Siegfried
Trapp
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[Ich zähle täglich meine Sorgen]
Der besorgte Bürger
Er trägt viele Gesichter.
Er ist das allgegenwärtige Phantom der deutschen Politik.
Ein Typus, der nie gegendert wird. Die besorgte Bürgerin, deren Schwestern in
den USA oder in Frankreich Trump oder Le Pen wählen, ist im öffentlichen
Diskurs nicht ausdrücklich gefragt. Aber wohl mitgemeint.
Es gibt noch ein paar andere Bezeichnungen. Früheres Beispiel: Wutbürger.
Neuerdings, als Gegenbild zum Weltbürger, zum Mitglied der angeblich
entwurzelten globalen Klasse wird auch der Heimatbürger ins bodenständige
Feld geführt. Tritt der besorgte Bürger mit fremdenfeindlichen Brüllern auf,
dann gehört er womöglich zum Mob oder Pack. Der besorgte Bürger ist da, ein
irgendwie rechts verorteter Mustermann samt deutscher Haus- oder Frontfrau.
Der besorgte Bürger multipliziert sich, macht seinerseits Bürger besorgt. Die
etablierten Parteien wollen ihn teils bekämpfen, teils gewinnen und mit seinen
Sorgen ernst nehmen. Allein, wo und wie kann man ihn fassen? Der Bürger an
sich ist nicht mehr dritter Stand, nach Adel und Klerus. Er bildet, bald ein
Vierteljahrtausend nach der Französischen Revolution und zweihundert Jahre
seit den Anfängen von Industrialisierung und Kapitalismus, heute den
gesellschaftlichen Mittelstand. Einschließlich der Arbeiter und Bauern. Und mit
eher fließenden Grenzen: nach oben hin zum in Deutschland fast
ausgestorbenen klassischen Großbürgertum und nach unten zu einem in fast
ganz Europa wieder wachsenden Prekariat. Diese neue alte Unterschicht,
gezeichnet von Arbeitslosigkeit oder der Abhängigkeit von Sozialleistungen,
heißt nicht mehr Proletariat. Sie entspringt zumeist selbst dem
mehrheitsgesellschaftlichen Bürgertum, das an seinen Rändern zunehmend von
Abstiegsängsten befallen ist.
Dass gerade in Deutschland mit seiner niedrigen Arbeitslosigkeit und seinem
relativ engmaschigen sozialstaatlichen Netz diese Sorgen oft auch
Phantomschmerzen sind, ändern nichts an ihrer Wirksamkeit. Auch
Einbildungen setzen Realität und ersetzen Bildung, genau wie populistische
Vereinfachungen und Desinformationen, die als solche entweder nicht erkannt
oder umso trotziger geglaubt werden. Manche, die Amerika nicht mögen und
auch nicht Trump, sind dennoch Trumpisten.
So berühren sich in der Sphäre des Populistischen, Populären und Emotionalen
auch Rechte und Linke. Gegenüber der globalen Klasse, die in Frankreich den
Namen „clique mondialiste“ trägt, sind sich rechts und links manchmal in ihrer
Uneinigkeit einig.
Vieles erweist sich, genau betrachtet, als widersprüchlich.
Typologisch kommt man daher dem besorgten Bürger in seiner Vielgestaltigkeit
nicht so leicht bei. Er markiert keine einheitliche Klasse oder Schicht. Vielmehr:
soziale Schichtungen, sozialpsychologische Gemengelagen.
In den meisten europäischen Staaten nehmen Forscher an, dass etwa 20 bis 25
Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger rechte, gegen eine offene
demokratische Gesellschaft gerichtete Einstellungen haben. Manche sind
Gefährliche Bürger. Doch die rabiaten Skins und die Rassisten mit den
Totschlägermienen von einst, die Wiedergänger der ewigen Spießer aus
Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ oder aus den Stücken von Ödön von
Horváth mit ihren vor 1933 noch nicht restlos entfesselten (Klein-)Bürgern vom
Münchner Oktoberfest oder dem Wiener Prater, sie sind heute klar in der
Minderheit. Die Berliner Republik ist nicht Weimar gestern, sie ist wirtschaftlich
stark, international verflochten, mit unabhängiger Justiz und Institutionen, die
von mehr als zwei Dritteln der Bundesbürger trotz punktueller Kritik mit
Überzeugung getragen werden.
Man spürt die allgemeine Verunsicherung. Menschen suchen Veränderung – und
scheuen sie zugleich. Das (wert)konservativ Bewahrende trifft auf den
womöglich reaktionären Reflex. Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck spricht in
seinem letzten, 2016 erschienenen Buch „Die Metamorphose der Welt“ von der
neuen „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, vom Nebeneinander des
„Neandertalers“ und des „Homo cosmopoliticus“. Sie kämpfen etwa in der
Migrationspolitik miteinander. Was aber, wenn die beklagte Spaltung der
Gesellschaft auch durch den Einzelnen geht? Der besorgte Bürger, soweit er
noch aus der Mitte kommt, trägt Becks Neandertaler und den Kosmopoliten in
sich, als Janusgesicht. Er ist auch: der gespaltene Bürger. Und beide Hälften
fragen unausgesprochen nach dem, was Joachim Meyerhoffs
Buchbestsellermotto fragt: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“
(1)
Immerzu geht es darum, mit diesen "besorgten Bürgern" in den Dialog zu
treten und ihre Sorgen und Nöte ernst zu nehmen.
Von vielen Politikern wird dieser Ansatz bis heute wie ein Mantra wiederholt –
ob nun aus Berechnung, Einfallslosigkeit oder Dummheit. Mit Debatte, mit
konstruktiver Auseinandersetzung ist diesen Leuten nicht beizukommen. Wer
anderer Meinung ist, steht für sie im toten Winkel – kein Wunder, bei dem
Tunnelblick.
Diese Menschen sind nicht zwangsläufig rechtsradikal, aber sie sind
Demokratiefeinde, Mitläufer und Verschwörungstheoretiker. Sie stehen auf
Demonstrationen neben Deppen, die den Hitlergruß zeigen, und unternehmen
nichts – sie nehmen es hin und machen sich also mindestens mitschuldig an der
gefährlichen Gemengelage.
Aber die Menschen, die wir so oft fälschlicherweise unter dem Begriff "besorgte
Bürger" zusammenfassen, sind alles andere als besorgt: Sie sind bloß wütend
und hasserfüllt und projizieren ihren Hass auf das Fremde – so wie in all den
anderen Ländern der westlichen Welt, in denen die Mittelschicht langsam
wegbricht. (2)
Stark verkürzte und tendenziöse Auszüge aus:
(1)
Peter von Becker am 14.10.2018, 10:10 Uhr in https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-besorgte-burger-
5815282.html
(2)
Tim Sohr am 31.08.2018, 13:04 in https://www.stern.de/neon/wilde-welt/politik/besorgte-buerger--warum-
es-ein-fehler-war--sie-ernst-zu-nehmen-8236410.html