Siegfried Trapp
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[Text A]  Eine kritische Theorie der Meinung Für Meinungen und ihre Bedeutung begann Eric-John Russell sich zu interessieren, nachdem Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden war. Dem erklärten Selfmade-Präsidenten genügte sein Twitter-Account mit fast 90 Millionen Followern, um politische Debatten nach Belieben anzustoßen oder zu dirigieren. Nicht Berichte, Ausschüsse und lange Beratungen, sondern Kurznachrichten mit 140 Zeichen prägten seine Politik. Und nicht nur die. „Meinungen sind im Aufwind“, sagt Eric-John Russell. „Für viele Menschen bilden sie die Basis dessen, was sie über die Welt wissen. Dabei ‚besitzen‘ Meinungen eine erstaunliche Gewissheit – und eine scheinbar enge Beziehung zum Konzept der Wahrheit.“ Bestes Beispiel seien die Diskurse rund um die Entwicklungen der Corona-Pandemie. Jeden Tag neue Nachrichten, neue Informationen und neue Meinungen. „Plötzlich wurden alle über Nacht zu Experten – und zwar vor allem auf der Basis von Meinungen.“ Das Besondere dieser neuen Meinungsmacht sei, dass sie sich behauptet, selbst wenn wissenschaftliche Evidenz gegen sie steht, erklärt der Philosoph. „Sie besitzen eine ungeheure Unveräußerlichkeit. Die Philosophie der Meinung: Was macht sie aus? Wie lässt sie sich von anderen Denkformen wie Glaube oder Weltanschauung unterscheiden? Welche Eigenheiten hat die Meinungsäußerung als Kommunikationsform? Welche Rolle spielt sie für unsere Gesellschaft? Und wie hat sie sich im Laufe der Geschichte verändert? Denn die (persönliche) Meinung war eben nicht immer schon das Nonplusultra der Selbstfindung oder -behauptung. Einer der ersten, die ihr einen Platz im Haus des Wissens zuwiesen, war der griechische Philosoph Platon. In seiner „Republik“ stellte er der Meinung (doxa) das Wissen (episteme) gegenüber, wobei nur letzteres uns zu weisem Handeln befähigt. Im Laufe der Jahrhunderte übernahmen wechselnde Quellen die Aufgabe, dieses Wissen zu speisen – erst der Verstand, danach verschiedenste Religionen und dann wieder die Vernunft. Der Meinung blieb meist die Schmollecke weitgehender Wertlosigkeit. „Die tödliche Krankheit des Menschen ist seine Meinung, er wisse“, schrieb der französische Philosoph Montaigne im 16. Jahrhundert. Sein englischer Kollege Thomas Hobbes trat rund 100 Jahre später nach: „Eine Meinung gibt etwas Gesagtes für wahr an, obwohl es sich manchmal um absurde Worte handelt, die nichts bedeuten und unmöglich zu verstehen sind.“ Gleichwohl wusste er um ihren Einfluss: „Die Welt wird von der Meinung regiert.“ 200 Jahre später klärte der Aufklärer Immanuel Kant sie gleich mit auf: „Meinung ist ein Glaube, der sich bewusst ist, sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichend zu sein.“ Ihm galt sie als defizitär, aber tolerierbar, wenn sie ihre Beschränktheit einsieht. Basis der öffentlichen Meinung ist nicht Wissen, sondern eine Vielzahl von Meinungen, die im schlimmsten Fall auch eine Vielzahl von Unwahrheiten hervorbringen können. Hegel würde sagen: Die öffentliche Meinung sollte respektiert werden – und zugleich verachtet. Denn schon der dahinterstehende Wille der Menschen enthalte unauflösliche Widersprüche. Meinungen versprechen eine verloren geglaubte Gewissheit und wir können sie allein aus uns selbst schöpfen. Wenn die Welt um uns herum immer unsicherer wird, Katastrophen einander jagen, ein Tag schlimmer als der andere anmutet, ist durchaus nachvollziehbar, dass Menschen sich nach innen wenden und nur auf ihre Meinungen vertrauen. Meinungen sind Urteile über die Welt, die wir fällen, wenn wir aufgehört haben sie anzusehen. Meinungen über die Welt sind Urteile über sie ohne Bezug zur Realität. verkürzt