar gemacht, er hat die katholischen Gottesdienstrituale und
die Heiligenmagie, die bunten Bilder und prächtigen Gewänder, das Gold und den
Weihrauch, durch eine Kultur des Wortes ersetzt, im Zentrum die Predigt. Vernunft vor
Spiritualität, Sinn vor Sinnlichkeit: Das war das Programm. Der Schriftsteller Botho
Strauß ätzte einmal: „Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als
spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral.“
Luther verband Glauben und Bildung; den höchsten Titel, den er für sich selbst gelten
ließ, war der eines „Doktors der Heiligen Schrift“. In der lateinischen Messe hatte das
Textgemurmel der Gemeinde rituellen Charakter, im protestantischen Gottesdienst ging
es plötzlich darum, das Gesagte rational zu verstehen und auch einmal in Zweifel zu
ziehen.
Das führte dazu, dass Bildung zu einer Art profaner Religion aufstieg. „Selbstbilder der
besonderen Bildungsnähe des evangelischen Christentums haben vor allem in
Deutschland eine lange Tradition“, berichtet der Theologe Graf. Im 18. Jahrhundert
diente Protestantismus vielen Aufklärern als Leitbegriff für eine Lebensführung, die sich
bildungsbürgerlichen Werten verpflichtet wusste: Mündigkeit, Denkfreiheit, Kritik-
bereitschaft. Noch in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ermittelte das
Meinungsforschungsinstitut Allensbach, dass Protestanten deutlich mehr Bücher
kauften als Katholiken. Und heute? Fest steht, dass die Deutschen fleißige Leser sind:
Deutschland ist das Land mit dem zweitgrößten Buchmarkt der Welt, obwohl es nach
Einwohnern nur auf Platz 16 steht.
Interessanterweise haben sich Protestanten lange schwergetan mit dem Genre des
Romans. Als er im 18. Jahrhundert aufkam, beäugten sie ihn kritisch: zu unterhaltsam,
zu wenig mühsam. Ihnen ging es um die Moral von der Geschichte, nicht so sehr ums
Lesevergnügen. Die Romantiker stellten dem Roman daher die Novelle entgegen, ein
Genre mit protestantischen Tugenden: strenge Form, hartnäckige Botschaft. „Welcher
Deutsche lässt sich schon gern sagen, dass er ein Buch liest, allein um sich zu
unterhalten? Der deutsche Leser liest zwar nicht mit dem Bleistift in der Hand, aber im
Geist macht er sich Notizen“, schreiben Dorn und Wagner.
Luther erfand den deutschsprachigen Gemeindegesang, machte ihn zum Sprachrohr der
Verkündigung: „Mit Luther hörte die Musik auf, angenehme Zerstreuung oder frommes
Begleitgeräusch zu sein“, schreiben Dorn und Wagner. Es war der Beginn der typisch
deutschen Unterscheidung von E und U, Ernst und Unterhaltung. Ernste Musik, das ist
die Logik, soll wirklich ernst genommen werden. Sie hat eine quasireligiöse Bedeutung.
Die katholische Kirche mit ihren Heiligenbildern und Reliquienschreinen hatte den
Geist für die magische Kraft von Kunst gefördert, für das Geheimnisvolle, Rätselhafte,
das sich nicht auf eine Botschaft reduzieren lässt, für das oberflächlich Schöne auch, den
puren Genuss. Die drei großen Reformatoren des 16. Jahrhunderts waren hingegen
bilderskeptisch bis bilderfeindlich: In Zürich und Genf fanden Huldrych Zwingli und
Johannes Calvin, dass Kunstwerke in Kirchen nichts verloren hätten. Dem Wittenberger
Luther waren Bilder zwar willkommen, aber sie sollten unmissverständlich im Dienste
Gottes stehen – oder in dem der Reformation, so wie die Bilder seines Freundes und
Trauzeugen Lucas Cranach. Propaganda mit den Mitteln der Kunst.
Gute Kunst muss in Deutschland politisch sein, mehr als schöner Schein, gute Kunst ist
Kunst mit Botschaft – eine Vorstellung, die heute womöglich verbreiteter ist denn je.
