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Die Welt wird ärmer
Die Natur erbringt jedes Jahr Dienstleistungen im Wert von mehreren Billionen
Euro. Doch ihre Kraft schwindet dramatisch. Wir leben mehr denn je von der
Substanz.
von Christopher Schrader
©
alffoto / Getty Images / iStock (Ausschnitt)
Die Welt ist dabei, den Zauber ihrer Vielfalt zu verlieren. Viele, gerade wohlhabende
Staaten leben weit über ihre Verhältnisse und damit letztlich auf Kosten anderer. Nur
noch ein Viertel aller Landflächen ist unberührt, überall auf der Welt geht die
Biodiversität zurück, und die Natur ist immer weniger in der Lage, die Funktionen im
Leben der Menschen zu erfüllen, auf die diese sich – zunehmend gedankenlos –
verlassen. Wahrlich, es ist kein freundliches Bild, das die Forscher da zeichnen, sondern
ein ziemlich düsteres, mit bedrückenden Ergebnissen und höchstens einem Hauch
zartrosa Hoffnung.
Die schonungslose Analyse stammt vom internationalen Wissenschaftlergremium
IPBES, dem Weltrat für Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen. Der sperrige
Name der erst 2012 gegründeten Organisation mit 129 Mitgliedsstaaten mag dazu
beitragen, dass sie eher unbekannt ist und im Schatten des ähnlich strukturierten
Weltklimarats IPCC steht. Gerade in Deutschland war das Medienecho auf die Berichte
der Umweltforscher im Vergleich zum englischsprachigen Raum besonders gering.
Zudem, das hat der Vorsitzende Robert Watson beobachtet, klingen Biodiversität und
Ökosystem-Dienstleistungen für viele Menschen wie ein verstaubtes, akademisches
Thema. Er widerspricht sogleich: »Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Sie sind
das Fundament unserer Ernährung, von sauberem Wasser und Energie. Sie bilden das
Herz nicht nur unseres Überlebens, sondern auch der Kulturen, Identitäten und der
Freude am Leben.« Eine Natur im Gleichgewicht liefert eben nicht nur die Lebens-
grundlagen, sondern schützt auch vor Unwettern und Fluten, beseitigt viele Abfallstoffe
und ermöglicht Erlebnisse wie einen Waldspaziergang oder das Beobachten friedlich
grasender Nashörner.
Der IPBES hat seit dem 17. März 2018 bei einer Konferenz in Medellin, Kolumbien
gleich fünf neue Berichte fertig gestellt. Als Erstes hat das Gremium davon wie üblich
jeweils eine Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger veröffentlicht, die,
wie in dem Gremium und beim IPCC üblich, mit Regierungsvertretern der Mitglieds-
staaten abgestimmt wurden. Sie bilden damit eine gemeinsame Einschätzung, hinter
die die beteiligten Staaten nicht mehr zurückkönnen. Der Preis für dieses Vorgehen ist
freilich, dass in der letzten Sitzung manche Formulierung weichgespült wird. Erst in
den vollen Berichten, die demnächst erscheinen, haben die Forscher allein die Hoheit
über den Inhalt.
Einer der fünf Berichte behandelt die Degeneration und den Verlust von ertragfähigen
Landflächen, die ausgelaugt werden oder sogar zu Wüsten verkommen. Die vier
anderen widmen sich den Regionen Europa und Zentralasien, Asien und Pazifik, den
Amerikas sowie Afrika und analysieren dort den Zustand der Umwelt. Die wachsende
Bevölkerung, der zunehmende Wohlstand, Monokulturen in der Landwirtschaft und
der Verlust von traditionellem Wissen setzen besonders der biologischen Vielfalt stark
zu. Der Klimawandel wiederum verstärkt die anderen Einflussfaktoren und wird
teilweise selbst von ihnen angetrieben.
