<
 
 
Siegfried Trapp
Willkommen Bienvenido Welcome  
Suche auf den Seiten von strapp.de:
Meine Radikalisierung 2 An diesem Punkt ist es Zeit für zwei Einwände. Der erste: Warum haben Fahrradfahrer stets dieses Eifernde und Selbstbezogene? Dieses Ich-Ich-Ich! Dieser Artikel gleicht ja ebenfalls einem Egotrip. Abgesehen davon, dass auch Autozeitschriften voller Befindlichkeitsprosa sind, dass dort der Behaglichkeitsfaktor jeder Lenkradheizung und Lendenwirbelstütze besprochen wird: Begeben wir uns nicht auf den Egotrip schlechthin, sobald wir uns in ein Auto setzen, umhüllt von Wurzelholz und Leder, alles nur für uns? Allein das Verhältnis von transportiertem Menschlein zu Materialaufwand! Dazu kommt ein weiteres Privileg: Aus dem Auto heraus müssen wir keinen Missstand bejammern, um Veränderungen zu erbetteln. An Veränderungen hat man als Autofahrer ja gar kein Interesse. Dieses Schweigen-ist-Gold-Glück hat ein Radfahrer nicht. Um Gehör zu finden, keift und kläfft man da schnell wie ein kleiner Hund. Oder man versucht es, wie ich hier, mit der Hofnarren-Methode: schmeichelt sich ein bei der Majorität (durch den Hinweis auf den eigenen Alfa), führt Verrenkungen vor (ausladende Dankesgesten fürs Gewähren von Vorfahrt) und macht sich zum Gespött (die Stelle mit dem Unfall kommt gleich), um zwischendurch die eigentliche Botschaft loswerden zu können. Der zweite Einwand: Radfahrer benehmen sich doch auch nicht besser! Stimmt leider. Ich wurde Zeuge haarsträubender Manöver und irrer Dummdreistigkeit, von Selbst- und Fremdgefährdung: Regelmäßig fahren Radler über Rot, erschrecken Rentner auf Gehwegen zu Tode und fahren sich gegenseitig mit großem Geschepper über den Haufen. Nur weiß ich nicht, ob Autofahrer die richtigen Ankläger sind. Denn meines Wissens hat noch nie ein Fahrrad ein Auto überrollt. Im Schnitt aber stirbt jeden Tag mindestens ein Radler auf deutschen Straßen. Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes stammen aus dem vergangenen Jahr. 426 Radfahrer kamen ums Leben, 91.821 wurden verletzt – genauer: meldeten ihre Verletzungen. Bei den meisten "Fahrradunfällen mit Personenschaden" handelte es sich um Kollisionen mit Autos. Nur in etwa einem Viertel dieser Unglücke trugen Radfahrer die Hauptschuld. Ich persönlich kenne fast nur Radler, die von Tag zu Tag vorsichtiger werden. Auch für mich kann ich beteuern: Mit jedem Schreck wurde ich defensiver. Nicht erst, um hier Fußnoten zu verfassen, begann ich in der Straßenverkehrsordnung zu lesen. Hatte ich dazu als Autofahrer je Anlass gesehen? Brav benutzte ich jeden benutzungspflichtigen Radweg und blieb an jeder roten Ampel stehen. Es mag pathetisch klingen, aber ich hatte keine Lust zu sterben. Falls die Polizei doch mit dieser Nachricht bei meiner Frau und den Kindern klingeln würde, sollten die Beamten nicht sagen müssen: "Übrigens war er selbst schuld." Gelogen wäre es allerdings, wenn ich behaupten würde, dass mir gelang, so lässig zu sein, wie ich es auf meinem schönen neuen Fahrrad hatte sein wollen. Als Radfahrer gerät man – wieder ähnlich wie ein Vegetarier oder Veganer – in ein Kommunikations- Paradox, das nicht jede Seele aushält. Ein Vegetarier nimmt keinem Fleischesser irgendetwas weg, klaut niemandem das Steak vom Grill, muss jedoch dauernd latent aggressive Fragen beantworten: Aber Wurstform darf