Siegfried Trapp
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Deutsche Protestantische Republik Luther ist einer von uns. Er prägt bis heute Politik und Moral, Mode und Kultur – und sogar die Essgewohnheiten. Von Tobias Becker Das vereinte Deutschland ist in seiner Substanz kein christlich geprägtes Land, es ist weder katholisch noch protestantisch“, schrieb ein Autor 1991 im SPIEGEL – und fügte an: „Christlich ist allein die Kirchensteuer.“ Es war ein begnadeter Sarkast, sein Name Rudolf Augstein, der Hausheilige des SPIEGEL, und Hausheilige irren nie, erst recht nicht in Fragen der Religion. Oder doch? Von heute aus betrachtet ist Augsteins Aussage zunächst noch einleuchtender als damals: Die katholische Kirche hat seit der Wende mehr als 3,5 Millionen Menschen verloren, die evangelische Kirche gar über 5 Millionen. Nicht einmal zwei Drittel der Deutschen sind noch Mitglied in einer Kirche. Und die, die es noch sind, gehen sonntags seltener hin. Ja, sogar der Anteil derer sinkt, die sich kirchlich bestatten lassen, die also wenigstens im Angesicht des Todes Halt suchen im christlichen Glauben und im kirch- lichen Ritus. Die Lutherstadt Wittenberg, im Lutherjahr so etwas wie ein evangelischer Wallfahrtsort, ist eine der säkularsten Städte des Kontinents: Nur ungefähr 15 Prozent der Bewohner sind Christen. Man könnte glauben, im Lutherjahr feiere sich eine sterbende Institution. Die großen Kulturkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken sind überwunden: Welche Konfession ihr Nachbar oder ihr Kollege hat, ist den meisten schnuppe. Nicht mal die Mischehe schreckt noch: Etwa ein Drittel der deutschen Paare, die kirchlich heiraten, gehört verschiedenen Kirchen an. Es ist mehr als 40 Jahre her, dass der Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen Verhaltensweisen ermittelte, die typisch waren für die Angehörigen der unterschiedlichen Konfessionen. Protestanten führten eher Haushaltsbücher als Katholiken, hielten mehr Ordnung, nahmen die Körperhygiene ernster, machten höhere Bildungsabschlüsse, lasen und arbeiteten mehr, begingen häufiger Selbstmord. Ähnlich grundlegende Untersuchungen neueren Datums scheint es nicht zu geben, „die konfessionellen Unterschiede haben sich im Alltagsleben verwischt“, schrieb die Journalistin Christine Eichel 2015 in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“. Hat der Protestantismus im Lutherjahr also überhaupt noch Einfluss auf unsere Gesellschaft? „Das Wörtchen noch stört mich“, sagt der Zeithistoriker Paul Nolte, der auch Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin ist. „Deutschland ist protestantischer geworden in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten.“ Ist das plausibel, in einer zunehmend säkularen Gesellschaft? „So säkular wie oft angenommen ist unsere Gesellschaft nicht“, sagt der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf und verweist auf annähernd 1,3 Millionen Menschen, die in Deutschland hauptamtlich für die Kirchen und ihre Sozialwerke arbeiten, für Diakonie und Caritas. „Die Kirchen haben großen politischen  Einfluss, allein schon weil sie die zentralen Akteure im Sozialstaatssystem sind.“ Noch entscheidender sei aber dies: „Wer austritt, behält oft ein protestantisches Selbstverständnis.“ Ganz im Sinne des ver- storbenen Publizisten Klaus Harpprecht: „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ein Christ bin“, sagte der. „Dass ich Protestant bin, das weiß ich allerdings!“ Protestantismus nicht als Glaubens-, sondern als Geistes- haltung, als Art zu fühlen, zu denken, zu leben. Auch bei Katholiken findet sie sich, selbst bei Atheisten, besonders in Deutschland. Das protestantische Ideal verantwortungs-voller, pflichtbewusster Lebensführung, fußend auf freien, individuellen Entscheidungen, habe im Land Luthers einen Menschentypus geformt, schreibt Eichel: den Deutschen. Was heute als typisch deutsch gilt, das sei früher typisch  protestantisch gewesen: Fleiß, Pflichtbewusstsein, Sparsamkeit, Affektkontrolle, Rationalität, Leselust, Musikbegeisterung. Die Deutsche Protestantische Republik. Auf Luther und die anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts lässt sich vieles zurückführen: die Tugenden, auf die die Deutschen stolz sind, aber auch die Zwänge, die ihnen peinlich sind – und vor denen sie im Urlaub gern mal für zwei Wochen nach Italien, Spanien, Frankreich flüchten (für Hamburger tut es manchmal schon ein Wochenendtrip nach München). Es geht nicht bloß ums Wetter, es geht um Urlaub vom Protestantismus. Diese Geschichte erklärt, wieso das kein Zufall ist: dass die Pfarrerstochter Angela Merkel dieses Land regiert. Dass sie dabei die immer gleichen uniformartigen Blazer trägt. Dass Finanzminister Wolfgang Schäuble der oberste Sparkommissar in der Europäischen Union ist. Dass Deutschland der Welt den Discounter beschert hat, also ein Supermarktkonzept mit kleinen Preisen, aber auch kleiner Auswahl und schlichter Präsentation. Dass Deutsche, wenn sie doch mal viel Geld für Lebensmittel ausgeben, dies eher nicht in Feinkostläden tun, sondern in Reformhäusern und Biosupermärkten, in Läden also, die ökonomische Verschwendung und moralische Vernunft versöhnen. Dass die grüne Partei bei uns so bedeutend ist wie in keinem anderen europäischen Land. Dass Deutsche den Müll vorbildlich trennen und das Rauchen vielerorts verbieten. Dass Deutsche so viel Wasser sparen, dass die Kanalisation zu wenig durchgespült wird. Dass der Buchmarkt in Deutschland der zweitgrößte der Welt ist und die Buchmesse in Frankfurt