Das Kunstpublikum wolle viel lieber seine überlegene Moral beweisen als seinen guten
Geschmack, lästert der Philosoph Robert Pfaller: „Die bildende Kunst ist in den letzten
beiden Jahrzehnten weitgehend asketisch, moralistisch, fad und oberlehrerhaft
geworden. Es gibt viel weniger extravagantes, verrücktes, buntes Zeug – und dafür viel
mehr Konzentration auf das Wort.“
Schon Luther empfahl, Bildern stets schriftliche Erklärungen und Kommentare
beizufügen, um ihren Sinn festzuschreiben, um sie rational lesbar zu machen, statt sie
nur andächtig zu verehren. Der Interpret ist, geistesgeschichtlich gesehen, ein
Protestant. „In Deutschland ist das Museum deshalb vor allem eine Bildungsstätte“,
schreibt die Buchautorin Eichel. „Lerneffekte sind beabsichtigt.“
Dass das auch für andere Kulturgenres gilt, wurde im vergangenen Jahr deutlich, als
gefühlt auch noch das letzte Theater meinte, politische Botschaften zur Flüchtlings-
problematik von der Bühne senden zu müssen. Das Selbstverständnis deutscher Stadt-
theater ist geprägt von zwei evangelischen Pfarrerssöhnen, die im 18. Jahrhundert
nacheinander Theaterreformen anstrengten. Johann Christoph Gottsched ging es um
Nützlichkeit statt Unterhaltung, um rationale Inhalte in schlichter Form. Gotthold
Ephraim Lessing forderte von Theatertexten sittliche Läuterung, nannte die Bühne seine
„Kanzel“, auf der er „predige“.
Gottsched und Lessing rückten die Sprache und den Logos ins Zentrum, eine klar
entschlüsselbare Botschaft. Die Basis des deutschsprachigen Stadttheaters ist seither
protestantisch. Wobei es natürlich bis heute regional unterschiedliche Traditionen gibt:
mehr Pomp in München und Wien, mehr Diskurs in Hamburg und Berlin.
Wenn Matthias Lilienthal, einer der gescheitesten Theaterdenker der Republik, ein Star
der Bühnenwelt, an den Münchner Kammerspielen zu scheitern droht, weil Zuschauer
fehlende Schauwerte beklagen, weil die „Süddeutsche Zeitung“ von „Pipifax-Theater“
schreibt, vom „Anspruch, erklärend, belehrend und gerne auch migrationshintergründig
sozial, global und politisch korrekt zu sein“, dann handelt es sich auch um den Konflikt
zwischen einer katholisch geprägten Stadtgesellschaft und einem kulturellen Prote-
stanten, der sein Abitur auf Berlins ältestem Gymnasium machte: dem Evangelischen
Gymnasium zum Grauen Kloster, einer Schule in Trägerschaft der Kirche.
Die größte Revolution, die auf Luther zurückgeht, zumindest die Revolution mit den
größten Folgen für die deutsche Geschichte, war die Abschaffung des Zölibats. Indem
Luther es Pastoren erlaubte, zu heiraten und Kinder zu bekommen, sorgte er dafür, dass
sie ihre Predigten fortan auch dort hielten, wo pädagogische Predigten traditionell die
größte Durchschlagskraft entfalten: in der Familie. Das Pfarrhaus als Keimzelle der
gottgefälligen Gesellschaft.
Auffallend viele Dichter und Denker gingen aus Pfarrersfamilien hervor, vor allem seit
Beginn des 18. Jahrhunderts, ein Who’s who der deutschen Kultur: die Komponisten
Michael Praetorius und Georg Philipp Telemann, die Schriftsteller Matthias Claudius,
Johann Christoph Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichtenberg,
Jean Paul und Hermann Hesse, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Historiker
Theodor Mommsen, der Archäologe Heinrich Schliemann, der Architekt Karl Friedrich
Schinkel, der Geologe Alfred Wegener, der Psychologe C. G. Jung.
Das Pfarrhaus habe „einen ganz bestimmten Typus von Begabungen gezüchtet“,
behauptete der Schriftsteller Gottfried Benn, selbst ein Pfarrerssohn, im Jahr 1934. Dort
konnte jener „Typ des Denkers entstehen, der zugleich Dichter oder des Dichters, der
zugleich Philosoph und Gelehrter ist“. Benn hielt das für typisch deutsch.
