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BETONMONSTER
Über den fatalen Siegeszug der Autobahn
von Nelo Magalhães
Die Autobahn ist von der Straßendecke bis zur Fahrbahnmarkierung ein ideologisches Produkt. In Italien
und Deutschland standen die Anfänge von Autostrada und Autobahn unmittelbar mit den faschistischen
Regimen in Verbindung, in Frankreich begann der Ausbau von Landstraßen zu Autobahnen erst nach dem
Zweiten Weltkrieg. Die Autobahn sorgte für „Anbindung“, sie war der Weg in die sonnigen Ferien
(Autostrada del Sole, Autoroute du Soleil), sie brachte „Fortschritt, Beschäftigung und Leben“, wie 1962
der Finanzminister und spätere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing schwärmte.
Die Autobahn-Definition des Welt-Straßenverbands enthielt von Anfang an mehrere politische
Weichenstellungen: Die eine war, dass die Autobahn „Fahrzeugen mit mechanischem Antrieb“
vorbehalten war. Diese heute selbstverständliche Festlegung war damals ein Sieg des Autos in der
langen Auseinandersetzung um die Verdrängung der anderen Nutzer (Fußgänger, Fahrräder,
Straßenbahnen, Pferdefuhrwerke) vom Straßennetz, die besonders in der Zwischenkriegszeit und in den
Städten sehr heftig geführt wurde. Außerdem sollte die Autobahn „von jedem direkten Zugang der
Anwohner sowie von jeglichen Kreuzungen mit anderen Verkehrswegen auf einer Ebene“ freigehalten
werden und, wie ein französisches ministerielles Rundschreiben 1962 erklärte, „eine hohe
Grundgeschwindigkeit“ gewährleisten.
Das Ziel eines ungehindert fließenden Autoverkehrs führte zu einer Hierarchie in der Mobilität: Da
Ampeln und Übergänge über sehr lange Strecken nicht vorhanden sein durften, war die zwangsläufige
Folge eine weitreichende Zerteilung von Gebieten und Landschaften. Die kurzen Wege von Anwohnern
verlängerten sich zum Teil drastisch, so sehr, dass diese manchmal auf das Auto umsteigen mussten,
allein schon um die Autobahn zu umfahren. Kurz: Der ungestörte Verkehrsfluss mit sehr wenigen Zu- und
Ausfahrten für die einen führte zur Unterbrechung der Verkehrswege für alle anderen.
Die Autobahn ist aber auch ein materielles Produkt. Ihre zentralen Eigenschaften spiegeln sich in der
Geometrie der Streckenführung und in den Höhenunterschieden. Die hohe Mindestgeschwindigkeit
erfordert geringe Steigungen, weite Kurven und eine hinreichende Breite zum Überholen. Das Verbot
von Kreuzungen mit anderen Straßen verlangt den Bau von Brücken, Viadukten, Tunneln,
Autobahnkreuzen und gesonderten Anschlüssen, damit die Autobahn überquert werden kann. Im
Durchschnitt ist für jeden Autobahnkilometer eine große Betonbrücke vonnöten.
Im Hinblick auf Breite, Gefälle, Kurvenradius und Dicke lässt sich eine Autobahn nicht mit einer großen
Landstraße des 19. Jahrhunderts gleichsetzen, baulich ist es ein echter Quantensprung. Aus der Nähe
betrachtet, ist die Autobahn nicht Freiheit, Demokratie und Sonne, sondern ein bisschen Zement und
Bitumen – und vor allem gewaltige Mengen ganz gewöhnlicher Grundstoffe: Erde, Sand und Kies.
Für jeden Meter Autobahn müssen im Schnitt 30 Tonnen Sand und Kies eingesetzt sowie 100 Kubikmeter
Erde bewegt werden; manchmal noch viel mehr. Ein Kilometer Autobahn entspricht der Masse eines
Krankenhauses und verbraucht durchschnittlich eine Gesamtfläche von 10 Hektar, die oft der
landwirtschaftlichen Nutzung entzogen werden.
Da dieser Raumkonsum oft mit einer Flurbereinigung kleinerer Parzellen einhergeht, fördert der Bau
großer Transportinfrastrukturen zudem die Politik der sogenannten landwirtschaftlichen Modernisierung,
was in diesem Kontext nichts anderes bedeutet als großflächige Intensivlandwirtschaft. Die
Umweltschäden, etwa durch die Beseitigung von Hecken und Bäumen, in denen Vögel und Bienen
nisten, sind beträchtlich.