Immense Dienstleistung der Natur
All diese Prozesse nagen am Reichtum, den die Natur bereitstellt. Ihre Dienstleistungen
sind zum Beispiel in Amerika 24 Billionen US-Dollar (19 Billionen Euro) pro Jahr wert
– das entspricht laut IPBES dem konventionell ermittelten Wirtschaftsprodukt der
Region. Auf Brasilien entfallen 6,8, auf die USA 5,3 Billionen US-Dollar. Doch 65
Prozent dieser Dienstleistungen gehen tendenziell zurück, stellt das Forschergremium
fest – 21 Prozent davon sogar stark. Einen solchen Detailreichtum indes enthalten die
übrigen Berichte nicht. In Asien und Afrika scheitert die Kalkulation an der mangel-
haften Datenbasis. Über Europa und Zentralasien immerhin gibt es die Angabe, dass
schon Teile des Ökosystems 10,8 Billionen Dollar pro Jahr wert sind, aber auf eine
belastbare Gesamtsumme konnten sich die Forscher dem Vernehmen nach nicht
einigen.
Trotz seines natürlichen Wohlstands führt Europa so viel Nahrungs- und Futtermittel
ein, dass es eine zusätzliche Fläche in der Größe Deutschlands bräuchte, um alles selbst
zu produzieren. Diese Felder, Wälder und Weiden liegen jedoch auf anderen
Kontinenten. »Das finde ich persönlich eines der gravierendsten Ergebnisse unserer
Studie«, sagt Jennifer Hauck vom Umweltforschungszentrum Halle-Leipzig und der
Beratungsfirma CoKnow, die am Europa-Report mitgearbeitet hat. »Damit trägt unser
aller Handeln indirekt nicht nur zum Verlust der Arten vor unserer Haustüre bei,
sondern weltweit. Vor allem wir Westeuropäer hinterlassen enorme Fußabdrücke in
verschiedenen Teilen der Welt.«
Diese Fußabdrücke haben die Forscher im Fall von Europa und Zentralasien sogar
quantifiziert, und zwar in Form von Anbauflächen. Insgesamt stehen hier für jeden
Menschen 2,9 Hektar Biokapazität zur Verfügung, er verbraucht aber Güter von 4,6
Hektar – ist also sozusagen mit 1,7 Hektar im Soll. In Deutschland liegt die Differenz
noch höher, zwischen 2,4 und 4,6 Hektar. Die USA, so kann man dem Amerika-Bericht
entnehmen, kommen auf minus fünf Hektar.
Diese Defizit-Angabe ist keine reine Rechengröße, wie der IPBES feststellt, denn die
fehlende Kapazität kann drastische Folgen haben, wenn eine Nation nicht das Geld hat,
einfach alles zuzukaufen, was sie braucht. In manchen Ländern Zentral- und Ost-
europas sowie Zentralasiens bedrohen die massiven Exporte von Ländereien, die
inzwischen Besitzer in Westeuropa oder woanders haben, bereits die Nahrungsmittel-
sicherheit. Das heißt, dort wird die Fläche genutzt, um die Bedürfnisse der reichen
Westeuropäer zu decken, und für die Einheimischen bleibt nicht genug übrig. Vor
solchem "Land-Grabbing" durch fremde Investoren warnen auch die Autoren des
Afrika-Berichts.
Wald stirbt für Fleisch
Brasilien gehört ebenfalls zu den Ländern, die Ackerflächen für die Bedürfnisse der
reichen Länder im Norden bereitstellen. Das Land ist dem IPBES eine der wenigen
detaillierten Erwähnungen wert – sonst, sagen beteiligte Forscher, habe der Platz in den
etwa 40-seitigen Zusammenfassungen nicht für viele Beispiele gereicht, und man habe
auch nicht einzelne Staaten herausstellen und in ein schlechtes Licht rücken wollen.
Doch in Brasilien schreitet der Verlust von Naturflächen besonders rapide voran. So hat
sich die Ackerfläche im Nordosten des Landes zwischen 2003 und 2013 von 1,2 auf 2,5
Millionen Hektar verdoppelt. Drei Viertel der Felder wurden aus intakten so genannten
Cerrados geschnitten. Solche Ökosysteme stehen weit weniger im Fokus der
Öffentlichkeit als der Amazonasregenwald, der inzwischen leidlich ge-schützt wird, sind
aber auch wichtig. Doch in Brasilien kommt es häufig vor, dass über zig Kilometer
entlang einer Überlandstraße innerhalb weniger Jahre aus ursprüng-lichem Wald
gewaltige Sojafelder oder Eukalyptusplantagen werden, ohne dass sich die jeweilige
Staatsregierung groß dafür interessiert oder Einfluss nehmen könnte.
