Siegfried
Trapp
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Gescheiterte Eingriffe in die Zeit-Kultur
oder: Warum der Pflicht-Ganztag, die Früheinschulung, die Verkürzung
der gymnasialen Zeit von G9 auf G8 gescheitert sind bzw. noch scheitern
werden
Rainer Dollase
Anfang der 2000er Jahre gab es eine besondere Angst davor, dass wegen des
demographischen Knicks der Nachwuchs überall fehlen würde – als Arbeitnehmer,
als Rentenzahler, als Gebärende und Zeugende usw. Horror-Rechnungen der
Demographen wiesen nach, dass in einigen Jahrzehnten ein Arbeitnehmer zwei
Rentner finanzieren müsste. Prognosen sind unvermeidlich, aber in aller Regel
scheitern sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit: Das gilt für Wetterprognosen,
Wirtschaftsprognosen und Prognosen über die Beschäftigungszahlen, die Arbeits-
losigkeit und das Wirtschaftswachstum gleichermaßen.
Anfang der 2000er Jahre hat man sich zur Milderung des demographischen Knicks
entschlossen, Kinder früher einzuschulen, sie früher in den Arbeitsmarkt zu
bringen, für Erwachsene den Pensionierungszeitpunkt weiter hinauszuschieben
(Rente mit 67), die Wehrpflicht abzuschaffen – alles Maßnahmen mit dem Ziel die
arbeitende Bevölkerung zu vermehren. Die Entscheidung für G8 entsprang z. B.
derselben Motivation wie die Früheinschulung („früher rein – früher raus“), zumal
man leicht nachweisen konnte, dass in anderen Ländern die jungen Akademiker
und Akademikerinnen früher in das Berufsleben integriert werden als bei uns.
Warum sollte das in Deutschland nicht möglich sein?
Die Antwort ist komplex. Jedes Land hat traditionell eine gewachsene Zeit-Kultur.
Morgens wird gearbeitet, abends hat man Freizeit. Oder: es wird ganz früh gear-
beitet und es gibt eine lange Mittagspause (eine „Siesta“) und spätabends wird die
Arbeit wieder aufgenommen.
An diese Zeit-Kultur passt sich eine gesamte Gesellschaft an bzw. ist ein Motor
derselben: Schulen, Geschäfte und Ladenöffnungszeiten, Fabriken,
Restaurants, Verkehrsangebote etc.
In der Wechselwirkung aller entwickelt sich eine Zeit-Kultur, die ein Kompromiss
der idealen Zeitstruktur-vorstellungen aller Akteure ist. In Deutschland gab es eine
besonders paradoxe Situation: nach der Wiedervereinigung mussten auch zwei
Zeit-Kulturen miteinander synchronisiert werden. In der DDR galt im Schulbereich
die G8 Regelung für Gymnasien – in der alten BRD galt G9. Dass man hier ein
einheitliches Konzept von Zeit-Kultur entwickeln musste, war ein weiterer Grund –
neben der Milderung des demographischen Knicks – durch früheres Verlassen
der allgemeinbindenden Schulen eine Angleichung zu erreichen.
Es ging bei all diesen Fragen nicht um wissenschaftliche Evidenz, was besser
und was schlechter sei. G8 Abiturienten schaffen es in anderen Ländern ja auch
am Studium teilzunehmen, früher eingeschulte Kinder werden auch erwachsen,
besuchen höhere Schulen und studieren – mit derlei Stammtischweisheiten hat
man sich über Bedenken der Wissenschaft hin weggesetzt. Was irgendwo und
irgendwie möglich ist, muss auch bei uns möglich sein. Weil im Einzelfall so gut wie
alles möglich ist heißt das nicht, dass der Durchschnitt auch so reagiert wie der
Einzelfall.
Damals wie heute ist klar, dass alle diese Maßnahmen die Qualität der Ergebnisse
unseres Bildungssystems nicht verbessern. Verbesserungen gelingen weder an
Ganztagsschulen, noch an Gesamtschulen, noch durch G8, noch durch die Ein-
führung eines zweigeteilten Studiums in Bachelor und Master, noch durch eine
frühere Einschulung von Kindern (die übrigens im Kindergarten genauso gut lernen
und sich bilden können wie in der Schule). Dieser Befund ist evidenzbasiert, d. h.
ernstzunehmende Forschung, die immer auch methodisch besonders kritisch ist,
kann dies für den Durchschnitt eindrucksvoll belegen.