am Main die größte überhaupt. Dass deutsches Theater oft politisch und gern pädagogisch ist, nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Dass allerorten Askese herrscht, selbst in mancher Kunstausstellung. Der Reformator Luther, das zeigt diese Geschichte, ist noch immer einer von uns. Er prägt bis heute die deutsche Politik und die deutsche Moral, die deutsche Psyche und den deutschen Geschmack, die Mode und die Esskultur, die Kunst, die Literatur, das Theater. Denn die Reformation, das war nicht einfach eine Kirchenreform, das war eine Kulturrevolution: „Angesichts der Folgen der Reformation ist zu konstatieren, dass die Reformidee für die deutsche Gesellschaft von größerer Bedeutung war als für die Kirche“, schreiben die Schriftsteller Thea Dorn und Richard Wagner im Buch „Die deutsche Seele“. Von innen muss man sich diese deutsche Seele vorstellen wie eine evangelische Kirche: schlicht und aufgeräumt, keine Extravaganzen, keine überflüssigen Ornamente. Der Katholizismus kennt den Karneval und die Fastenzeit, eine Zeit des Frusts nach übertriebener Freude, der Buße nach exzessiver Sünde; ein ritualisierter Kater. Er kennt die Beichte, ein Ritual mit reinigender Kraft, er kannte den Ablasshandel, also das Freikaufen von Sündenstrafen. All das hat Luther den Leuten ausgetrieben. Regiert seit Luther das schlechte Gewissen? Der Psychoanalytiker C. G. Jung fand: ja. „Der Protestant ist Gott allein anheim- gegeben“, schrieb Jung, der selbst Sohn eines Pfarrers war, „er muss seine Sünden allein verdauen.“ Dieser Tatsache sei es zu verdanken, „dass das protestantische Gewissen wachsam geworden ist, und dieses schlechte Gewissen hat die unangenehmen Eigenschaften einer schleichenden Krankheit“. Theologen haben den Protestantismus eine „Gewissensreligion“ genannt, eine „persönliche Überzeugungs- und Gesinnungs-religion“, die hohe ethische Ansprüche an den Einzelnen stellt. Der Protestantismus: eine Individualisierungsmaschine mit höllischen Folgen. Luther lehnte die sogenannte Zweistufenethik ab, laut der Kleriker moralischer zu sein hatten als normale Christen. Die Folge war eine doppelte, erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf: „Die Welt wurde einerseits entklerikalisiert, von kirchlicher Fremd- bestimmung befreit, andererseits religiös aufgewertet.“ Den wahren Gottesdienst sah Luther nun nicht mehr in heiligen Handlungen, vollführt von geweihten Zeremonien- meistern, sondern in der Erfüllung alltäglicher Pflichten, besonders im Beruf. Das ganze Leben ein Gottesdienst. Protestantisch geprägte bürgerliche Milieus waren laut Graf daher bald leistungs- orientierter als katholische Gemeinwesen, ein Habitus rationaler Selbstdisziplinierung machte sich breit, den der Soziologe Max Weber „innerweltliche Askese“ nannte. In seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ zielte Weber zwar vor allem auf die Lehren des Calvinismus und des Pietismus. Aber auch Luther rühmte die Arbeit und geißelte die Faulheit: „Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber von Ledig und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen.“ Protestantische Gelehrte präsentierten sich seit dem 18. Jahrhundert gern als selbst- mächtige Subjekte, die ihre Triebe im Griff haben. Den Katholiken und besonders dem katholischen Klerus warfen sie Lüsternheit vor, zeichneten Bilder sittlichen Verfalls für katholisch geprägte Länder wie Italien, Spanien, Frankreich. Darin angelegt war schon das, was man Protestanten bis heute gern vorwirft: Prinzipienreiterei und Selbstgerechtigkeit. „Alltagsprotestantismus kann manchmal ganz schön anstrengend sein – der Hang nämlich, einander ungefragt zu erziehen“, schreibt Eichel. Es ist der Hang, der heute in sozialen Netzwerken einen idealen Kanal hat: Twitter und Facebook, das sind Paradiese für Menschen, die mit erhobenem Zeigefinger durchs Leben laufen. „Widerrufen will ich nicht. Gott helfe mir“, sagte Luther und machte die unbedingte Überzeugung zur Leitlinie deutscher Politik. Indem er kirchliche Institutionen theologisch abwertete, wertete er politische Institutionen religiös-moralisch auf. „Das Moralisieren ist auf jeden Fall sehr protestantisch, die Bewertung von Politik unter ethischen Gesichtspunkten“, sagt der Zeithistoriker Nolte. „Auch andere Länder haben ihre Grenzwerte für Luftverschmutzung, aber sie verhandeln das viel nüchterner, nicht mit einer solch moralischen Emphase wie wir.“ Es sei kein Zufall, dass die neuen sozialen Bewegungen der Achtzigerjahre in Deutschland besonders stark gewesen seien. „Die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraft-Proteste, die ökologische Wende: Das waren Einfallstore für einen neuen protestantischen Geist in unserer Kultur.“ Diesem Geist hat es die Partei der Grünen zu verdanken, dass sie hierzulande so bedeutend werden konnte wie in fast keinem anderen Land: „Die Grünen verkörpern eine Politik des schlechten Gewissens. Sie sind eine ungemein protestantische Partei.“ Luther ist der Religion mit Rationalität begegnet, er hat die Bibel ins Deutsche übersetzt und für mehr Menschen lesbar gemacht, er hat die katholischen Gottesdienstrituale und die Heiligenmagie, die bunten Bilder und prächtigen Gewänder, das Gold und den Weihrauch, durch eine Kultur des Wortes ersetzt, im Zentrum die Predigt. Vernunft vor Spiritualität, Sinn vor Sinnlichkeit: Das war das Programm. Der Schriftsteller Botho Strauß ätzte einmal: „Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral.“ Luther verband Glauben und Bildung; den höchsten Titel, den er für sich selbst gelten ließ, war der eines „Doktors der Heiligen Schrift“. In der lateinischen Messe hatte das Textgemurmel der Gemeinde rituellen Charakter, im protestantischen Gottesdienst ging es plötzlich darum, das Gesagte rational zu verstehen und auch einmal in Zweifel zu ziehen. Das führte dazu, dass Bildung zu einer Art profaner Religion aufstieg. „Selbstbilder der besonderen Bildungsnähe des evangelischen Christentums haben vor allem in Deutschland eine lange Tradition“, berichtet der Theologe Graf. Im 18. Jahrhundert diente Protestantismus vielen Aufklärern als Leitbegriff für eine Lebensführung, die sich bildungsbürgerlichen Werten verpflichtet wusste: Mündigkeit, Denkfreiheit, Kritik- bereitschaft. Noch in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Allensbach, dass Protestanten deutlich mehr Bücher kauften als Katholiken. Und heute? Fest steht, dass die Deutschen fleißige Leser sind: Deutschland ist das Land mit dem zweitgrößten Buchmarkt der Welt, obwohl es nach Einwohnern nur auf Platz 16 steht. Interessanterweise haben sich Protestanten lange schwergetan mit dem Genre des Romans. Als er im 18. Jahrhundert aufkam, beäugten sie ihn kritisch: zu unterhaltsam, zu wenig mühsam. Ihnen ging es um die Moral von der Geschichte, nicht so sehr ums Lesevergnügen. Die Romantiker stellten dem Roman daher die Novelle entgegen, ein Genre mit protestantischen Tugenden: strenge Form, hartnäckige Botschaft. „Welcher Deutsche lässt sich schon gern sagen, dass er ein Buch liest, allein um sich zu unterhalten? Der deutsche Leser liest zwar nicht mit dem Bleistift in der Hand, aber im Geist macht er sich Notizen“, schreiben Dorn und Wagner. Luther erfand den deutschsprachigen Gemeindegesang, machte ihn zum Sprachrohr der Verkündigung: „Mit Luther hörte die Musik auf, angenehme Zerstreuung oder frommes Begleitgeräusch zu sein“, schreiben Dorn und Wagner. Es war der Beginn der typisch deutschen Unterscheidung von E und U, Ernst und Unterhaltung. Ernste Musik, das ist die Logik, soll wirklich ernst genommen werden. Sie hat eine quasireligiöse Bedeutung. Die katholische Kirche mit ihren Heiligenbildern und Reliquienschreinen hatte den Geist für die magische Kraft von Kunst gefördert, für das Geheimnisvolle, Rätselhafte, das sich nicht auf eine Botschaft reduzieren lässt, für das oberflächlich Schöne auch, den puren Genuss. Die drei großen Reformatoren des 16. Jahrhunderts waren hingegen bilderskeptisch bis bilderfeindlich: In Zürich und Genf fanden Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, dass Kunstwerke in Kirchen nichts verloren hätten. Dem Wittenberger Luther waren Bilder zwar willkommen, aber sie sollten unmissverständlich im Dienste Gottes stehen – oder in dem der Reformation, so wie die Bilder seines Freundes und Trauzeugen Lucas Cranach. Propaganda mit den Mitteln der Kunst. Gute Kunst muss in Deutschland politisch sein, mehr als schöner Schein, gute Kunst ist Kunst mit Botschaft – eine Vorstellung, die heute womöglich verbreiteter ist denn je. Das Kunstpublikum wolle viel lieber seine überlegene Moral beweisen als seinen guten Geschmack, lästert der Philosoph Robert Pfaller: „Die bildende Kunst ist in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend asketisch, moralistisch, fad und oberlehrerhaft geworden. Es gibt viel weniger extravagantes, verrücktes, buntes Zeug – und dafür viel mehr Konzentration auf das Wort.“ Schon Luther empfahl, Bildern stets schriftliche Erklärungen und Kommentare beizufügen, um ihren Sinn festzuschreiben, um sie rational lesbar zu machen, statt sie nur andächtig zu verehren. Der Interpret ist, geistesgeschichtlich gesehen, ein Protestant. „In Deutschland ist das Museum deshalb vor allem eine Bildungsstätte“, schreibt die Buchautorin Eichel. „Lerneffekte sind beabsichtigt.“ Dass das auch für andere Kulturgenres gilt, wurde im vergangenen Jahr deutlich, als gefühlt auch noch das letzte Theater meinte, politische Botschaften zur Flüchtlings- problematik von der Bühne senden zu müssen. Das Selbstverständnis deutscher Stadt- theater ist geprägt von zwei evangelischen Pfarrerssöhnen, die im 18. Jahrhundert nacheinander Theaterreformen anstrengten. Johann Christoph Gottsched ging es um Nützlichkeit statt Unterhaltung, um rationale Inhalte in schlichter Form. Gotthold Ephraim Lessing forderte von Theatertexten sittliche Läuterung, nannte die Bühne seine „Kanzel“, auf der er „predige“. Gottsched und Lessing rückten die Sprache und den Logos ins Zentrum, eine klar entschlüsselbare Botschaft. Die Basis des deutschsprachigen Stadttheaters ist seither protestantisch. Wobei es natürlich bis heute regional unterschiedliche Traditionen gibt: mehr Pomp in München und Wien, mehr Diskurs in Hamburg und Berlin. Wenn Matthias Lilienthal, einer der gescheitesten Theaterdenker der Republik, ein Star der Bühnenwelt, an den Münchner Kammerspielen zu scheitern droht, weil Zuschauer fehlende Schauwerte beklagen, weil die „Süddeutsche Zeitung“ von „Pipifax-Theater“ schreibt, vom „Anspruch, erklärend, belehrend und gerne auch migrationshintergründig sozial, global und politisch korrekt zu sein“, dann handelt es sich auch um den Konflikt zwischen einer katholisch geprägten Stadtgesellschaft und einem kulturellen Prote- stanten, der sein Abitur auf Berlins ältestem Gymnasium machte: dem Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster, einer Schule in Trägerschaft der Kirche. Die größte Revolution, die auf Luther zurückgeht, zumindest die Revolution mit den größten Folgen für die deutsche Geschichte, war die Abschaffung des