Siegfried
Trapp
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Meine Radikalisierung 2
An diesem Punkt ist es Zeit für zwei Einwände. Der erste: Warum haben Fahrradfahrer stets dieses
Eifernde und Selbstbezogene? Dieses Ich-Ich-Ich! Dieser Artikel gleicht ja ebenfalls einem Egotrip.
Abgesehen davon, dass auch Autozeitschriften voller Befindlichkeitsprosa sind, dass dort der
Behaglichkeitsfaktor jeder Lenkradheizung und Lendenwirbelstütze besprochen wird: Begeben wir uns
nicht auf den Egotrip schlechthin, sobald wir uns in ein Auto setzen, umhüllt von Wurzelholz und
Leder, alles nur für uns? Allein das Verhältnis von transportiertem Menschlein zu Materialaufwand!
Dazu kommt ein weiteres Privileg: Aus dem Auto heraus müssen wir keinen Missstand bejammern, um
Veränderungen zu erbetteln. An Veränderungen hat man als Autofahrer ja gar kein Interesse. Dieses
Schweigen-ist-Gold-Glück hat ein Radfahrer nicht. Um Gehör zu finden, keift und kläfft man da schnell
wie ein kleiner Hund. Oder man versucht es, wie ich hier, mit der Hofnarren-Methode: schmeichelt sich
ein bei der Majorität (durch den Hinweis auf den eigenen Alfa), führt Verrenkungen vor (ausladende
Dankesgesten fürs Gewähren von Vorfahrt) und macht sich zum Gespött (die Stelle mit dem Unfall
kommt gleich), um zwischendurch die eigentliche Botschaft loswerden zu können.
Der zweite Einwand: Radfahrer benehmen sich doch auch nicht besser! Stimmt leider. Ich wurde
Zeuge haarsträubender Manöver und irrer Dummdreistigkeit, von Selbst- und Fremdgefährdung:
Regelmäßig fahren Radler über Rot, erschrecken Rentner auf Gehwegen zu Tode und fahren sich
gegenseitig mit großem Geschepper über den Haufen. Nur weiß ich nicht, ob Autofahrer die richtigen
Ankläger sind. Denn meines Wissens hat noch nie ein Fahrrad ein Auto überrollt. Im Schnitt aber stirbt
jeden Tag mindestens ein Radler auf deutschen Straßen. Die aktuellsten Zahlen des Statistischen
Bundesamtes stammen aus dem vergangenen Jahr. 426 Radfahrer kamen ums Leben, 91.821
wurden verletzt – genauer: meldeten ihre Verletzungen. Bei den meisten "Fahrradunfällen mit
Personenschaden" handelte es sich um Kollisionen mit Autos. Nur in etwa einem Viertel dieser
Unglücke trugen Radfahrer die Hauptschuld.
Ich persönlich kenne fast nur Radler, die von Tag zu Tag vorsichtiger werden. Auch für mich kann ich
beteuern: Mit jedem Schreck wurde ich defensiver. Nicht erst, um hier Fußnoten zu verfassen, begann
ich in der Straßenverkehrsordnung zu lesen. Hatte ich dazu als Autofahrer je Anlass gesehen? Brav
benutzte ich jeden benutzungspflichtigen Radweg und blieb an jeder roten Ampel stehen. Es mag
pathetisch klingen, aber ich hatte keine Lust zu sterben. Falls die Polizei doch mit dieser Nachricht bei
meiner Frau und den Kindern klingeln würde, sollten die Beamten nicht sagen müssen: "Übrigens war
er selbst schuld."
Gelogen wäre es allerdings, wenn ich behaupten würde, dass mir gelang, so lässig zu sein, wie ich es
auf meinem schönen neuen Fahrrad hatte sein wollen.
Als Radfahrer gerät man – wieder ähnlich wie ein Vegetarier oder Veganer – in ein Kommunikations-
Paradox, das nicht jede Seele aushält. Ein Vegetarier nimmt keinem Fleischesser irgendetwas weg,
klaut niemandem das Steak vom Grill, muss jedoch dauernd latent aggressive Fragen beantworten:
Aber Wurstform darf dein Tofu haben?! Und Bienenhonig ist erlaubt?! Und warum sind deine Schuhe
noch aus Leder?!
Beim Radfahrer ist das Kommunikations-Paradox andersherum: Er macht Autofahrern tatsächlich
etwas streitig, ein paar Zentimeter Asphalt. In diesem Fall gibt es also einen Verteilungskampf, aber
keine Gelegenheit zur Aussprache. Man steht nicht gemeinsam am Grill. Nur für einen Moment
kreuzen sich die Wege zweier Fremder. Und die trennt auch noch Fensterglas, durch das sie wild
gestikulieren.