In ihrem Buch „Das deutsche Pfarrhaus“ sprach Christine Eichel von einem „kulturellen
Leuchtturm“. Es gibt sie bis heute, die bekannten Pfarrhauskinder: die Schriftsteller
Friedrich Christian Delius, Christoph Hein und Gabriele Wohmann, die Schauspieler
Peter Lohmeyer und Franz Dinda, den Fernsehregisseur und „Lindenstraßen“- Erfinder
Hans Wilhelm Geißendörfer. Und natürlich Spitzenpolitiker wie Sachsen-Anhalts
ehemaligen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner, Thüringens ehemalige
Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und Kanzlerin Angela Merkel.
Bevor sich Protestanten nun allzu selig fühlen: Auch der Nazi Horst Wessel wuchs in
einem Pfarrhaus auf. Und Gudrun Ensslin, Mitglied der RAF.
Es gibt dieses deutsche Sprichwort: „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder
nie. Wenn dann doch mal eins gerät, ist’s von erlesener Qualität.“ Der Schriftsteller
Benjamin von Stuckrad-Barre, selbst ein Pfarrerssohn, hat es für sich einmal so
formuliert: „Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller
liegt vermutlich irgendwo dazwischen.“
Was ist der Grund für diese auffallende Häufung großer Pfarrhaus-Persönlichkeiten?
Vor allem auf dem Land waren Pfarrer lange die einzigen Akademiker neben Ärzten und
Lehrern. Ein Bildungsbürgermilieu, wie es bildungsbürgerlicher nicht sein konnte.
Eichel, selbst Pfarrerstochter, erinnert sich an Ferienreisen im VW Käfer, auf denen
Eltern und Kinder stundenlang gemeinsam sangen – oder das Choralquiz spielten: Sie
ordneten den Autokennzeichen vorüberfahrender Wagen die Liednummern im Kirchen-
gesangbuch zu.
Man hat Luther und seine Frau, die ehemalige Nonne Katharina von Bora, die First
Family des Protestantismus genannt: ein Paar, das das gute, das richtige Leben vorlebte.
Pfarrersleute wurden zu Kulturträgern und Welterklärern, zu „Life Coaches“, schreibt
Eichel, „sie hatten auf fast alles eine Antwort“. So wie heute der Bestsellerautor Werner
Tiki Küstenmacher, ein ehemaliger Pfarrer, der das Buch „Simplify your life“ millionen-
fach verkaufte. Der Protestantismus habe seine Ratgeberphilosophie schon ein bisschen
geprägt, sagt er: „Luther wollte, dass jeder Christ selbst in der Bibel lesen kann, dass er
an sich und seinem Leben arbeitet.“ Leider würden viele „Simplify your life“ als strenge
Anleitung lesen, „wie eine Art weltlichen Katechismus“, ihm wäre es lieber, „sie täten es
mit der heiteren Gelassenheit des Glaubens, die ich von meinen katholischen Freunden
gelernt habe“.
Bis heute stehen evangelische Pastoren und Pastorinnen in der Tradition Luthers und
Katharina von Boras. Vorbilder für ihre Kinder, aber auch für ihre Gemeinden. Wer
nicht vorbildlich lebt, muss zumindest so tun. Es gilt, die Affekte zu kontrollieren und
die Fassade zu wahren. Was umso schwieriger ist, da das Pfarrhaus traditionell ein
offenes Haus ist, klingeln erwünscht. Oft ist das Gemeindebüro im selben Gebäude
untergebracht, ebenso ein Versammlungssaal, manchmal probt der Kirchenchor auch
gleich im Wohnzimmer, so wie im Elternhaus des Schriftstellers Stuckrad-Barre.
Bei Pfarrersleuten waren Berufs- und Privatleben schon vermischt, bevor der digitale
Kapitalismus das von allen anderen verlangte. Das gab dem Leistungsethos und dem
Pflichtbewusstsein, das der Protestantismus ohnehin fördert, noch einmal einen Schub.