Als der französische Staat im März 1960 beschloss, 3558 Kilometer Autobahn zu bauen, gab es erst 200
Kilometer im gesamten Land, es waren meist Umgehungsstraßen rund um die Städte. Die
Verkehrsverwaltung legitimierte ihre Politik mit dem alten Argument, der wachsende Verkehr überlaste
die Straßen und mache folglich den Bau neuer Straßen nötig. Ein endloser Kreislauf, weil jede neue
Straße neuen Verkehr generiert, der wiederum die Straßen verstopft und beschädigt. Seither ist das
Verkehrsaufkommen unaufhörlich gewachsen.
In Frankreich waren schon Anfang der 1960er Jahre die Nationalstraßen (insgesamt 80 000 Kilometer),
die den größten Teil des Verkehrsnetzes ausmachten, mit dem wachsenden Lkw-Verkehr überfordert. Im
Winter 1962/63 wurden durch starke Temperaturschwankungen die Zwischenschichten des
Straßenbelags beschädigt, was dazu führte, dass Schwerlaster bei einsetzendem Tauwetter einige
Nationalstraßen nicht mehr befahren durften. Die Transportunternehmen reagieren auf das Verbot mit
einer landesweiten Kampagne.
Fachmagazine und Presse bezeichneten die Situation als „nie dagewesene Katastrophe“, riesige Gebiete
seien vom Rest des Landes „abgeschnitten“, und das gesamte Straßennetz sei überhaupt in einem
„elenden Zustand“. Die Lobbyarbeit wirkte: Damit die Lkws zu jeder Jahreszeit ungehindert fahren
könnten, beschloss die Regierung nicht nur die Reparatur der beschädigten Abschnitte, sondern die
Verstärkung, Verbreiterung und Versteifung aller Nationalstraßen. In den 1970er Jahren verschlangen
diese Arbeiten genauso viel Geld wie der auf Hochtouren laufende Autobahnneubau, der parallel zu den
Reparaturarbeiten stattfand. Wieder brauchte man gewaltige Mengen Zement, Bitumen und 5 Tonnen
Sand und Kies pro Autobahnmeter.
Der Begriff Autobahn lässt zwar vorrangig an Personenwagen denken, aber die Hochgeschwindigkeits-
straßen wurden ebenso wie die neuen Nationalstraßen mit ihrer Festigkeit und Dicke für Lastwagen
geplant und gebaut. Für beide wäre der Name Lastwagen-Bahn angemessener. Die Abnutzung der
Straßen folgte also keinem Naturgesetz, sondern sozioökonomischen Gegebenheiten.
Schon 1981 stellte man beträchtliche Deformationen bei den langsamen Spuren eines Abschnitts der
Autobahn A1 von Paris nach Lille fest, die erst 1968 eingeweiht worden war. Bis dahin waren 56
Millionen Fahrzeuge, 12000 am Tag, darauf gefahren, 21 Prozent davon Schwerlaster. Heute hat sich der
Verkehr fast verzehnfacht, 35 Prozent sind Sattelschlepper, die heute bis zu 44 Tonnen schwer sein
können. Das EU-Parlament billigte am 12. März die Zulassung solcher Monstertrucks auf Europas
Autobahnen – was zusätzlichen Warenverkehr von der Schiene auf die Straße bringen dürfte.
Lastwagen machen insgesamt nur 2 Prozent der Straßenfahrzeuge aus, doch sie stoßen 23,7 Prozent der
Treibhausgase aus, die vom Verkehrssektor verursacht werden. Ihre Anforderungen prägen das gesamte
Straßennetz. Eine vergleichbare Logik gilt auch für die anderen Beförderungsformen: Im Laufe der
Jahrzehnte wurden die Start- und Landebahnen auf den Flughäfen für Großflugzeuge verlängert und
verstärkt. Auch Hafenbecken werden tiefer und größer, um die größten Tanker und Frachter
aufzunehmen. Jedes Mal werden Millionen Tonnen Erde, Sand, Kies und Sedimente bewegt.