Es ist fast tragikomisch, in welch gegensätzlichen Aggregatzuständen Auto- und Radfahrer
aneinandergeraten! Klimatisiert, umhüllt, Radio-beschallt sitzt der Durchschnitts-Autofahrer in seinem
Wagen, wenn es wie aus dem Nichts zur Beinahe-Kollision kommt. Randvoll mit Adrenalin strampelt
der typische Radfahrer heran, unter Spannung stehende Muskelmasse, die den nächsten Knall längst
befürchtet.
Wie will man da zueinanderkommen, in den wenigen Sekunden einer Begegnung? Angenommen,
beide Seiten würden sich wider Erwarten bemühen, die Situation gütlich zu klären – was wäre da im
Rückstau los, beim deutschen Normgeschwindigkeitsanspruch auf 50 Stundenkilometer innerorts! Also
fährt man in wortlosem Groll auseinander. Ohne losgeworden zu sein, was man loswerden wollte.
Meine Seele war dafür nicht geschaffen. Es kam zu Gegenreaktionen und Übersprunghandlungen,
ungefähr in dieser Reihenfolge: Ich trat dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) bei. Ich
kaufte mir ein T-Shirt mit dem Slogan Burn fat not oil, "Verbrenn Fett statt Öl". Den moralischen
Beifang, den mir die dringlicher werdende Debatte um das Klima bot, nahm ich gern mit. Ich begann
zu monologisieren, grummelte nach jedem Fast-Unfall Grundsätzliches wie: "Du Arsch da in deiner
Karre. Kostest die Gesellschaft pro Kilometer 15 Cent, während ich ihr 16 Cent erspare." Oder:
"Mannmannmann, allein die Parkplatzsuche macht in Stoßzeiten bis zu 40 Prozent des städtischen
Verkehrs aus! Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir nicht auch noch Platz wegnehme!" Heute bin
ich mir nicht mehr sicher, ob ich manchen Monolog nicht sehr laut geführt habe.
Fest steht leider, dass ich auch begann, auf Motorhauben zu schlagen, rumzuschreien und Leuten den
Stinkefinger zu zeigen. Ich wurde jemand, der sich durch seine Reaktion auf ein Unrecht ins Unrecht
setzte. Einmal beschimpfte ich eine Frau als "Wichserin".
Warum stieg ich nicht vom Rad? Tja. Trotz allem war der Glücksüberschuss vom zauberhaften Anfang
manchmal noch da: Ich wurde nicht mehr krank und war nie erkältet. Zu Hause frühstückte ich
lustvoller und mit mehr Bedacht, stets so, dass ich genug Reserven für die Fahrt haben würde, den
Bauch aber nicht zu voll. Ich erlebte Sonnenaufgänge, die ich sonst verpasst hätte. All das war
bewusstseinserweiternd, ganz ohne Drogen! Ich war dabei, als die Kraniche am Herbsthimmel in den
Süden zogen, und hörte im Frühjahr das Geschnatter der zurückkehrenden Gänse (wenn es dafür auf
der Straße leise genug war). Im Wimmelbild der Stadt wurde ich Zeuge, wie die Gemüsehändler ihre
Waren in den Auslagen drapierten, dabei plauschten und rauchten. Ich war Teil der Welt, also fuhr ich
weiter, die Sinneskanäle offen, für alles Gute und alles Schlechte.
Deshalb passierte es. Ein Sommermorgen, schon früh sehr heiß. Ich schwitzte, auch im Gesicht, und
rollte auf einem Radweg auf eine Kreuzung zu, an der ich Vorfahrt gehabt hätte. An beiden
Straßenseiten standen Bürogebäude, die Ampel vor mir war grün, die Straße voraus frei. Kurz sah ich
mich um, Schulterblick nach hinten, um sicherzugehen, dass kein Rechtsabbieger mehr kommen
würde. Es ist ein Moment, in dem ein Radfahrer die Kontrolle abgibt. Er sieht nicht, was vor ihm
geschieht. Springt die Ampel auf Rot? Läuft ein Kind auf den Radweg? Übersieht man eine
Wurzelschanze?
Plötzlich ein Lichtblitz auf meinem Brillenglas. Ich zog die Bremsen. Und die Bremsen zogen gut. War
mir beim Kauf ja wichtig gewesen.
So überschlug sich im Hamburger Norden ein Radfahrer mittleren Alters auf einem wunderschönen
Aluminiumrad auf einer vollkommen leeren Kreuzung. Bis heute weiß ich nicht, was ich gesehen zu
haben glaubte. Vielleicht hatte sich meine feuchte Wange im Brillenglas gespiegelt. Oder
irgendjemand in den Bürohäusern am Straßenrand hatte ein Fenster gekippt und einen Lichtreflex in
meine Richtung geschickt. Nach all den Erlebnissen zuvor musste ich aber davon ausgehen, dass das
Blech eines Autos aufblitzte. Reine Einbildung, gespeist aus realer Erfahrung. Eine Paranoia, aber
nicht wahnhaft.
