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Geschichte Europas
Der Begriff "christliches Abendland" ist
geistiger Müll
Anhänger von Pegida ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") in Dresden im Jahre 2015
(Foto: Getty Images)
Überspitzt könnte man Deutschland heute eine Heidenrepublik nennen -
historisch gesehen ging es in Europa ohnehin seit jeher recht morgenländisch
zu.
Gastbeitrag von Michael Wolffsohn
Michael Wolffsohn, 70, ist Historiker und Publizist sowie Hochschullehrer des Jahres 2017.
Geistiger Müll muss beseitigt werden, wenn vom "christlichen" oder gar "christlich-
jüdischen Abendland" gesprochen wird. Beides ist mehr Fiktion als Fakt, und außerdem
gehört die eher zeit- als allgemeinhistorische Bezeichnung "christlich-jüdisch" zum
vornehmlich deutschen Wiedergutmachungsvokabular.
Einerseits leiden wir unter stammtischlerisch grölenden Zeitgenossen à la Pegida. Sie
reden sich und anderen ein, das Abendland vor dem (neuerlichen) Untergang zu retten.
Andererseits behaupten manche, auch "Wissenschaftler": Abendland sei Kampfbegriff
der Islamfeinde. Beides ist geistiger Müll.
Unter der Geografie des Abendlands (Okzident) wird allgemein West-, Süd- und Zentral-
europa verstanden. Unsere Vorfahren - sie kamen vor 45 000 Jahren oder noch früher -
stammen aus Afrika. Nix "weiße Herrenrasse", nix christlich. Die abendländische
Ideologie war schon früh herrisch und teils selbstherrlich. Während der Perserkriege, im
fünften vorchristlichen Jahrhundert, nahm man es im antiken Athen so wahr: hier
Demokratie, dort orientalische Despotie. Ist die heutige Selbstsicht aufgeklärter?
"Juden raus!" und "Muslime raus!" sind keine zeithistorische Erfindung
Womit wir beim nächsten Stichwort wären: der Abfolge von Abendland-Morgenland-
Invasionen. Ouvertüre waren die Perserkriege. Das Morgenland stieß ins Abendland.
Rund hundert Jahre später, im vierten vorchristlichen Jahrhundert, folgte der Gegenstoß:
Vom Okzident kommend, überrollte Alexander der Große den Orient.
Bis heute lösten unterschiedlich lange machtpolitische Zyklen und Wellen vom Abend-
land ins Morgenland und umgekehrt einander ab. Rom folgte Hellas. Auch Roms Reich
zerfiel. Vom 8. bis zum 15. Jahrhundert drang der Orient als Islam nach Südwesteuropa
(Iberien). Die Osmanen beherrschten Südosteuropa seit dem 14. Jahrhundert.
Während ihrer Herrschaft konvertierten die meisten Albaner und Bosnier, teils auch
Bulgaren, zum Islam. 1529 sowie 1683 standen "die" Türken vor Wien. Sie wurden
zurückgedrängt und verloren bis zum frühen 20. Jahrhundert fast alle europäischen
Territorien vornehmlich an die Kolonial-mächte Großbritannien und Frankreich. Ihre
Reiche zerfielen, wie andere zuvor. Nach 1945, also durch die Entkolonialisierung und im
Kalten Krieg, dominierten zwei andere quasi abendländische Mächte das Morgenland: die
USA und die Sowjetunion.
Fazit: Bis 1492 gehörte der Islam zu Südwest-Europa. Zu Südosteuropa gehört er seit dem
14. Jahrhundert, wenngleich noch nicht zu Deutschland (um einen bekannten Hobby-
Historiker, der zeitweilig Bundespräsident war, zu zitieren).
Betrachten wir die christliche Gegenoffensive etwas genauer. Sie begann als
"Reconquista" Iberiens Mitte des 8. Jahrhunderts. Die Rolandsage um Karl den Großen
ist ein frühes Zeugnis jener Epoche. "Muslime Raus!" Das war ihre Botschaft. Das
mittelalterliche Gegenstück zum neuzeitlichen "Juden raus!" folgte im kirchlich-
christlichen, weniger christlich-barmherzig-milden und kaum jesuanischen Zeitalter der
Kreuzzüge von 1096 an.
Am Rhein wurden Juden regelrecht abgeschlachtet. Man lese Heines "Rabbi von
Bacherach". Wir lernen: "Juden raus!" und "Muslime raus!" sind keine zeithistorische
Erfindung. Das kirchlich-christlich-abendländische Sündenregister ist lang. Eine
fundamentale Einschränkung sei hervor-gehoben: Christentum und Kirche sind nicht
immer gleichzusetzen. So wenig wie Aufklärung und Toleranz. Der große Aufklärer
Voltaire schwelgte ganz und gar unaufgeklärt in antijüdischer und antimuslimischer
Polemik.
Schauen wir auf die Religion (Theologie). Wieder werden Abendländer wie "Patriotische
Europäer" schockiert. Schock eins: Das Christentum stammt aus dem Morgenland.
Schock zwei: Am Anfang, bis ins 4. Jahrhundert, war das Abendland nicht nur heidnisch,
sondern - noch "schlimmer" - jüdisch. Lange bevor die Germanen Christen wurden, gab
es in Europa Juden. Jahrhunderte vor den Kirchen standen in Germanien, Gallien und
Britannien
Synagogen
Die heidnischen Abendländer wurden zudem nicht durchweg freiwillig zu Christen.