nach: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023-01-26-ich-meine-also-bin- ich-eric-john-russell-erforscht-die-philosophie-der-meinung [Text B]  Öffentlichkeit und öffentliche Meinung im Wandel Wolfgang Schweiger In demokratischen Gesellschaften gilt die Öffentlichkeit als der Raum, in dem Bürgerinnen und Bürger sowie gesellschaftliche Akteure politische Probleme und Konflikte diskutieren. Der öffentliche Diskurs beeinflusst und legitimiert – neben freien Wahlen – die Entscheidungen demokratischer Institutionen. Mit dieser Vorstellung prägt Jürgen Habermas (1962) unser Verständnis von politischer Öffentlichkeit bis heute. Er betrachtet eine ideale Öffentlichkeit als offenen Diskurs zu gesellschaftsrelevanten Themen, an dem sich alle interessierten und informierten Bürgerinnen und Bürger ohne Standes- und Machtunterschiede beteiligen können. In einer argumentativ-rationalen, höflichen bzw. gewaltfreien, verständigungsorientierten und wahrheitsgemäßen Diskussion tauschen sie ihre Forderungen und Argumente aus. Das meiste Gehör finden nicht die Lautesten, sondern die besten Argumente. Auf diese Weise kommt eine „diskursgestählte“ öffentliche Meinung zustande, die im Idealfall eine konsentierte Problemlösung ermöglicht – meist als Kompromiss – oder zumindest einen begründeten Dissens feststellt. Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 12-15 Die Medienöffentlichkeit wird dominiert von einflussreichen Akteuren, die sich meist von renommierten und/oder prominenten Sprechern vertreten lassen. Zu Recht klagen kleine und neue Akteure über Zugangsbarrieren zur Medienöffentlichkeit, was Habermas bereits 1962 als „Vermachtung“ der Öffentlichkeit bemängelte. Die Bürger als Publikum verfolgen den öffentlichen Diskurs in der Medienarena mehr oder weniger aufmerksam, diskutieren die Themen untereinander und bilden sich so ihre Meinung. Die individuellen Meinungen der Bürger – genauer: einer repräsentativen Stichprobe aller Bürger – werden mittels demoskopischer Befragungen erfasst. Als öffentliche Meinung fließen sie wiederum in die Medienberichterstattung und den öffentlichen Diskurs ein. Dadurch wird die öffentliche Meinung für Parteien und Regierende erkennbar und prägt ihre politische Kommunikation und ihre Entscheidungen mit (Responsiveness). Lange Zeit gelten Journalisten als alleinige Gatekeeper für den Zugang zur Medienöffentlichkeit. Dabei orientiert sich die Nachrichtenauswahl vieler Medien nicht nur an gesellschaftlicher Relevanz, sondern auch an den Vorlieben und Interessen ihres Publikums. Besonders private Medien kämpfen aus wirtschaftlichen Gründen um Publikumsreichweiten. Der daraus resultierende Trend zur Boulevardisierung verstärkt sich mit der Verbreitung des Internets weiter. Aus verschiedenen Gründen sinken nicht nur die Einnahmen der gedruckten Presse, sondern der meisten journalistischen Medien insgesamt. Das führt in vielen Redaktionen zu Einsparungen und erhöht ihre Anfälligkeit und Abhängigkeit gegenüber PR-Einflüssen. Damit verschieben sich die Inhalte der Medienöffentlichkeit weiter weg vom Habermas’schen Ideal eines lösungsorientierten, argumentativen und fairen Diskurses und hin zu mehr Personalisierung, Emotion und Stimmung.Seit ca. 2000 sind nahezu alle journalistischen Medien im Internet präsent. Nachrichten- Websites werden zu viel genutzten Nachrichtenquellen. Anfänglich unterscheiden sich traditioneller und Onlinejournalismus kaum. Es verschärfen der Aktualitätsdruck und der stete Kampf um Reichweiten im Netz die Boulevardisierung, Verflachung und Emotionalisierung der Berichterstattung weiter. Nicht wenige Medien suchen ihr Heil in verstärktem Häppchen- und Clickbait-Journalismus. Gleichzeitig verliert der Journalismus sein