Zölibats. Indem Luther es Pastoren erlaubte, zu heiraten und Kinder zu bekommen, sorgte er dafür, dass sie ihre Predigten fortan auch dort hielten, wo pädagogische Predigten traditionell die größte Durchschlagskraft entfalten: in der Familie. Das Pfarrhaus als Keimzelle der gottgefälligen Gesellschaft. Auffallend viele Dichter und Denker gingen aus Pfarrersfamilien hervor, vor  allem seit Beginn des 18. Jahrhunderts, ein Who’s who der deutschen Kultur: die Komponisten Michael Praetorius und Georg Philipp Telemann, die Schriftsteller Matthias Claudius, Johann Christoph Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichtenberg, Jean Paul und  Hermann Hesse, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Historiker Theodor Mommsen, der Archäologe Heinrich Schliemann, der Architekt Karl Friedrich Schinkel, der Geologe Alfred Wegener, der Psychologe C. G. Jung. Das Pfarrhaus habe „einen ganz bestimmten Typus von Begabungen gezüchtet“, behauptete der Schriftsteller Gottfried Benn, selbst ein Pfarrerssohn, im Jahr 1934. Dort konnte jener „Typ des Denkers entstehen, der zugleich Dichter oder des Dichters, der zugleich Philosoph und Gelehrter ist“. Benn hielt das für typisch deutsch. In ihrem Buch „Das deutsche Pfarrhaus“ sprach Christine Eichel von einem „kulturellen Leuchtturm“. Es gibt sie bis heute, die bekannten Pfarrhauskinder: die Schriftsteller Friedrich Christian Delius, Christoph Hein und Gabriele Wohmann, die Schauspieler Peter Lohmeyer und Franz Dinda, den Fernsehregisseur und „Lindenstraßen“- Erfinder Hans Wilhelm Geißendörfer. Und natürlich Spitzenpolitiker wie Sachsen-Anhalts ehemaligen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner, Thüringens ehemalige Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und Kanzlerin Angela Merkel. Bevor sich Protestanten nun allzu selig fühlen: Auch der Nazi Horst Wessel wuchs in einem Pfarrhaus auf. Und Gudrun Ensslin, Mitglied der RAF. Es gibt dieses deutsche Sprichwort: „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie. Wenn dann doch mal eins gerät, ist’s von erlesener Qualität.“ Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, selbst ein Pfarrerssohn, hat es für sich einmal so formuliert: „Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen.“ Was ist der Grund für diese auffallende Häufung großer Pfarrhaus-Persönlichkeiten? Vor allem auf dem Land waren Pfarrer lange die einzigen Akademiker neben Ärzten und Lehrern. Ein Bildungsbürgermilieu, wie es bildungsbürgerlicher nicht sein konnte. Eichel, selbst Pfarrerstochter, erinnert sich an Ferienreisen im VW Käfer, auf denen Eltern und Kinder stundenlang gemeinsam sangen – oder das Choralquiz spielten: Sie ordneten den Autokennzeichen vorüberfahrender Wagen die Liednummern im Kirchen- gesangbuch zu. Man hat Luther und seine Frau, die ehemalige Nonne Katharina von Bora, die First Family des Protestantismus genannt: ein Paar, das das gute, das richtige Leben vorlebte. Pfarrersleute wurden zu Kulturträgern und Welterklärern, zu „Life Coaches“, schreibt Eichel, „sie hatten auf fast alles eine Antwort“. So wie heute der Bestsellerautor Werner Tiki Küstenmacher, ein ehemaliger Pfarrer, der das Buch „Simplify your life“ millionen- fach verkaufte. Der Protestantismus habe seine Ratgeberphilosophie schon ein bisschen geprägt, sagt er: „Luther wollte, dass jeder Christ selbst in der Bibel lesen kann, dass er an sich und seinem Leben arbeitet.“ Leider würden viele „Simplify your life“ als strenge Anleitung lesen, „wie eine Art weltlichen Katechismus“, ihm wäre es lieber, „sie täten es mit der heiteren Gelassenheit des Glaubens, die ich von meinen katholischen Freunden gelernt habe“. Bis heute stehen evangelische Pastoren und Pastorinnen in der Tradition Luthers und Katharina von Boras. Vorbilder für ihre Kinder, aber auch für ihre Gemeinden. Wer nicht vorbildlich lebt, muss zumindest so tun. Es gilt, die Affekte zu kontrollieren und die Fassade zu wahren. Was umso schwieriger ist, da das Pfarrhaus traditionell ein offenes Haus ist, klingeln erwünscht. Oft ist das Gemeindebüro im selben Gebäude untergebracht, ebenso ein Versammlungssaal, manchmal probt der Kirchenchor auch gleich im Wohnzimmer, so wie im Elternhaus des Schriftstellers Stuckrad-Barre. Bei Pfarrersleuten waren Berufs- und Privatleben schon vermischt, bevor der digitale Kapitalismus das von allen anderen verlangte. Das gab dem Leistungsethos und dem Pflichtbewusstsein, das der Protestantismus ohnehin fördert, noch einmal einen Schub. Am Ort der Arbeit wohnen: Das müssen sonst nur Berufssoldaten. Pfarrhäuser sind Familienunternehmen, in denen meist auch die Kinder Aufgaben und Verantwortung übernehmen: das Gemeindeblatt austragen, bei Gemeindefesten musizieren, Kinder- und Jugendkreise leiten. „Hilfesuchende, Bettler, Kranke, Studenten, unglückliche Eheleute, alle klingelten in ihrer Not beim Pfarrer, und alle wurden eingelassen, und wenn weder er noch sie im Hause war, saßen wie selbstverständlich wir Kinder da und hörten uns traurige Geschichten an und versuchten zu trösten und weinten manchmal mit“, berichtet Elke Heidenreich, die mit 15 als Pflegetochter in eine Pfarrersfamilie kam. Das Festhalten am Zölibat dürfte die katholische Kirche in Deutschland eine Menge Macht und Einfluss gekostet haben, verstärkt dadurch, dass katholische Priester seit einigen Jahrzehnten keine parteipolitischen Ämter oder Mandate mehr übernehmen dürfen, anders als ihre Kollegen Protestanten. So ist der evangelische Pastor Peter Hintze (CDU) zurzeit Vizepräsident des Deutschen Bundestags, ein