Diese Dynamik, dass jede Vergrößerung einer Infrastruktur die nächste nach sich zieht, hat einen
gemeinsamen Motor: den Freihandel innerhalb der Europäischen Union und die diversen internationalen
Handelsabkommen. Ergänzend zu den großen Transportinfrastrukturen verkörpern die entstandenen
Logistikplattformen – Umschlagplätze der Warenströme – den Wandel der gesellschaftlichen
Beziehungen und der Produktion von Raum. (1)
Diese Straßenpolitik ist keineswegs unumstritten. Hunderte Konflikte zeugen vom Widerstand gegen die
Autobahnen. Da sie inzwischen zunehmend durch schwieriges, früher gemiedenes Gelände mit
stärkerem Gefälle führen, geraten auf den Baustellen immer öfter Böschungen ins Gleiten, häufen sich
die Erdrutsche, sacken Aufschüttungen ab, gibt der Boden nach und stürzen Tunnel ein.
Außerdem führte der Autoverkehr zu einem Gemetzel. 1953 gab es in Frankreich 6400 Tote, in
Deutschland (West) 11449; bis Anfang der 1970er Jahre verdoppelte sich die Zahl nahezu. Seither sinken
die Opferzahlen in beiden Ländern deutlich. 2023 waren es 3170 Verkehrstote in Frankreich, 2830 in
Deutschland. (2) Schuld an den Verkehrstoten sind in den Augen der Straßenbau-Industrie oft genug die
Bäume, die die schlechte Idee hatten, die Straßen zu säumen. Hunderttausende wurden gefällt.
Für Straßen und Beton werden Unmengen von Sand und Kies gefördert, zum Teil von lokalen kleinen und
mittleren Unternehmen, ein alltäglicher Extraktivismus, der über lange Zeit auch in den Flüssen
stattfand. Anfang der 2010er Jahre machten mehrere Reportagen auf illegale Aktivitäten, Mafias und
Plünderungen im Zusammenhang mit Sand aufmerksam, es wurde über die Giga-Baustellen in Singapur
und Dubai berichtet. (3)
Im unteren Mekong wird sieben Mal so viel Sand gefördert, wie natürliche Sedimente vom Fluss bewegt
werden. In Tours konnte man fast zusehen, wie sich das Flussbett absenkte – zwischen 1973 und 1977
um 60 Zentimeter –, bis die Fundamente des Pont Wilson ins Wanken gerieten und die berühmte Brücke
über mehrere Wochen hinweg im Frühjahr 1978 nach und nach einstürzte. (4)
Schwimmbagger und Schaufellader entnahmen den meisten Flüssen Sedimente, und bald wurde überall
der Sand knapp. Keine Vorschrift behinderte die Förderung. Bis 1970 genügte in Frankreich eine
formlose Erklärung im Rathaus, um eine Grube zu eröffnen. Zwar wirkt sich die Förderung aus Flüssen in
jedem Gewässer anders aus, aber es gibt einige gemeinsame und nachhaltige Folgen: Erosion der Ufer,
gestörte Strömungen, erhöhte Risiken für den Schiffsverkehr durch Sedimentablagerungen und
zugewucherte Fahrrinnen sowie Verlust von Biodiversität, weil es weniger Feuchtgebiete gibt.
Und wenn Flussbetten ausgebaggert werden, senken sich Wasser- und Grundwasserspiegel. Angesichts
dieser Schäden gab es zunehmenden Widerstand vonseiten der Wissenschaft, von Fischereiverbänden,
Umwelt-NGOs und Anwohnern.
Obwohl die Konflikte zunahmen, die Vorkommen sich erschöpften, die Schäden dokumentiert und erste
Gesetze zur Regulierung von Sandgewinnung verabschiedet wurden und auch das Problembewusstsein
wuchs, verstärkte sich der Extraktivismus nach 1970 noch.