Solche Abholzung und Umnutzung ist oft der erste Schritt zu einer Degeneration und
dem eventuellen Verlust der Landflächen, stellt der fünfte der neuen Berichte fest. 1,5
Milliarden Hektar natürliches Ökosystem (410-mal die Fläche Deutschlands) waren bis
2014 bereits in Anbauflächen umgewandelt worden. Nur noch 25 Prozent der Erdober-
fläche sind unberührt, und der Prozess geht beschleunigt weiter: 2050 dürften es bloß
noch zehn Prozent sein, schätzen die Wissenschaftler.
Diese Prozesse kosteten die Staaten der Welt viel Geld, so der IPBES: Etwa zehn
Prozent der Weltwirtschaftsleistung des Jahres 2010, das wären ungefähr sechs
Billionen Dollar, gingen durch die Degeneration von Land verloren. Feuchtgebiete sind
davon besonders stark betroffen, sagt der Italiener Luca Montanarella, der beim Bericht
über Flächenverluste den Ko-Vorsitz hatte. Seit Beginn der modernen Zeit sind 87
Prozent umgewandelt worden, seit 1900 allein 54 Prozent. Europa hat seit 1970 die
Hälfte seiner Feuchtgebiete verloren. Insgesamt gefährdet die Degeneration von Land
die Lebensgrundlage von 3,2 Milliarden Menschen, so der IPBES-Bericht.
Umweltschützer zeigen sich anhand der vorgestellten Analysen entsetzt. »Die
Zustandsberichte belegen, wie schlecht es um die Natur und die biologische Vielfalt auf
unserem Planeten bestellt ist«, kommentiert der WWF-Experte Günter Mitlacher die
Berichte. »Das Ergebnis ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine zutiefst
menschliche Katastrophe.« Alice Jay, Sprecherin der internationalen Initiative Avaaz,
ergänzt: »Die Menschheit legt die Kettensäge an den Baum des Lebens. Die Ausrottung
von Arten tritt nun offiziell neben den Klimawandel als große Gefahr für die Zukunft.«
Welche Auswege gibt es?
Doch die IPBES-Forscher formulieren auch vage Auswege aus der Krise: Proaktive
Entscheidungen in Umweltfragen, Umweltmanagement und Kooperation zwischen
Staaten zeigten sich in den erstellten Zukunftsszenarien und -simulationen immer
wieder als Erfolgsfaktoren. Es gebe außerdem erste ermutigende Trends bei Schutz-
gebieten und Waldbedeckung. In Asien etwa reißt vor allem der Nordosten des
Kontinents, wo die Forstflächen seit 1990 um fast ein Viertel gewachsen sind, den Rest
heraus. Irene Ring von der Technischen Universität Dresden, eine weitere Autorin des
Europa-Reports, hebt zudem eine politische Idee Portugals hervor, das Gemeinden mit
hohem Anteil an Schutzgebieten beim Finanzausgleich besserstellt. »Wir bräuchten
allerdings speziell für Deutschland ein umfassendes, nationales Ökosystem-
Assessment, das leider immer noch aussteht.«
Die Zahlen und Instrumente reichen jedoch bei Weitem nicht, so die Forscher des
IPBES: »Es braucht eine weit reichende gesellschaftliche Transformation, die eine
Änderung unserer Lebensstile einschließt«, sagt Jennifer Hauck. Die gleiche Botschaft
hat Josef Settele, ebenfalls vom Umweltforschungszentrum, der als Ko-Vorsitzender
einer Arbeitsgruppe bis zum Jahr 2019 einen zusammenfassenden globalen Bericht
erstellen will. »Lösungen hängen vor allem an Lebensstilen, die insbesondere – aber
nicht nur – in entwickelten Ländern vorherrschend sind und durch internationale
Vernetzungen auch Konsequenzen weit außerhalb der jeweiligen Staaten haben.«
Sollte das nicht bald beginnen, enthalten die IPBES-Berichte eine ernste Warnung, die
die Generalsekretärin Anne Larigauderie ausspricht: »Das Versagen der Politik, den
Rückgang der Biodiversität und die Degeneration von Land zu stoppen, gefährdet
ernsthaft die Chance jeder Region und fast jedes Landes, seine globalen
Entwicklungsziele zu erreichen. Reiche, vielfältige Ökosystem sind unsere
Versicherungspolice gegen unvorhergesehene Katastrophen.«
26,03,2018
https://www.spektrum.de/news/die-welt-wird-aermer/1555308
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