Amt, das von 1994 bis 2005 auch die Pastorin Antje Vollmer (Grüne) innehatte. Im ersten Kabinett Konrad Adenauers nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch 10 von 14 Ministern katholisch. Heute ist das anders, heute regiert Luther. Innenminister Thomas de Maizière liest täglich Bibelverse und ist Mitglied im Präsidium des Evangelischen Kirchentags, Gesundheitsminister Hermann Gröhe ist Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, einst Theologiestudentin, war jahrelang deren Vorsitzende. Außenminister Frank-Walter Steinmeier war bis vor Kurzem designierter Präsident des Evangelischen Kirchentags 2019, nun wird er stattdessen Bundespräsident – als Nachfolger des Pastors Joachim Gauck. „Es ist sehr aufschlussreich, wohin sich das Amt des Bundespräsidenten entwickelt hat“, sagt Zeithistoriker Nolte. Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau, Joachim Gauck und nun Frank-Walter Steinmeier: alles Protestanten. Nur Heinrich Lübke und der krachend gescheiterte Christian Wulff waren Katholiken. Der Bundespräsident, sagt Nolte, sei „so etwas wie ein protestantischer Säkularbischof, der uns pflichtgemäße Lebenshaltung vorführt“. In Zeiten der Wirtschaftskrisen stehen protestantische Tugenden hoch im Kurs: Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit. Es geht zwar niemand mehr in die Kirche, aber wer hingeht, bekommt einen Vertrauensvorschuss. In katholisch geprägten Ländern wie Frankreich und Italien sind gutes Essen und schicke Mode nationale Kulturgüter, in Deutschland Sünde. Zumindest für öffentliche Amtsträger. „Wer unter Luxusverdacht steht, riskiert seine politische Bonität“, schreibt Eichel. Denken wir an den Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der sich im Wahlkampf 2013 über das zu mickrige Kanzlergehalt mokierte und bekannte, ein Pinot grigio, der nur fünf Euro koste, komme ihm nicht ins Glas. Steinbrück verlor gegen Merkel, die Pfarrerstochter. Im Buch „Die deutsche Seele“ ist ein eigenes Kapitel dem Abendbrot gewidmet, der traditionsdeutschen Stulle mit Wurst und Käse und gern noch einem Gürkchen oben- drauf. „Es ist karg, es ist ein wenig pedantisch“, schreiben Dorn und Wagner, und doch sei das Abendbrot einst sogar in den Salons der deutschen Aufklärer gereicht worden. „Man wollte sich bewusst absetzen von den Abendschlemmereien in katholischen Ländern.“ Inzwischen ist Verzicht in Deutschland längst wieder zur Modetugend geworden: Vegetarismus, Veganismus, die Trends des sogenannten Clean Eating, dazu die Selbst- vermessung und Selbstoptimierung per Smartphone-App, das Rauchverbot. Diese „Verfemung unserer Genüsse“, sagt der Philosoph Robert Pfaller, die „unvernünftig große Vernunft“, die den Tod mehr fürchte als das schlechte Leben, entspringe einem religiösen Geist: „Die Feindseligkeit gegen das Magische, das Bezaubernde unserer kleinen Freuden kommt nicht aus der Wissenschaft oder der Philosophie, sondern ist begründet in der Magiefeindlichkeit der christlichen Religion.“ Nach allem, was man weiß, war Luther wohl ein Sinnenmensch, die anderen Reforma- toren des 16. Jahrhunderts eher nicht. Um 1700 trieb der Pietist August Hermann Francke dem Protestantismus den letzten Rest Lebenslust aus. Ein offizielles Abend- essen in der Reichsstadt Schwäbisch Hall soll er verlassen haben, weil ihm die Tafel zu üppig gedeckt erschien. Ob das die neuen Asketen wissen? „Asketische Programme werden heute oft von Leuten betrieben, die meinen, mit Religion nichts am Hut zu haben“, sagt Pfaller. Aber der Protestantismus sei nun mal ein Kulturphänomen: „Es gibt einen säkularen Protestantismus, der gar nicht weiß, dass er einer ist.“ Die staatliche Bevormundung bei den Rauchverboten erinnere ihn an klassisches Pfarrergehabe, „derselbe fanatische Moralismus zeigt sich auch in Bezug auf den Gebrauch schmutziger Worte, anstößiger Bilder, das Essen von Fleisch“. Luther habe den Apparaten des Katholizismus „ein Programm der Verinnerlichung“ entgegengesetzt, sagt Pfaller. „Das mag damals sinnvoll gewesen sein, seither aber ist daraus ein Reflex entstanden, und so suchen viele nun ihre Freiheit, ihre Vernunft und ihr Glück grundsätzlich in der Verinnerlichung“. Schon die 68er-Bewegung sei stark von diesem „Sei ganz du selbst!“ geprägt gewesen. Inzwischen führe die Verinnerlichung zu einer Verfemung jeglicher Materialität, deren Folgen deutlich würden, wenn man in nicht protestantische Länder schaue: „Die sieg- reiche französische Bourgeoisie hat sich die gediegene Küche des Adels und auch noch einige andere seiner lustvollen Praktiken anzueignen vermocht, zum Beispiel seine eleganten Umgangsformen. In der jungen Sowjetunion erreichten die Frauen gleiche Löhne, wurden Traktor- fahrerinnen und  Pilotinnen, anstatt sich den Verzicht auf Stöckelschuhe als Befreiung einreden zu lassen.“ Wer als Hamburger nach München reist, dem ist schon mal so, als läge dort Weihrauch in der Luft. Das Essen ist besser, auch das Angebot in Bäckereien. Zur Mittagszeit staunt der Hamburger, wenn er Anzugträger beobachtet, die bei einer halben Maß zusammen- hocken: Oha, Alkohol während der Arbeitszeit! „Der Katholizismus war gnadenlos mit den Häretikern“, sagt Pfaller, „aber er war stets milde mit den Sündern.“ Der Protestantismus hingegen habe Rituale durch Verbote ersetzt, positive Kulte durch negative: „Nur wenn man so gut wie nie feiert, kann man eine von sich selbst so überzeugte Innerlichkeit aufbauen.“ Wenn sich die Karnevalisten in den katholisch geprägten Städten Köln oder Mainz nicht um den Verstand trinken, dann winken sie sich um den Verstand. Ein Hamburger, heißt es, winke fremden Menschen höchstens zu, wenn die auf einem Schiff stehen, das im Hafen ablegt. Und ein Berliner? In Berlin stellte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm, ein frommer evangelisch-reformierter Vorzeigeprotestant, den Karneval einst unter Strafe. Das Fest erholte sich davon nie wieder. Was all das wohl für das Lutherjahr bedeutet und für die Feierlichkeiten zu 500 Jahren Protestantismus? Gibt es die Chance auf ein rauschendes Fest? Martin Luther liebte üppiges Essen, gesellige Gelage und das selbst gebraute Bier seiner Frau, von Diäten hielt er überhaupt nichts. Aber Luther war auch noch katholisch sozialisiert. Quelle: DER SPIEGEL, 48/2016 http://telegram.bookhouse.me/Englishmagazines/Der_Spiegel_26_November_2016@englishmagazines.pdf