dein Tofu haben?! Und Bienenhonig ist erlaubt?! Und warum sind deine Schuhe noch aus Leder?! Beim Radfahrer ist das Kommunikations-Paradox andersherum: Er macht Autofahrern tatsächlich etwas streitig, ein paar Zentimeter Asphalt. In diesem Fall gibt es also einen Verteilungskampf, aber keine Gelegenheit zur Aussprache. Man steht nicht gemeinsam am Grill. Nur für einen Moment kreuzen sich die Wege zweier Fremder. Und die trennt auch noch Fensterglas, durch das sie wild gestikulieren. Es ist fast tragikomisch, in welch gegensätzlichen Aggregatzuständen Auto- und Radfahrer aneinandergeraten! Klimatisiert, umhüllt, Radio-beschallt sitzt der Durchschnitts-Autofahrer in seinem Wagen, wenn es wie aus dem Nichts zur Beinahe-Kollision kommt. Randvoll mit Adrenalin strampelt der typische Radfahrer heran, unter Spannung stehende Muskelmasse, die den nächsten Knall längst befürchtet. Wie will man da zueinanderkommen, in den wenigen Sekunden einer Begegnung? Angenommen, beide Seiten würden sich wider Erwarten bemühen, die Situation gütlich zu klären – was wäre da im Rückstau los, beim deutschen Normgeschwindigkeitsanspruch auf 50 Stundenkilometer innerorts! Also fährt man in wortlosem Groll auseinander. Ohne losgeworden zu sein, was man loswerden wollte. Meine Seele war dafür nicht geschaffen. Es kam zu Gegenreaktionen und Übersprunghandlungen, ungefähr in dieser Reihenfolge: Ich trat dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) bei. Ich kaufte mir ein T-Shirt mit dem Slogan Burn fat not oil, "Verbrenn Fett statt Öl". Den moralischen Beifang, den mir die dringlicher werdende Debatte um das Klima bot, nahm ich gern mit. Ich begann zu monologisieren, grummelte nach jedem Fast-Unfall Grundsätzliches wie: "Du Arsch da in deiner Karre. Kostest die Gesellschaft pro Kilometer 15 Cent, während ich ihr 16 Cent erspare." Oder: "Mannmannmann, allein die Parkplatzsuche macht in Stoßzeiten bis zu 40 Prozent des städtischen Verkehrs aus! Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir nicht auch noch Platz wegnehme!" Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich manchen Monolog nicht sehr laut geführt habe. Fest steht leider, dass ich auch begann, auf Motorhauben zu schlagen, rumzuschreien und Leuten den Stinkefinger zu zeigen. Ich wurde jemand, der sich durch seine Reaktion auf ein Unrecht ins Unrecht setzte. Einmal beschimpfte ich eine Frau als "Wichserin". Warum stieg ich nicht vom Rad? Tja. Trotz allem war der Glücksüberschuss vom zauberhaften Anfang manchmal noch da: Ich wurde nicht mehr krank und war nie erkältet. Zu Hause frühstückte ich lustvoller und mit mehr Bedacht, stets so, dass ich genug Reserven für die Fahrt haben würde, den Bauch aber nicht zu voll. Ich erlebte Sonnenaufgänge, die ich sonst verpasst hätte. All das war bewusstseinserweiternd, ganz ohne Drogen! Ich war dabei, als die Kraniche am Herbsthimmel in den Süden zogen, und hörte im Frühjahr das Geschnatter der zurückkehrenden Gänse (wenn es dafür auf der Straße leise genug war). Im Wimmelbild der Stadt wurde ich Zeuge, wie die Gemüsehändler ihre Waren in den Auslagen drapierten, dabei plauschten und rauchten. Ich war Teil der Welt, also fuhr ich weiter, die Sinneskanäle offen, für alles Gute und alles Schlechte. Deshalb passierte es. Ein Sommermorgen, schon früh sehr heiß. Ich schwitzte, auch im