Am Ort der Arbeit wohnen: Das müssen sonst nur Berufssoldaten. Pfarrhäuser sind
Familienunternehmen, in denen meist auch die Kinder Aufgaben und Verantwortung
übernehmen: das Gemeindeblatt austragen, bei Gemeindefesten musizieren, Kinder-
und Jugendkreise leiten. „Hilfesuchende, Bettler, Kranke, Studenten, unglückliche
Eheleute, alle klingelten in ihrer Not beim Pfarrer, und alle wurden eingelassen, und
wenn weder er noch sie im Hause war, saßen wie selbstverständlich wir Kinder da und
hörten uns traurige Geschichten an und versuchten zu trösten und weinten manchmal
mit“, berichtet Elke Heidenreich, die mit 15 als Pflegetochter in eine Pfarrersfamilie
kam.
Das Festhalten am Zölibat dürfte die katholische Kirche in Deutschland eine Menge
Macht und Einfluss gekostet haben, verstärkt dadurch, dass katholische Priester seit
einigen Jahrzehnten keine parteipolitischen Ämter oder Mandate mehr übernehmen
dürfen, anders als ihre Kollegen Protestanten. So ist der evangelische Pastor Peter
Hintze (CDU) zurzeit Vizepräsident des Deutschen Bundestags, ein Amt, das von 1994
bis 2005 auch die Pastorin Antje Vollmer (Grüne) innehatte.
Im ersten Kabinett Konrad Adenauers nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch 10 von
14 Ministern katholisch. Heute ist das anders, heute regiert Luther.
Innenminister Thomas de Maizière liest täglich Bibelverse und ist Mitglied im Präsidium
des Evangelischen Kirchentags, Gesundheitsminister Hermann Gröhe ist Mitglied der
Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Grünen-Fraktionsvorsitzende
Katrin Göring-Eckardt, einst Theologiestudentin, war jahrelang deren Vorsitzende.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier war bis vor Kurzem designierter Präsident des
Evangelischen Kirchentags 2019, nun wird er stattdessen Bundespräsident – als
Nachfolger des Pastors Joachim Gauck.
„Es ist sehr aufschlussreich, wohin sich das Amt des Bundespräsidenten entwickelt hat“,
sagt Zeithistoriker Nolte. Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog,
Johannes Rau, Joachim Gauck und nun Frank-Walter Steinmeier: alles Protestanten.
Nur Heinrich Lübke und der krachend gescheiterte Christian Wulff waren Katholiken.
Der Bundespräsident, sagt Nolte, sei „so etwas wie ein protestantischer Säkularbischof,
der uns pflichtgemäße Lebenshaltung vorführt“.
In Zeiten der Wirtschaftskrisen stehen protestantische Tugenden hoch im Kurs: Fleiß,
Sparsamkeit, Bescheidenheit. Es geht zwar niemand mehr in die Kirche, aber wer
hingeht, bekommt einen Vertrauensvorschuss.
In katholisch geprägten Ländern wie Frankreich und Italien sind gutes Essen und
schicke Mode nationale Kulturgüter, in Deutschland Sünde. Zumindest für öffentliche
Amtsträger. „Wer unter Luxusverdacht steht, riskiert seine politische Bonität“, schreibt
Eichel. Denken wir an den Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der sich im Wahlkampf
2013 über das zu mickrige Kanzlergehalt mokierte und bekannte, ein Pinot grigio, der
nur fünf Euro koste, komme ihm nicht ins Glas. Steinbrück verlor gegen Merkel, die
Pfarrerstochter.
Im Buch „Die deutsche Seele“ ist ein eigenes Kapitel dem Abendbrot gewidmet, der
traditionsdeutschen Stulle mit Wurst und Käse und gern noch einem Gürkchen oben-
drauf. „Es ist karg, es ist ein wenig pedantisch“, schreiben Dorn und Wagner, und doch
sei das Abendbrot einst sogar in den Salons der deutschen Aufklärer gereicht worden.