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Deutsche Protestantische Republik Luther ist einer von uns. Er prägt bis heute Politik und Moral, Mode und Kultur – und sogar die Essgewohnheiten. Von Tobias Becker Das vereinte Deutschland ist in seiner Substanz kein christlich geprägtes Land, es ist weder katholisch noch protestantisch“, schrieb ein Autor 1991 im SPIEGEL – und fügte an: „Christlich ist allein die Kirchensteuer.“ Es war ein begnadeter Sarkast, sein Name Rudolf Augstein, der Hausheilige des SPIEGEL, und Hausheilige irren nie, erst recht nicht in Fragen der Religion. Oder doch? Von heute aus betrachtet ist Augsteins Aussage zunächst noch einleuchtender als damals: Die katholische Kirche hat seit der Wende mehr als 3,5 Millionen Menschen verloren, die evangelische Kirche gar über 5 Millionen. Nicht einmal zwei Drittel der Deutschen sind noch Mitglied in einer Kirche. Und die, die es noch sind, gehen sonntags seltener hin. Ja, sogar der Anteil derer sinkt, die sich kirchlich bestatten lassen, die also wenigstens im Angesicht des Todes Halt suchen im christlichen Glauben und im kirch-lichen Ritus. Die Lutherstadt Wittenberg, im Lutherjahr so etwas wie ein evangelischer Wallfahrtsort, ist eine der säkularsten Städte des Kontinents: Nur ungefähr 15 Prozent der Bewohner sind Christen. Man könnte glauben, im Lutherjahr feiere sich eine sterbende Institution. Die großen Kulturkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken sind überwunden: Welche Konfession ihr Nachbar oder ihr Kollege hat, ist den meisten schnuppe. Nicht mal die Mischehe schreckt noch: Etwa ein Drittel der deutschen Paare, die kirchlich heiraten, gehört verschiedenen Kirchen an. Es ist mehr als 40 Jahre her, dass der Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen Verhaltensweisen ermittelte, die typisch waren für die Angehörigen der unterschiedlichen Konfessionen. Protestanten führten eher Haushaltsbücher als Katholiken, hielten mehr Ordnung, nahmen die Körperhygiene ernster, machten höhere Bildungsabschlüsse, lasen und arbeiteten mehr, begingen häufiger Selbstmord. Ähnlich grundlegende Untersuchungen neueren Datums scheint es nicht zu geben, „die konfessionellen Unterschiede haben sich im Alltagsleben verwischt“, schrieb die Journalistin Christine Eichel 2015 in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“. Hat der Protestantismus im Lutherjahr also überhaupt noch Einfluss auf unsere Gesellschaft? „Das Wörtchen noch stört mich“, sagt der Zeithistoriker Paul Nolte, der auch Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin ist. „Deutschland ist protestantischer geworden in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten.“ Ist das plausibel, in einer zunehmend säkularen Gesellschaft? „So säkular wie oft angenommen ist unsere Gesellschaft nicht“, sagt der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf und verweist auf annähernd 1,3 Millionen Menschen, die in Deutschland hauptamtlich für die Kirchen und ihre Sozialwerke arbeiten, für Diakonie und Caritas. „Die Kirchen haben großen politischen  Einfluss, allein schon weil sie die zentralen Akteure im Sozialstaatssystem sind.“ Noch entscheidender sei aber dies: „Wer austritt, behält oft ein protestantisches Selbstverständnis.“ Ganz im Sinne des ver- storbenen Publizisten Klaus Harpprecht: „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ein Christ bin“, sagte der. „Dass ich Protestant bin, das weiß ich allerdings!“ Protestantismus nicht als Glaubens-, sondern als Geisteshaltung, als Art zu fühlen, zu denken, zu leben. Auch bei Katholiken findet sie sich, selbst bei Atheisten, besonders in Deutschland. Das protestantische Ideal verantwortungs- voller, pflichtbewusster Lebensführung, fußend auf freien, individuellen Entscheidungen, habe im Land Luthers einen Menschentypus geformt, schreibt Eichel: den Deutschen. Was heute als typisch deutsch gilt, das sei früher typisch  protestantisch gewesen: Fleiß, Pflichtbewusstsein, Sparsamkeit, Affektkontrolle, Rationalität, Leselust, Musikbegeisterung. Die Deutsche Protestantische Republik. Auf Luther und die anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts lässt sich vieles zurückführen: die Tugenden, auf die die Deutschen stolz sind, aber auch die Zwänge, die ihnen peinlich sind – und vor denen sie im Urlaub gern mal für zwei Wochen nach Italien, Spanien, Frankreich flüchten (für Hamburger tut es manchmal schon ein Wochenendtrip nach München). Es geht nicht bloß ums Wetter, es geht um Urlaub vom Protestantismus. Diese Geschichte erklärt, wieso das kein Zufall ist: dass die Pfarrerstochter Angela Merkel dieses Land regiert. Dass sie dabei die immer gleichen uniformartigen Blazer trägt. Dass Finanzminister Wolfgang