Gesetzliche Zwänge, die auch bestimmte soziale Anforderungen umfassten, führten dann dazu, dass
sich die Förderung auf Hartgestein (Verbot der Förderung im Gewässerbett seit 1993) verlagerte,
wodurch sich die unmittelbaren Schäden verringerten. Die Förderung von Sand aus Flüssen ist
mittlerweile vielerorts vollständig verboten, so etwa in China. (5)
Seit 1945 wurden die großen Infrastrukturen in Frankreich in erster Linie für den kapitalistischen
Materialfluss ausgebaut: Die in Frankreich geförderten und transportierten Rohstoffe dienten weniger
zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Wohnen, Essen und Heizen, sondern vorrangig dem
Transport von Personen und vor allem von Waren. Wurde in den 1960er Jahren noch der Löwenanteil in
der Betonproduktion verarbeitet, sind es heute nur noch 28 Prozent. Der Bausektor verbraucht nur 19
Prozent der Extrakte aus Steinbrüchen und Sandgruben. (6)
Der große Rest dient dem Neubau und vor allem der Unterhaltung und Wartung der bestehenden
Straßen, die wegen des Schwerlastverkehrs nie in gutem Zustand sind. Sisyphos schiebt keinen Felsen
mehr vor sich her, er repariert Straßen mit Kieseln.
Das Erbe der schwerlastfähigen Straßen und Autobahnen ist teuer. Zwischen 2010 und 2015 haben
französische Gemeinden im Durchschnitt jährlich 15 Milliarden Euro für ihr Straßennetz ausgegeben.
Manche Gemeinden wenden für ihr Verkehrsnetz ebenso viel auf wie für ihre Grundschulen. Wartungs-
und Reparaturarbeiten an Straßen sind nicht Teil politischer Beratungen oder Beschlüsse. Zur
Rechtfertigung, dass es hier keiner Diskussionen bedarf, dient das zweifelhafte Argument: Etwas zu
reparieren, mithin seine Lebensdauer zu verlängern, entspreche nur der Vernunft, ja trage zur Rettung
des Planeten bei. Wäre es nicht absurd, ein Erbe verkümmern zu lassen, in das man so viel investiert
hat?
Die Pflege und Bereitstellung von Verkehrsinfrastrukturen gilt als selbstverständliche Aufgabe der
öffentlichen Hand. Allerdings wird diese Aufgabe in Frankreich an den Privatsektor übertragen. Die vom
Staat geförderte Aneignung der Straßen durch den Vinci-Konzern nimmt ständig zu. (7)
Vinci übernimmt mit seinen Tochtergesellschaften nicht nur die Erdarbeiten (GTM), die Fundamente
(Solétanche), die Fahrbahndecken (Eurovia) und die Förderung in hunderten Kies- und Sandwerken
(Vinci Construction). Obendrein gehört dem Konzern auch das Endprodukt: ein Netz von 4443
Kilometern Autobahn, 12 Flughäfen und Massen von Parkplätzen.
Neben den Autos und den Lastkraftwagen, die auch dann, wenn sie reine Luft ausstoßen, noch dieselbe
massive Infrastruktur brauchen werden, treibt uns auch unsere Wirtschaftsordnung dazu, die Produktion
des Raums eher als notwendige, wenn nicht gar natürliche Gegebenheit anzusehen. Dabei ist sie eine
politische Frage. Denn die Erhaltung der großen Infrastrukturen garantiert vor allem das Funktionieren
der makroökonomischen Strukturen des Freihandels.
(1) Cécile Marin und Pierre Rimbert, „L’ère des plates-formes logistiques“, Manière de voir, Nr. 187,
LMd (Paris), Februar/März 2023.
(2) Zahlen nach statista.com, 2024.
(3) Unter anderem: Denis Delestrac, „Sand – die neue Umweltzeitbombe “, Arte, 2011; sowie Kiran
Pereira, „Aus Sand“, LMd, September 2014.
(4) C. R. Hackney und andere, „River bank instability from unsustainable sand mining in the lower
Mekong River“, Nature Sustainability, Nr. 3, London 2020.
(5) Dagmar Röhrlich, „Sand – Ein nur scheinbar unendlicher Rohstoff“, Deutschlandfunk, 5.Januar 2020.
(6 Union nationale des industries de carrières et des matériaux de construction (Unicem), „L’industrie
française des granulats“, Union nationale des producteurs de granulats (UNPG), Clichy 2022.
(7 Nicolas de la Casinière, „Le soleil ne se couche jamais sur l’empire Vinci“, LMd (Paris), März 2016.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Nelo Magalhães ist Postdoktorand am Institut de la transition environnementale (ITE-Alliance Sorbonne
Université) und Autor des Buchs „Accumuler du béton, tracer des routes. Une histoire
environnementale des grandes infrastructures“, Paris (La Fabrique) 2024, das diesem Text zugrunde
liegt.
Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Nelo Magalhães
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5987040