Gesicht, und rollte auf einem Radweg auf eine Kreuzung zu, an der ich Vorfahrt gehabt hätte. An beiden Straßenseiten standen Bürogebäude, die Ampel vor mir war grün, die Straße voraus frei. Kurz sah ich mich um, Schulterblick nach hinten, um sicherzugehen, dass kein Rechtsabbieger mehr kommen würde. Es ist ein Moment, in dem ein Radfahrer die Kontrolle abgibt. Er sieht nicht, was vor ihm geschieht. Springt die Ampel auf Rot? Läuft ein Kind auf den Radweg? Übersieht man eine Wurzelschanze? Plötzlich ein Lichtblitz auf meinem Brillenglas. Ich zog die Bremsen. Und die Bremsen zogen gut. War mir beim Kauf ja wichtig gewesen. So überschlug sich im Hamburger Norden ein Radfahrer mittleren Alters auf einem wunderschönen Aluminiumrad auf einer vollkommen leeren Kreuzung. Bis heute weiß ich nicht, was ich gesehen zu haben glaubte. Vielleicht hatte sich meine feuchte Wange im Brillenglas gespiegelt. Oder irgendjemand in den Bürohäusern am Straßenrand hatte ein Fenster gekippt und einen Lichtreflex in meine Richtung geschickt. Nach all den Erlebnissen zuvor musste ich aber davon ausgehen, dass das Blech eines Autos aufblitzte. Reine Einbildung, gespeist aus realer Erfahrung. Eine Paranoia, aber nicht wahnhaft. Zeitlupenlangsam sammelte ich mich, stand auf, hob mein unversehrtes Rad vom Asphalt und humpelte blutend von der Kreuzung. Nun fuhren erste Autofahrer in die Szenerie. Sie beäugten mich, stiegen aber nicht aus, sondern wunderten sich über einen Bekloppten, der sich scheinbar anlasslos auf die Fresse gelegt hatte. Vermutlich zu schnell gefahren. Wahrscheinlich Selbstüberschätzung. Typisch Radfahrer. Natürlich war ich an dem Sturz selbst schuld. Solange man ihn isoliert betrachtet, als Sekunden- Ereignis. Man kann aber auch sagen: Die Allgegenwart und Allgewalt des Autos beeinflusst und beeinträchtigt uns sogar dann, wenn kein Auto in der Nähe ist. Leider schlägt sich das in keiner Verkehrs- und Unfallstatistik nieder. Nach meinem Sturz diagnostizierte ein Orthopäde einen tiefen Meniskusriss im Knie. Bei der Operation wählte ich die Narkose vom Unterleib abwärts, so bekam ich mit, wie ein Chirurg ausgiebig schabte, schälte und schnitt und murmelte: "Viel bleibt da nicht übrig." Anschließend zählte er Sportarten auf, die ich mir fortan verkneifen sollte. Fußball. Joggen. Tennis. Bergsteigen. Schwimmen mit Seitschlag. Auf die Frage, was da noch bleibe, antwortete er: "Radfahren." Mehrere Wochen lief ich auf Krücken. Einige Monate konnte ich mein Bein nicht genug beugen, um eine Pedalumdrehung hinzukriegen. Also fuhr ich zunächst Auto. In Tempo-30-Zonen war ich nun strikt mit 30 unterwegs, in Spielstraßen mit Schrittgeschwindigkeit. Kam mir an einem Engpass ein Radfahrer entgegen, blieb ich stehen. Hinter mir zorniges Hupen, einige überholten einfach. Es war wieder Zufall, wie beim anfälligen Alfa, dass ich in jenen Wochen von einer Radroute las, die mir zuvor verborgen geblieben war. Für die Hälfte meiner Strecke in die Stadt gab es eine Alternative! Kaum Straßen, wenig Asphalt, viel Schotter und – welch deprimierender Begriff – eine "wassergebundene Wegedecke". Das alles entlang eines Bachlaufs, durch Wälder und Grüngürtel. Mit dem Aluminiumrad kam ich da schwer durch. Also kaufte ich wieder ein neues. Dieses Mal ein etwas prolliges Gelände-Bike der italienischen Marke Wilier Triestina: bunter Rahmen, dicke Reifen, 22 Gänge, Scheibenbremsen. Erneut gab ich viel Geld aus. Und doch weniger, als man für zwanzig Tankfüllungen eines Audi Q7 bezahlt. Nun radle ich wieder. Das Alurad hängt zu Hause an der Wand, wie ein Museumsstück. Mein neues Gefährt sieht aus wie eine Kampfmaschine, dabei nehme ich nicht mehr am Straßenkampf teil. Von mir geht keine Dringlichkeit mehr aus, neue Radwege zu bauen, dem Auto ein wenig Stadtraum zu nehmen. Eine Kapitulation, die meine Freunde beim ADFC vermutlich enttäuscht. Der Verband sagt, es brauche bloß bessere Infrastruktur, dann würden auch aus traditionellen Autofahrern begeisterte Radfahrer. Glaube ich nicht, angesichts der trägen Masse von Menschen auch meines Alters, die sogar samstags mit dem Auto 800 Meter zum Bäcker fahren, um da sechs Brötchen zu kaufen. Doch ich monologisiere jetzt nicht mehr, manchmal summe ich. Hin und wieder überquere ich aus einem Waldstück kommend eine der Straßen, die ich früher entlanggehetzt bin. Oft muss ich warten, bis ich rüberkann. Ich trage einen knallroten Helm und Schuhe in derselben Farbe, sicherheitshalber auch eine gelbe Jacke und einen reflektierenden Rucksack. Meine Route ist holprig und oft vermatscht. Wenn ich in meiner Radritter-Rüstung ins Büro komme, ist mein Fahrrad verdreckt und meine Hose besprenkelt. Ich sehe dann aus wie der Fahrradfundamentalist, der ich nie werden wollte – und meiner Meinung nach auch nicht bin. Ich gehe nur jenem Wahnsinn auf unseren Straßen aus dem Weg, den viele nach wie vor für normal halten. Quelle: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/16/radfahren-strassenverkehr-autos-gefahr-aggression- radverkehr/komplettansicht
© strapp 2021
Suche auf den Seiten von strapp.de:
Meine Radikalisierung 2 An diesem Punkt ist es Zeit für zwei Einwände. Der erste: Warum haben Fahrradfahrer stets dieses Eifernde und Selbstbezogene? Dieses Ich-Ich-Ich! Dieser Artikel gleicht ja ebenfalls einem Egotrip. Abgesehen davon, dass auch Autozeitschriften voller Befindlichkeitsprosa sind, dass dort der Behaglichkeitsfaktor jeder Lenkradheizung und Lendenwirbelstütze besprochen wird: Begeben wir uns nicht auf den Egotrip schlechthin, sobald wir uns in ein Auto setzen, umhüllt von Wurzelholz und Leder, alles nur für uns? Allein das Verhältnis von transportiertem Menschlein zu Materialaufwand! Dazu kommt ein weiteres Privileg: Aus dem Auto heraus müssen wir keinen Missstand bejammern, um Veränderungen zu erbetteln. An Veränderungen hat man als Autofahrer ja gar kein Interesse. Dieses Schweigen-ist-Gold- Glück hat ein Radfahrer nicht. Um Gehör zu finden, keift und kläfft man da schnell wie ein kleiner Hund. Oder man versucht es, wie ich hier, mit der Hofnarren-Methode: schmeichelt sich ein bei der Majorität (durch den Hinweis auf den eigenen Alfa), führt Verrenkungen vor (ausladende Dankesgesten fürs Gewähren von Vorfahrt) und macht sich zum Gespött (die Stelle mit dem Unfall kommt gleich), um zwischendurch die eigentliche Botschaft loswerden zu können. Der zweite Einwand: Radfahrer benehmen sich doch auch nicht besser! Stimmt leider. Ich wurde Zeuge haarsträubender Manöver und irrer Dummdreistigkeit, von Selbst- und Fremdgefährdung: Regelmäßig fahren Radler über Rot, erschrecken Rentner auf Gehwegen zu Tode und fahren sich gegenseitig mit großem Geschepper über den Haufen. Nur weiß ich nicht, ob Autofahrer die richtigen Ankläger sind. Denn meines Wissens hat noch nie ein Fahrrad ein Auto überrollt. Im Schnitt aber stirbt jeden Tag mindestens ein Radler auf deutschen Straßen. Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes stammen aus dem vergangenen Jahr. 426 Radfahrer kamen ums Leben, 91.821 wurden verletzt – genauer: meldeten ihre Verletzungen. Bei den meisten "Fahrradunfällen mit Personenschaden" handelte es sich um Kollisionen mit Autos. Nur in etwa einem Viertel dieser Unglücke trugen Radfahrer die Hauptschuld. Ich persönlich kenne fast nur Radler, die von Tag zu Tag vorsichtiger werden. Auch für mich kann ich beteuern: Mit jedem Schreck wurde ich defensiver. Nicht erst, um hier Fußnoten zu verfassen, begann ich in der Straßenverkehrsordnung zu lesen. Hatte ich dazu als Autofahrer je Anlass gesehen? Brav benutzte ich jeden benutzungspflichtigen Radweg und blieb an jeder roten Ampel stehen. Es mag pathetisch klingen, aber ich hatte keine Lust zu sterben. Falls die Polizei doch mit dieser Nachricht bei meiner Frau und den Kindern klingeln würde, sollten die Beamten nicht sagen müssen: "Übrigens war er selbst schuld." Gelogen wäre es allerdings, wenn ich behaupten würde, dass mir gelang, so lässig zu sein, wie ich es auf meinem schönen neuen Fahrrad hatte sein wollen. Als Radfahrer gerät man – wieder ähnlich wie ein Vegetarier oder Veganer – in ein Kommunikations-Paradox, das nicht jede Seele aushält. Ein Vegetarier nimmt keinem Fleischesser irgendetwas weg, klaut niemandem das Steak vom Grill, muss jedoch dauernd latent aggressive Fragen beantworten: Aber Wurstform darf dein Tofu haben?! Und Bienenhonig ist erlaubt?! Und warum sind deine Schuhe noch aus Leder?! Beim Radfahrer ist das Kommunikations- Paradox andersherum: Er macht Autofahrern tatsächlich etwas streitig, ein paar Zentimeter Asphalt. In diesem Fall gibt es also einen Verteilungskampf, aber keine Gelegenheit zur Aussprache. Man steht nicht gemeinsam am Grill. Nur für einen Moment kreuzen sich die Wege zweier Fremder. Und die trennt auch noch Fensterglas, durch das sie wild gestikulieren. Es ist fast tragikomisch, in welch gegensätzlichen Aggregatzuständen Auto- und Radfahrer aneinandergeraten! Klimatisiert, umhüllt, Radio-beschallt sitzt der Durchschnitts-Autofahrer in seinem Wagen, wenn es wie aus dem Nichts zur Beinahe- Kollision kommt. Randvoll mit Adrenalin strampelt der typische Radfahrer heran, unter Spannung stehende Muskelmasse, die den nächsten Knall längst befürchtet. Wie will man da zueinanderkommen, in den wenigen Sekunden einer Begegnung? Angenommen, beide Seiten würden sich wider Erwarten bemühen, die Situation gütlich zu klären – was wäre da im Rückstau los, beim deutschen Normgeschwindigkeitsanspruch auf 50 Stundenkilometer innerorts! Also fährt man in wortlosem Groll auseinander. Ohne losgeworden zu sein, was man loswerden wollte. Meine Seele war dafür nicht geschaffen. Es kam zu Gegenreaktionen und Übersprunghandlungen, ungefähr in dieser Reihenfolge: Ich trat dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) bei. Ich kaufte mir ein T-Shirt mit dem Slogan Burn fat not oil, "Verbrenn Fett statt Öl". Den moralischen Beifang, den mir die dringlicher werdende Debatte um das Klima bot, nahm ich gern mit. Ich begann zu monologisieren, grummelte nach jedem Fast-Unfall Grundsätzliches wie: "Du Arsch da in deiner Karre. Kostest die Gesellschaft pro Kilometer 15 Cent, während ich ihr 16 Cent erspare." Oder: "Mannmannmann, allein die Parkplatzsuche macht in Stoßzeiten bis zu 40 Prozent des städtischen Verkehrs aus! Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir nicht auch noch Platz wegnehme!" Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich manchen Monolog nicht sehr laut geführt habe. Fest steht leider, dass ich auch begann, auf Motorhauben zu schlagen, rumzuschreien und Leuten den Stinkefinger zu zeigen. Ich wurde jemand, der sich durch seine Reaktion auf ein Unrecht ins Unrecht setzte. Einmal beschimpfte ich eine Frau als "Wichserin". Warum stieg ich nicht vom Rad? Tja. Trotz allem war der Glücksüberschuss vom zauberhaften Anfang manchmal noch da: Ich wurde nicht mehr krank und war nie erkältet. Zu Hause frühstückte ich lustvoller und mit mehr Bedacht, stets so, dass ich genug Reserven für die Fahrt haben würde, den Bauch aber nicht zu voll. Ich erlebte Sonnenaufgänge, die ich sonst verpasst hätte. All das war bewusstseinserweiternd, ganz ohne Drogen! Ich war dabei, als die Kraniche am Herbsthimmel in den Süden zogen, und hörte im Frühjahr das Geschnatter der zurückkehrenden Gänse (wenn es dafür auf der Straße leise genug war). Im Wimmelbild der Stadt wurde ich Zeuge, wie die Gemüsehändler ihre Waren in den Auslagen drapierten, dabei plauschten und rauchten. Ich war Teil der Welt, also fuhr ich weiter, die Sinneskanäle offen, für alles Gute und alles Schlechte. Deshalb passierte es. Ein Sommermorgen, schon früh sehr heiß. Ich schwitzte, auch im Gesicht, und rollte auf einem Radweg auf eine Kreuzung zu, an der ich Vorfahrt gehabt hätte. An beiden Straßenseiten standen Bürogebäude, die Ampel vor mir war grün, die Straße voraus frei. Kurz sah ich mich um, Schulterblick nach hinten, um sicherzugehen, dass kein Rechtsabbieger mehr kommen würde. Es ist ein Moment, in dem ein Radfahrer die Kontrolle abgibt. Er sieht nicht, was vor ihm geschieht. Springt die Ampel auf Rot? Läuft ein Kind auf den Radweg? Übersieht man eine Wurzelschanze? Plötzlich ein Lichtblitz auf meinem Brillenglas. Ich zog die Bremsen. Und die Bremsen zogen gut. War mir beim Kauf ja wichtig gewesen. So überschlug sich im Hamburger Norden ein Radfahrer mittleren Alters auf einem wunderschönen Aluminiumrad auf einer vollkommen leeren Kreuzung. Bis heute weiß ich nicht, was ich gesehen zu haben glaubte. Vielleicht hatte sich meine feuchte Wange im Brillenglas gespiegelt. Oder irgendjemand in den Bürohäusern am Straßenrand hatte ein Fenster gekippt und einen Lichtreflex in meine Richtung geschickt. Nach all den Erlebnissen zuvor musste ich aber davon ausgehen, dass das Blech eines Autos aufblitzte. Reine Einbildung, gespeist aus realer Erfahrung. Eine Paranoia, aber nicht wahnhaft. Zeitlupenlangsam sammelte ich mich, stand auf, hob mein unversehrtes Rad vom Asphalt und humpelte blutend von der Kreuzung. Nun fuhren erste Autofahrer in die Szenerie. Sie beäugten mich, stiegen aber nicht aus, sondern wunderten sich über einen Bekloppten, der sich scheinbar anlasslos auf die Fresse gelegt hatte. Vermutlich zu schnell gefahren. Wahrscheinlich Selbstüberschätzung. Typisch Radfahrer. Natürlich war ich an dem Sturz selbst schuld. Solange man ihn isoliert