Schäuble der oberste Sparkommissar in der Europäischen Union ist. Dass Deutschland der Welt den Discounter beschert hat, also ein Supermarktkonzept mit kleinen Preisen, aber auch kleiner Auswahl und schlichter Präsentation. Dass Deutsche, wenn sie doch mal viel Geld für Lebensmittel ausgeben, dies eher nicht in Feinkostläden tun, sondern in Reformhäusern und Biosupermärkten, in Läden also, die ökonomische Verschwendung und moralische Vernunft versöhnen. Dass die grüne Partei bei uns so bedeutend ist wie in keinem anderen europäischen Land. Dass Deutsche den Müll vorbildlich trennen und das Rauchen vielerorts verbieten. Dass Deutsche so viel Wasser sparen, dass die Kanalisation zu wenig durchgespült wird. Dass der Buchmarkt in Deutschland der zweitgrößte der Welt ist und die Buchmesse in Frankfurt am Main die größte überhaupt. Dass deutsches Theater oft politisch und gern pädagogisch ist, nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Dass allerorten Askese herrscht, selbst in mancher Kunstausstellung. Der Reformator Luther, das zeigt diese Geschichte, ist noch immer einer von uns. Er prägt bis heute die deutsche Politik und die deutsche Moral, die deutsche Psyche und den deutschen Geschmack, die Mode und die Esskultur, die Kunst, die Literatur, das Theater. Denn die Reformation, das war nicht einfach eine Kirchenreform, das war eine Kulturrevolution: „Angesichts der Folgen der Reformation ist zu konstatieren, dass die Reformidee für die deutsche Gesellschaft von größerer Bedeutung war als für die Kirche“, schreiben die Schriftsteller Thea Dorn und Richard Wagner im Buch „Die deutsche Seele“. Von innen muss man sich diese deutsche Seele vorstellen wie eine evangelische Kirche: schlicht und aufgeräumt, keine Extravaganzen, keine überflüssigen Ornamente. Der Katholizismus kennt den Karneval und die Fastenzeit, eine Zeit des Frusts nach übertriebener Freude, der Buße nach exzessiver Sünde; ein ritualisierter Kater. Er kennt die Beichte, ein Ritual mit reinigender Kraft, er kannte den Ablasshandel, also das Freikaufen von Sündenstrafen. All das hat Luther den Leuten ausgetrieben. Regiert seit Luther das schlechte Gewissen? Der Psychoanalytiker C. G. Jung fand: ja. „Der Protestant ist Gott allein anheim- gegeben“, schrieb Jung, der selbst Sohn eines Pfarrers war, „er muss seine Sünden allein verdauen.“ Dieser Tatsache sei es zu verdanken, „dass das protestantische Gewissen wachsam geworden ist, und dieses schlechte Gewissen hat die unangenehmen Eigenschaften einer schleichenden Krankheit“. Theologen haben den Protestantismus eine „Gewissensreligion“ genannt, eine „persönliche Überzeugungs- und Gesinnungs-religion“, die hohe ethische Ansprüche an den Einzelnen stellt. Der Protestantismus: eine Individualisierungsmaschine mit höllischen Folgen. Luther lehnte die sogenannte Zweistufenethik ab, laut der Kleriker moralischer zu sein hatten als normale Christen. Die Folge war eine doppelte, erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf: „Die Welt wurde einerseits entklerikalisiert, von kirchlicher Fremd- bestimmung befreit, andererseits religiös aufgewertet.“ Den wahren Gottesdienst sah Luther nun nicht mehr in heiligen Handlungen, vollführt von geweihten Zeremonienmeistern, sondern in der Erfüllung alltäglicher Pflichten, besonders im Beruf. Das ganze Leben ein Gottesdienst. Protestantisch geprägte bürgerliche Milieus waren laut Graf daher bald leistungsorientierter als katholische Gemeinwesen, ein Habitus rationaler Selbstdisziplinierung machte sich breit, den der Soziologe Max Weber „innerweltliche Askese“ nannte. In seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ zielte Weber zwar vor allem auf die Lehren des Calvinismus und des Pietismus. Aber auch Luther rühmte die Arbeit und geißelte die Faulheit: „Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber von Ledig und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen.“ Protestantische Gelehrte präsentierten sich seit dem 18. Jahrhundert gern als selbst-mächtige Subjekte, die ihre Triebe im Griff haben. Den Katholiken und besonders dem katholischen Klerus warfen sie Lüsternheit vor, zeichneten Bilder sittlichen Verfalls für katholisch geprägte Länder wie Italien, Spanien, Frankreich. Darin angelegt war schon das, was man Protestanten bis heute gern vorwirft: Prinzipienreiterei und Selbstgerechtigkeit. „Alltagsprotestantismus kann manchmal ganz schön anstrengend sein – der Hang nämlich, einander ungefragt zu erziehen“, schreibt Eichel. Es ist der Hang, der heute in sozialen Netzwerken einen idealen Kanal hat: Twitter und Facebook, das sind Paradiese für Menschen, die mit erhobenem Zeigefinger durchs Leben laufen. „Widerrufen will ich nicht. Gott helfe mir“, sagte Luther und machte die unbedingte Überzeugung zur Leitlinie deutscher Politik. Indem er kirchliche Institutionen theologisch abwertete, wertete er politische Institutionen religiös-moralisch auf. „Das Moralisieren ist auf jeden Fall sehr protestantisch, die Bewertung von Politik unter ethischen Gesichtspunkten“, sagt der Zeithistoriker Nolte. „Auch andere Länder haben ihre Grenzwerte für Luftverschmutzung, aber sie verhandeln das viel nüchterner, nicht mit einer solch moralischen Emphase wie wir.“ Es sei kein Zufall, dass die neuen sozialen Bewegungen der Achtzigerjahre in Deutschland besonders stark gewesen seien. „Die Friedensbewegung, die Anti- Atomkraft-Proteste, die ökologische Wende: Das waren Einfallstore für einen neuen protestantischen Geist in unserer Kultur.