Wer mit den o. g. Maßnahmen Erfolge vermelden will, muss also tricksen: z. B. das
Niveau senken oder die Transparenz der Prüfungsanforderungen so stark fördern
(bis hin zur vorherigen Übung der Prüfungsfragen und -antworten), dass es nur
noch „Supernoten“ gibt. Das Bildungssystem passt sich so lange an die neuen
Strukturen an, dass sich heuchlerische Erfolgsmeldungen konstruieren lassen. So
zum Beispiel die „Kompetenzorientierung“ in den bundesdeutschen Lehrplänen, die
natürlich theoretisch auch dazu führen könnte, dass man Schüler und Schülerinnen
schon mit 15 Jahren auf die Uni schickt – experimentell ist nämlich durch Hans
Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik in Frankfurt, nachgewiesen worden, dass
nahezu alle Schüler in diesem Alter eine Leistungskursklausur der Abiturienten
in Biologie bestehen können, da bei der Kompetenzorientierung der
Wissenserwerb sekundär ist. Prüfaufgaben enthalten alles Wissen, das man für die
Lösung einer Aufgabe braucht – wer logisch denken kann, kann eine solche
Klausur schon in jungen Jahren locker bestehen. Deshalb sind lange Schulzeiten
auch nicht mehr nötig.
Wenn man den Erfolg von G8 nur daran misst, wie viele Schüler und
Schülerinnen Abitur gemacht haben, kommt man wegen der Kompetenz-
orientierung auf genauso hohe Zahlen wie bei G9. Durch Taschenspielertricks, die
man als angebliche Fakten ausgibt, will man die Bevölkerung beruhigen. Das ist –
nebenbei bemerkt – Populismus mit Zahlen.
Tatsache ist folgendes: Deutschland (West) hat im Unterschied zu den
angelsächsischen Ländern, die gerne als Vorbild genommen werden (warum
eigentlich?) eine „Vereinskultur“. Schule endet mittags und um die Betreuung,
Bildung und Erziehung der Kinder haben sich in langen Jahrzehnten außerschuli-
sche Pädagogen und Institutionen, also Vereine, Initiativen, Horte etc. gekümmert.
Auch diese haben Kinder gebildet – was die Schulseite immer gerne geleugnet hat,
weil sie für sich den Alleinvertretungsanspruch für Bildung reklamiert (was selbst-
redend falsch ist). Die zeitliche Organisation des Alltags war in der BRD auch
schon anders als in der DDR. In letzterer hatten sich ganz andere Institutionen für
die Zeitstrukturierung bis zum Zubettgehen entwickelt. Deswegen kann es
niemanden wundern, dass G8 eine ziemliche Zumutung für die westdeutsche
Bevölkerung war. Mit G8 wurde eine freie pädagogische Nachmittagskultur
zerstört.
Was geschieht und was ist in den letzten Jahren geschehen? Der Widerstand
gegen G8 hat sich an der Basis ziemlich verstärkt – erste Bundesländer
(Niedersachsen, Hessen) sind zu G9 zurückgekehrt, neuerdings auch das
bevölkerungsreichste Land Deutschlands – Nordrhein-Westfalen – und ein großer
Flächenstaat wie Bayern. Der Druck der Elterninitiativen hat letztlich den Ausschlag
für die Rückkehr zu G9 gegeben – aktuelle Landtagswahlen sind mit Sicherheit
auch durch die G8 und G9 Frage entschieden worden. In NRW hat die Landes-
elternschaft der Gymnasien dem Verfasser einen Auftrag für drei Studien erteilt, an
denen über 50.000 Befragte teilgenommen haben. Die Ergebnisse dieser
methodenkritisch angelegten Studie, in der die Ergebnisse mehrfach abgesichert
wurden, ist völlig eindeutig: an die 80 % der Bevölkerung, und nicht nur der Eltern
von gymnasialen Kindern, favorisiert eine Rückkehr zu G9.
In der oben genannten Untersuchung stellte sich deutlich heraus, dass Eltern,
Schüler und andere, die wahrnehmen, dass die G8 Gymnasiasten stärker belastet
sind, sich eindeutiger für G9 einsetzen. Und kompromissloser. Sind das nur die
schwächeren Schüler? Es gibt deutliche Zweifel daran, da das Problem des
Stresses in Gymnasien mehrere Facetten hat. Die Schüler und Schülerinnen
möchten ein besonders gutes Abitur haben, damit sie auch Numerus Clausus
Fächer studieren können bzw. damit sie attraktive Ausbildungsangebote annehmen
können. Mit einem Abiturschnitt von 3,5 kommt man heute weder an der Uni noch
in Ausbildungsstellen (z. B. Sparkassen) besonders gut an. Stress ergibt sich
also für ehrgeizige Gym-
nasiasten und ihre Eltern dadurch, dass sie besonders gute Noten in der gymna-
sialen Zeit anstreben. Da man zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die von der
Kultusministerkonferenz geforderten 265 Jahreswochenstunden auf acht Jahre
komprimieren musste, ergab sich erstens Stress (weil man Supernoten haben will)
und zweitens auch noch ein Zwang zum verpflichtenden Ganztagsgymnasium.
Damit wurde die Zeit der individuellen Vorbereitung, der nachmittäglichen Ausge-
staltung der Zeitkultur nach der Schule natürlich massiv kürzer – und
unerfreulicher. Es stellte sich Stress ein und der Verzicht auf außerschulische
Bildung.