Zeitlupenlangsam sammelte ich mich, stand auf, hob mein unversehrtes Rad vom Asphalt und
humpelte blutend von der Kreuzung. Nun fuhren erste Autofahrer in die Szenerie. Sie beäugten mich,
stiegen aber nicht aus, sondern wunderten sich über einen Bekloppten, der sich scheinbar anlasslos
auf die Fresse gelegt hatte. Vermutlich zu schnell gefahren. Wahrscheinlich Selbstüberschätzung.
Typisch Radfahrer.
Natürlich war ich an dem Sturz selbst schuld. Solange man ihn isoliert betrachtet, als Sekunden-
Ereignis. Man kann aber auch sagen: Die Allgegenwart und Allgewalt des Autos beeinflusst und
beeinträchtigt uns sogar dann, wenn kein Auto in der Nähe ist. Leider schlägt sich das in keiner
Verkehrs- und Unfallstatistik nieder.
Nach meinem Sturz diagnostizierte ein Orthopäde einen tiefen Meniskusriss im Knie. Bei der
Operation wählte ich die Narkose vom Unterleib abwärts, so bekam ich mit, wie ein Chirurg ausgiebig
schabte, schälte und schnitt und murmelte: "Viel bleibt da nicht übrig." Anschließend zählte er
Sportarten auf, die ich mir fortan verkneifen sollte. Fußball. Joggen. Tennis. Bergsteigen. Schwimmen
mit Seitschlag. Auf die Frage, was da noch bleibe, antwortete er: "Radfahren."
Mehrere Wochen lief ich auf Krücken. Einige Monate konnte ich mein Bein nicht genug beugen, um
eine Pedalumdrehung hinzukriegen.
Also fuhr ich zunächst Auto.
In Tempo-30-Zonen war ich nun strikt mit 30 unterwegs, in Spielstraßen mit Schrittgeschwindigkeit.
Kam mir an einem Engpass ein Radfahrer entgegen, blieb ich stehen. Hinter mir zorniges Hupen,
einige überholten einfach.
Es war wieder Zufall, wie beim anfälligen Alfa, dass ich in jenen Wochen von einer Radroute las, die
mir zuvor verborgen geblieben war. Für die Hälfte meiner Strecke in die Stadt gab es eine Alternative!
Kaum Straßen, wenig Asphalt, viel Schotter und – welch deprimierender Begriff – eine
"wassergebundene Wegedecke". Das alles entlang eines Bachlaufs, durch Wälder und Grüngürtel.
Mit dem Aluminiumrad kam ich da schwer durch. Also kaufte ich wieder ein neues. Dieses Mal ein
etwas prolliges Gelände-Bike der italienischen Marke Wilier Triestina: bunter Rahmen, dicke Reifen,
22 Gänge, Scheibenbremsen. Erneut gab ich viel Geld aus. Und doch weniger, als man für zwanzig
Tankfüllungen eines Audi Q7 bezahlt.
Nun radle ich wieder. Das Alurad hängt zu Hause an der Wand, wie ein Museumsstück. Mein neues
Gefährt sieht aus wie eine Kampfmaschine, dabei nehme ich nicht mehr am Straßenkampf teil. Von
mir geht keine Dringlichkeit mehr aus, neue Radwege zu bauen, dem Auto ein wenig Stadtraum zu
nehmen. Eine Kapitulation, die meine Freunde beim ADFC vermutlich enttäuscht. Der Verband sagt,
es brauche bloß bessere Infrastruktur, dann würden auch aus traditionellen Autofahrern begeisterte
Radfahrer. Glaube ich nicht, angesichts der trägen Masse von Menschen auch meines Alters, die
sogar samstags mit dem Auto 800 Meter zum Bäcker fahren, um da sechs Brötchen zu kaufen. Doch
ich monologisiere jetzt nicht mehr, manchmal summe ich. Hin und wieder überquere ich aus einem
Waldstück kommend eine der Straßen, die ich früher entlanggehetzt bin. Oft muss ich warten, bis ich
rüberkann. Ich trage einen knallroten Helm und Schuhe in derselben Farbe, sicherheitshalber auch
eine gelbe Jacke und einen reflektierenden Rucksack. Meine Route ist holprig und oft vermatscht.
Wenn ich in meiner Radritter-Rüstung ins Büro komme, ist mein Fahrrad verdreckt und meine Hose
besprenkelt. Ich sehe dann aus wie der Fahrradfundamentalist, der ich nie werden wollte – und meiner
Meinung nach auch nicht bin. Ich gehe nur jenem Wahnsinn auf unseren Straßen aus dem Weg, den
viele nach wie vor für normal halten.
Quelle: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/16/radfahren-strassenverkehr-autos-gefahr-aggression-
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