betrachtet, als Sekunden-Ereignis. Man kann aber auch sagen: Die Allgegenwart und Allgewalt des Autos beeinflusst und beeinträchtigt uns sogar dann, wenn kein Auto in der Nähe ist. Leider schlägt sich das in keiner Verkehrs- und Unfallstatistik nieder. Nach meinem Sturz diagnostizierte ein Orthopäde einen tiefen Meniskusriss im Knie. Bei der Operation wählte ich die Narkose vom Unterleib abwärts, so bekam ich mit, wie ein Chirurg ausgiebig schabte, schälte und schnitt und murmelte: "Viel bleibt da nicht übrig." Anschließend zählte er Sportarten auf, die ich mir fortan verkneifen sollte. Fußball. Joggen. Tennis. Bergsteigen. Schwimmen mit Seitschlag. Auf die Frage, was da noch bleibe, antwortete er: "Radfahren." Mehrere Wochen lief ich auf Krücken. Einige Monate konnte ich mein Bein nicht genug beugen, um eine Pedalumdrehung hinzukriegen. Also fuhr ich zunächst Auto. In Tempo-30-Zonen war ich nun strikt mit 30 unterwegs, in Spielstraßen mit Schrittgeschwindigkeit. Kam mir an einem Engpass ein Radfahrer entgegen, blieb ich stehen. Hinter mir zorniges Hupen, einige überholten einfach. Es war wieder Zufall, wie beim anfälligen Alfa, dass ich in jenen Wochen von einer Radroute las, die mir zuvor verborgen geblieben war. Für die Hälfte meiner Strecke in die Stadt gab es eine Alternative! Kaum Straßen, wenig Asphalt, viel Schotter und – welch deprimierender Begriff – eine "wassergebundene Wegedecke". Das alles entlang eines Bachlaufs, durch Wälder und Grüngürtel. Mit dem Aluminiumrad kam ich da schwer durch. Also kaufte ich wieder ein neues. Dieses Mal ein etwas prolliges Gelände-Bike der italienischen Marke Wilier Triestina: bunter Rahmen, dicke Reifen, 22 Gänge, Scheibenbremsen. Erneut gab ich viel Geld aus. Und doch weniger, als man für zwanzig Tankfüllungen eines Audi Q7 bezahlt. Nun radle ich wieder. Das Alurad hängt zu Hause an der Wand, wie ein Museumsstück. Mein neues Gefährt sieht aus wie eine Kampfmaschine, dabei nehme ich nicht mehr am Straßenkampf teil. Von mir geht keine Dringlichkeit mehr aus, neue Radwege zu bauen, dem Auto ein wenig Stadtraum zu nehmen. Eine Kapitulation, die meine Freunde beim ADFC vermutlich enttäuscht. Der Verband sagt, es brauche bloß bessere Infrastruktur, dann würden auch aus traditionellen Autofahrern begeisterte Radfahrer. Glaube ich nicht, angesichts der trägen Masse von Menschen auch meines Alters, die sogar samstags mit dem Auto 800 Meter zum Bäcker fahren, um da sechs Brötchen zu kaufen. Doch ich monologisiere jetzt nicht mehr, manchmal summe ich. Hin und wieder überquere ich aus einem Waldstück kommend eine der Straßen, die ich früher entlanggehetzt bin. Oft muss ich warten, bis ich rüberkann. Ich trage einen knallroten Helm und Schuhe in derselben Farbe, sicherheitshalber auch eine gelbe Jacke und einen reflektierenden Rucksack. Meine Route ist holprig und oft vermatscht. Wenn ich in meiner Radritter-Rüstung ins Büro komme, ist mein Fahrrad verdreckt und meine Hose besprenkelt. Ich sehe dann aus wie der Fahrradfundamentalist, der ich nie werden wollte – und meiner Meinung nach auch nicht bin. Ich gehe nur jenem Wahnsinn auf unseren Straßen aus dem Weg, den viele nach wie vor für normal halten. Quelle: https://www.zeit.de/zeit- magazin/2021/16/radfahren-strassenverkehr- autos-gefahr-aggression- radverkehr/komplettansicht
© strapp 2021