Wenn man die vorliegenden Ergebnisse richtig deutet, ist also die Rücknahme von
G8 und die Wiedereinführung von G9 dem Druck auf Wiederherstellung der alten
Zeitkultur geschuldet. Es ist vor allem ein Protest gegen einen verpflichtenden
Ganztag. „Verpflichtend“ heißt, für Menschen erklärt, die nicht im pädagogischen
System stecken: „Zwangsganztag“ – gelebt wird nur in der Schule.
Was stört unsere ZeitgenossInnen mit Gymnasialkindern an dieser Zwangs-
verschulung desNachmittags?
Den Unterstützer des verpflichtenden Ganztags ist offenbar entgangen, dass auch
zur Verbindung von Beruf und Familie ein verpflichtender Ganztag der Kinder nicht
mehr zeitgemäß ist, da die Arbeitszeitflexibilisierung auf Seiten der Eltern
nahezu unglaubliche Formen angenommen hat. Fast die Hälfte der
bundesdeutschen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen arbeitet nicht mehr in einer
„nine to five“ Arbeitszeit, sondern in unterschiedlichen Modellen bis zur völligen
Selbstbe-stimmung der Arbeitszeit (Teilzeit, individuelle Arbeitszeiten, flexible
Tages- und Wochenzeiten, Vertrauensarbeitszeiten, flexible Jahres- und
Lebensarbeits-zeiten, Telearbeit). Wer dann Kinder in einem Zwangsganztag hat,
kann Freizeit nicht mehr mit seinen Kindern verbringen.
Die Schule verhindert dann das Familienleben.
Neue Aufgabe für Bildungsideologen: „Wie können wir Familie und Schule
vereinbaren?“ statt:
„Wie können wir Familie und Beruf verbinden?“
Ein freiwilliger Ganztag ist deshalb nötig, d. h. es muss zwar für Zeiten außerhalb
des Schulunterrichts (der mittags enden sollte) für eine angemessene Betreu-
ung und Erziehung der Kinder eine Garantie gegeben werden können – aber mit
freiwilliger Teilnahme.
Nachmittags sollten auch keine Unterrichtsstunden liegen – dafür ist morgens Zeit.
Die reinen Lernzeiten über den Tag zu garnieren, als „Rhythmisierung“ oder
„Periodisierung“ euphemistisch bezeichnet, (z. B. morgens ein bisschen Makrame,
dann Mathematik, dann Sport, dann Theater AG, dann Mittagessen, dann Latein
und Englisch) widerspricht der Zeitkultur einer modernen Industrienation, die das
Credo „erst die Arbeit, dann das Spiel“ sozialisatorisch verinnerlicht hat.
Periodisierung und Rhythmisierung ist die Zeitkultur von Bummelanten. In eigenen
Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass insbesondere leistungs-
motivierte junge Menschen eine Blockung der Arbeits- und Freizeiten wünschen:
also morgens Schule und nachmittags Freizeit bzw. selbstbestimmte Lernzeit und
kein unsystematisches Durchmischen von Arbeits- und Freizeiten.
Aus diesen Gründen wird weder der verpflichtende Ganztag mit einer Rhythmi-
sierung oder Periodisierung eine Chance haben noch die Verkürzung der
gymnasialen Zeit. In der Schule – so die Meinung der meisten – kann man nicht
ganztags lernen. Wer wirklich vorankommen will, braucht echte Freizeit, echte
Eigenzeit, Ruhe zum Arbeiten – ohne die Störung durch Kollektive, wie im Ganztag
zwangsläufig üblich. Da die Leistungsnormen und Leistungsziele (besser: Noten-
ziele) der Eltern und Schüler derartig gestiegen sind, dass sie nur allerbeste
Noten haben wollen (das gilt übrigens auch für die langen Studienzeiten, die nur
deshalb so lang sind, weil alle eine 1 oder mindestens eine 2 vor dem Komma ihrer
Abschlussnote haben wollen). Und um dieses Niveau zu erreichen, braucht man
mehr ungestörte private Lernzeit.
Entschleunigung also – im Dienste der leichteren Erreichbarkeit von optimalen
Abschlussergebnissen.
Deshalb werden alle Formen der Beschleunigung von Schulstrukturen scheitern.
Prof. Dr. Rainer Dollase
• Dipl. Psych., Jahrgang 1943, Studium er Psychologie in Saarbrücken, Köln und Düsseldorf, empirischer
Bildungsforscher an den Hochschulen Aachen, Köln, Hochschullehrer in Essen und
Bielefeld bis 2008
• Schwerpunkte in Forschung und Lehre:
Vorschulerziehung – Früheinschulung, Entwicklung und Erziehung, Fremdenfeindlichkeit, Freizeit und
musikalische Sozialisation, Evaluationsforschung zu schul- und bildungspolitischen Fragestellungen
• Evaluation und Reform des Qualitätsmanagements, classroom management, Umfrage zur G8/G9-
Problematik
• Aktuelle Buchveröffentlichungen:
„Classroom Management. Theorie und Praxis des Umgangs mit Heterogenität“ (Band 142 des
Schulmanagement – Handbuch, Oldenbourg Verlag, 2012), „Gruppen im Elementarbereich“ (2015,
Kohlhammer)
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