“ Diesem Geist hat es die Partei der Grünen zu verdanken, dass sie hierzulande so bedeutend werden konnte wie in fast keinem anderen Land: „Die Grünen verkörpern eine Politik des schlechten Gewissens. Sie sind eine ungemein protestantische Partei.“ Luther ist der Religion mit Rationalität begegnet, er hat die Bibel ins Deutsche übersetzt und für mehr Menschen lesbar gemacht, er hat die katholischen Gottesdienstrituale und die Heiligenmagie, die bunten Bilder und prächtigen Gewänder, das Gold und den Weihrauch, durch eine Kultur des Wortes ersetzt, im Zentrum die Predigt. Vernunft vor Spiritualität, Sinn vor Sinnlichkeit: Das war das Programm. Der Schriftsteller Botho Strauß ätzte einmal: „Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral.“ Luther verband Glauben und Bildung; den höchsten Titel, den er für sich selbst gelten ließ, war der eines „Doktors der Heiligen Schrift“. In der lateinischen Messe hatte das Textgemurmel der Gemeinde rituellen Charakter, im protestantischen Gottesdienst ging es plötzlich darum, das Gesagte rational zu verstehen und auch einmal in Zweifel zu ziehen. Das führte dazu, dass Bildung zu einer Art profaner Religion aufstieg. „Selbstbilder der besonderen Bildungsnähe des evangelischen Christentums haben vor allem in Deutschland eine lange Tradition“, berichtet der Theologe Graf. Im 18. Jahrhundert diente Protestantismus vielen Aufklärern als Leitbegriff für eine Lebensführung, die sich bildungsbürgerlichen Werten verpflichtet wusste: Mündigkeit, Denkfreiheit, Kritikbereitschaft. Noch in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Allensbach, dass Protestanten deutlich mehr Bücher kauften als Katholiken. Und heute? Fest steht, dass die Deutschen fleißige Leser sind: Deutschland ist das Land mit dem zweitgrößten Buchmarkt der Welt, obwohl es nach Einwohnern nur auf Platz 16 steht. Interessanterweise haben sich Protestanten lange schwergetan mit dem Genre des Romans. Als er im 18. Jahrhundert aufkam, beäugten sie ihn kritisch: zu unterhaltsam, zu wenig mühsam. Ihnen ging es um die Moral von der Geschichte, nicht so sehr ums Lesevergnügen. Die Romantiker stellten dem Roman daher die Novelle entgegen, ein Genre mit protestantischen Tugenden: strenge Form, hartnäckige Botschaft. „Welcher Deutsche lässt sich schon gern sagen, dass er ein Buch liest, allein um sich zu unterhalten? Der deutsche Leser liest zwar nicht mit dem Bleistift in der Hand, aber im Geist macht er sich Notizen“, schreiben Dorn und Wagner. Luther erfand den deutschsprachigen Gemeindegesang, machte ihn zum Sprachrohr der Verkündigung: „Mit Luther hörte die Musik auf, angenehme Zerstreuung oder frommes Begleitgeräusch zu sein“, schreiben Dorn und Wagner. Es war der Beginn der typisch deutschen Unterscheidung von E und U, Ernst und Unterhaltung. Ernste Musik, das ist die Logik, soll wirklich ernst genommen werden. Sie hat eine quasireligiöse Bedeutung. Die katholische Kirche mit ihren Heiligenbildern und Reliquienschreinen hatte den Geist für die magische Kraft von Kunst gefördert, für das Geheimnisvolle, Rätselhafte, das sich nicht auf eine Botschaft reduzieren lässt, für das oberflächlich Schöne auch, den puren Genuss. Die drei großen Reformatoren des 16. Jahrhunderts waren hingegen bilderskeptisch bis bilderfeindlich: In Zürich und Genf fanden Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, dass Kunstwerke in Kirchen nichts verloren hätten. Dem Wittenberger Luther waren Bilder zwar willkommen, aber sie sollten unmissverständlich im Dienste Gottes stehen – oder in dem der Reformation, so wie die Bilder seines Freundes und Trauzeugen Lucas Cranach. Propaganda mit den Mitteln der Kunst. Gute Kunst muss in Deutschland politisch sein, mehr als schöner Schein, gute Kunst ist Kunst mit Botschaft – eine Vorstellung, die heute womöglich verbreiteter ist denn je. Das Kunstpublikum wolle viel lieber seine überlegene Moral beweisen als seinen guten Geschmack, lästert der Philosoph Robert Pfaller: „Die bildende Kunst ist in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend asketisch, moralistisch, fad und oberlehrerhaft geworden. Es gibt viel weniger extravagantes, verrücktes, buntes Zeug – und dafür viel mehr Konzentration auf das Wort.“ Schon Luther empfahl, Bildern stets schriftliche Erklärungen und Kommentare beizufügen, um ihren Sinn festzuschreiben, um sie rational lesbar zu machen, statt sie nur andächtig zu verehren. Der Interpret ist, geistesgeschichtlich gesehen, ein Protestant. „In Deutschland ist das Museum deshalb vor allem eine Bildungsstätte“, schreibt die Buchautorin Eichel. „Lerneffekte sind beabsichtigt.“ Dass das auch für andere Kulturgenres gilt, wurde im vergangenen Jahr deutlich, als gefühlt auch noch das letzte Theater meinte, politische Botschaften zur Flüchtlings-problematik von der Bühne senden zu müssen. Das Selbstverständnis deutscher Stadt-theater ist geprägt von zwei evangelischen Pfarrerssöhnen, die im 18. Jahrhundert nacheinander Theaterreformen anstrengten. Johann Christoph Gottsched ging es um Nützlichkeit statt Unterhaltung, um rationale Inhalte in schlichter Form. Gotthold Ephraim Lessing forderte von Theatertexten sittliche Läuterung, nannte die Bühne seine „Kanzel“, auf der er „predige“. Gottsched und Lessing rückten die Sprache und den Logos ins Zentrum, eine klar entschlüsselbare Botschaft. Die Basis des deutschsprachigen Stadttheaters ist seither protestantisch. Wobei es natürlich bis heute regional unterschiedliche Traditionen gibt: mehr Pomp in München und Wien, mehr Diskurs in Hamburg und Berlin.
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