Missionare wie Kilian und Bonifatius wurden von den Vorfahren des deutschen Michels
ermordetet, und Frankenkönig Karl "der Große" taufte um 800 die Sachsen auf seine Art:
blutig. Und heute? Wo ist das Abendland noch wirklich christlich? Überspitzt könnte man
Deutschland, besonders im Osten, eine Heidenrepublik nennen. Selbst Spanien und
Italien haben sich im kirchlichen Sinne entchristlicht.
Die jüngere Demografie des Abendlandes wird manche erneut schockieren. Sie ist eine
Folge der Entkolonialisierung im Morgenland, und sie entbehrt nicht der geschichts-
ethischen Ironie. Die zuvor Kolonisierten suchten Schutz oder (etwas mehr) Wohlstand
bei den einstigen Kolonisten. Aus den ehemaligen Kolonien strömten nach 1945
Menschenmassen freiwillig ins jeweilige Land der einstigen Kolonialmächte.
Deutschlands demografischer Fundamentalwandel begann mit dem Bau der
Mauer
Künftige Wirklichkeiten durchaus realistisch einschätzend entflohen sie entweder dem
erwarteten wirtschaftlichen Elend oder internen blutigen Abrechnungen. Nach der
Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahr 1947 strömten zahlreiche Muslime ins
einst wenig geliebte und nicht selten bekämpfte britische "Mutterland".
Ähnlich verlief der allmähliche bevölkerungspolitische Wandel Frankreichs. 1956 wurden
Marokko und Tunesien souverän, 1960 folgten 18 Staaten Afrikas, 1962 Algerien.
Als Quasi-Völkerwanderung kommt seitdem der mehrheitlich muslimische Orient
millionenfach aus Nah- sowie Mittelost, Nordafrika und sogar der Sub-Sahara ins
postchristliche Abendland.
Man denke an die vielen Kongolesen gleich welcher Religion, die nach 1960 nach Belgien
kamen, oder an die Angolaner sowie Mosambikaner, die nach 1975 ihre Heimat verließen,
um sich im nachkolonialen Portugal niederzulassen. In die Niederlande kamen Muslime
zuerst aus Indonesien, das 1949 seine Unabhängigkeit erkämpft hatte.
Deutschlands demografischer Fundamentalwandel begann anders. Von 1961 an, nach der
Errichtung von Mauer und Stacheldraht, fehlten Arbeitskräfte aus der DDR. Bonn suchte
und fand - Türken. Sie wurden als "Gastarbeiter" wie Waren importiert, das hat nicht nur
ihre erste Generation frustriert.
Heute wird uns von ihren Kindern und Kindeskindern die Rechnung dafür präsentiert. So
mancher reagiert darauf wie in Schillers Fiesco: "Der Mohr hat seine Arbeit getan, der
Mohr kann gehen." Anstand sieht anders aus.
Der Begriff "demografische Revolution" ist keine Dramatisierung. Die meisten musli-
mischen Neu-Abendländler wollten entweder ein wirtschaftlich besseres Leben oder auch
nur einfach überleben, weil und wenn in ihrer Heimat Kriege und Bürgerkriege tobten.
Ergo: Lange vor der angeblichen Merkel-Migrations-Misere des Jahres 2015 begann die
Einwanderung aus dem erweiterten Morgenland ins längst nicht mehr gar so christliche
Abendland.
Das bedeutet: Durch die demografische Revolution durchlebt das Abendland seit Jahr-
zehnten zugleich eine soziologische, religiöse beziehungsweise theologische und kultu-
relle Revolution. Das Abendland wird zwar nicht morgenländisch, aber im Abendland
sind mehr denn je Morgenland und Islam.
Mehr Morgenland und mehr Muslime bedeuten mehr Religion; mehr Islam und noch
weniger Christentum, denn Christen verlassen scharenweise die Kirche, die außerdem
immer mehr Politik und weniger Religion bietet. Doch Politik beherrschen Politiker
immer noch besser als Kirchenleute.
Die Folge: Die Kirchen werden noch leerer. Soll, kann man von einer selbstverschuldeten
Entchristlichung des christlichen Abendlandes sprechen?
Die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache
Selbstverschuldet oder nicht, die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache. Und
trotzdem (oder sogar deshalb?) beklagen Abendländer den (wievielten?) Untergang des
Abendlands durch dessen "Islamisierung".
Bevor über die "Islamisierung" gejammert wird, sollten sich erstens die Kirchen im
jesuanischen Sinne verchristlichen. Zweitens sollten Christen ihr Christentum nicht
unbedingt praktizieren, doch zumindest kennen.
Wer nicht einmal weiß, weswegen Christen Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern, ist
unfähig, mit Angehörigen anderer Religionen den überlebenswichtigen Dialog zu führen.
Vielleicht wird das weitgehend entkirchlichte Abendland irgendwann jesuanisch-
christlich und der Islam in Europa ein europäischer Islam? Wer weiß?
3. April 2018
http://www.sueddeutsche.de/politik/geschichte-europas-der-begriff-christliches-abendland-ist-geistiger-muell-
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