„Man wollte sich bewusst absetzen von den Abendschlemmereien in katholischen
Ländern.“
Inzwischen ist Verzicht in Deutschland längst wieder zur Modetugend geworden:
Vegetarismus, Veganismus, die Trends des sogenannten Clean Eating, dazu die Selbst-
vermessung und Selbstoptimierung per Smartphone-App, das Rauchverbot. Diese
„Verfemung unserer Genüsse“, sagt der Philosoph Robert Pfaller, die „unvernünftig
große Vernunft“, die den Tod mehr fürchte als das schlechte Leben, entspringe einem
religiösen Geist: „Die Feindseligkeit gegen das Magische, das Bezaubernde unserer
kleinen Freuden kommt nicht aus der Wissenschaft oder der Philosophie, sondern ist
begründet in der Magiefeindlichkeit der christlichen Religion.“
Nach allem, was man weiß, war Luther wohl ein Sinnenmensch, die anderen Reforma-
toren des 16. Jahrhunderts eher nicht. Um 1700 trieb der Pietist August Hermann
Francke dem Protestantismus den letzten Rest Lebenslust aus. Ein offizielles Abend-
essen in der Reichsstadt Schwäbisch Hall soll er verlassen haben, weil ihm die Tafel zu
üppig gedeckt erschien.
Ob das die neuen Asketen wissen?
„Asketische Programme werden heute oft von Leuten betrieben, die meinen, mit
Religion nichts am Hut zu haben“, sagt Pfaller. Aber der Protestantismus sei nun mal ein
Kulturphänomen: „Es gibt einen säkularen Protestantismus, der gar nicht weiß, dass er
einer ist.“ Die staatliche Bevormundung bei den Rauchverboten erinnere ihn an
klassisches Pfarrergehabe, „derselbe fanatische Moralismus zeigt sich auch in Bezug auf
den Gebrauch schmutziger Worte, anstößiger Bilder, das Essen von Fleisch“.
Luther habe den Apparaten des Katholizismus „ein Programm der Verinnerlichung“
entgegengesetzt, sagt Pfaller. „Das mag damals sinnvoll gewesen sein, seither aber ist
daraus ein Reflex entstanden, und so suchen viele nun ihre Freiheit, ihre Vernunft und
ihr Glück grundsätzlich in der Verinnerlichung“.
Schon die 68er-Bewegung sei stark von diesem „Sei ganz du selbst!“ geprägt gewesen.
Inzwischen führe die Verinnerlichung zu einer Verfemung jeglicher Materialität, deren
Folgen deutlich würden, wenn man in nicht protestantische Länder schaue: „Die sieg-
reiche französische Bourgeoisie hat sich die gediegene Küche des Adels und auch noch
einige andere seiner lustvollen Praktiken anzueignen vermocht, zum Beispiel seine
eleganten Umgangsformen.
In der jungen Sowjetunion erreichten die Frauen gleiche Löhne, wurden Traktor-
fahrerinnen und Pilotinnen, anstatt sich den Verzicht auf Stöckelschuhe als Befreiung
einreden zu lassen.“
Wer als Hamburger nach München reist, dem ist schon mal so, als läge dort Weihrauch
in der Luft. Das Essen ist besser, auch das Angebot in Bäckereien. Zur Mittagszeit staunt
der Hamburger, wenn er Anzugträger beobachtet, die bei einer halben Maß zusammen-
hocken: Oha, Alkohol während der Arbeitszeit! „Der Katholizismus war gnadenlos mit
den Häretikern“, sagt Pfaller, „aber er war stets milde mit den Sündern.“ Der
Protestantismus hingegen habe Rituale durch Verbote ersetzt, positive Kulte durch
negative: „Nur wenn man so gut wie nie feiert, kann man eine von sich selbst so
überzeugte Innerlichkeit aufbauen.“
Wenn sich die Karnevalisten in den katholisch geprägten Städten Köln oder Mainz nicht
um den Verstand trinken, dann winken sie sich um den Verstand. Ein Hamburger, heißt
es, winke fremden Menschen höchstens zu, wenn die auf einem Schiff stehen, das im
Hafen ablegt. Und ein Berliner? In Berlin stellte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm,
ein frommer evangelisch-reformierter Vorzeigeprotestant, den Karneval einst unter
Strafe. Das Fest erholte sich davon nie wieder.
Was all das wohl für das Lutherjahr bedeutet und für die Feierlichkeiten zu 500 Jahren
Protestantismus? Gibt es die Chance auf ein rauschendes Fest?
Martin Luther liebte üppiges Essen, gesellige Gelage und das selbst gebraute Bier seiner
Frau, von Diäten hielt er überhaupt nichts.
Aber Luther war auch noch katholisch sozialisiert.
Quelle: DER SPIEGEL, 48/2016
http://telegram.bookhouse.me/Englishmagazines/Der_Spiegel_26_November_2016@englishmagazines.pdf