Nachrichtenmonopol. Im Netz erreichen Parteien, Politik, politische Interessengruppen und alle anderen die Bürgerinnen und Bürger über eigene Websites und Social Media direkt und ohne auf journalistische Medien angewiesen zu sein (Journalism Bypassing). Die Bürgerinnen und Bürger können nun die Themen, Fakten und Interpretationen der Nachrichtenmedien mit den Darstellungen der politischen Akteure selbst vergleichen. Nicht selten steht Aussage gegen Aussage, wie etwa bei Donald Trumps getwitterten Fake-News-Vorwürfen gegen die „New York Times“ und andere US-Nachrichtenmedien. Auch (rechts-) alternative Medien wie „Epoch Times“, „Jouwatch“ oder die vom Kreml finanzierten Angebote RT Deutsch oder Sputnik greifen den Journalismus an. Sie werfen ihm Abhängigkeit von Politik und Wirtschaft vor („Systemmedien“) und deshalb unvollständig, verzerrt oder unwahr zu berichten („Lügenpresse“). Ihr journalistischer und wirtschaftlicher Hintergrund ist oft intransparent. Um politische Botschaften erfolgreich im Netz zu verbreiten, schrecken sie nicht vor Halbwahrheiten, Verdrehungen, teils auch Lügen zurück (Fake News). Damit erreichen sie, wie auch viele populistische Politikerinnen und Politiker, in den sozialen Medien Millionen Menschen Schließlich werden auch die Bürgerinnen und Bürger aktiv. War ihnen bisher lediglich die Rolle des Publikums vorbehalten, erlauben ihnen die neuen Techniken des Web 2.0 seit Mitte der 2000er- Jahre einen offenen und egalitären Zugang zur Öffentlichkeit. Auf vielen Nachrichtenportalen können sie Beiträge kommentieren und eigene Inhalte veröffentlichen. Auch in Blogs, Foren und vor allem auf sozialen Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube findet „öffentliche Bürgerkommunikation“ statt (Schweiger 2017). Man spricht von partizipativem oder Bürgerjournalismus und hofft auf eine Vitalisierung der Demokratie durch egalitäre Kommunikation und Beteiligung im Netz. Dazu passend bezeichnen aktuelle Definitionen Öffentlichkeit als „Räume verdichteter politischer Kommunikation“ (Brüggemann u.a. 2009, S. 394) und beschreiben sie als Netzwerk miteinander Kommunizierender. Der freie Zugang zur Netzöffentlichkeit führt zu einem „Publizitätsparadox“: Je einfacher es wird, etwas zu publizieren, desto mehr Quellen und Inhalte gibt es und desto geringer ist ihre durchschnittliche Chance auf öffentliche Beachtung bzw. Publizität. Das Publikum leidet unter Informationsüberlastung. Deshalb gewinnen seit etwa 2010 Intermediäre an Bedeutung. Sie tragen Inhalte aus dem gesamten Internet zusammen und filtern für ihre Nutzerinnen und Nutzer die Quellen und Inhalte heraus, die ihren persönlichen Interessen entsprechen (Personalisierung). Die wichtigsten Intermediäre sind Suchmaschinen, allen voran Google, soziale Netzwerke und Messenger wie Facebook, Instagram, WhatsApp (alle Facebook), YouTube (wieder Google), Twitter sowie News-Aggregatoren (noch einmal Google). Die Personalisierung basiert auf bewussten Auswahlentscheidungen der Nutzerinnen und Nutzer: Einmal favorisierte Quellen und Inhalte werden, wie in einem Abonnement, dauerhaft angezeigt. Algorithmen optimieren die Personalisierung weiter. Sie erfassen Eigenschaften und das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer sowie ihre persönlichen Netzwerke und zeigen nur noch passende Quellen bzw. Inhalte an. Das macht algorithmisch-personalisierte Kanäle beliebt. Aus gesellschaftlicher Sicht sind mit diesen Segnungen Befürchtungen verbunden (vgl. Schweiger u.a. 2019). Denn so können fragmentierte (Teil-)Öffentlichkeiten entstehen. Deren Mitglieder weisen relativ homogene Interessen, Einstellungen und Weltbilder auf, bevorzugen meinungskonsonante Nachrichten(-quellen) und bekommen diese in algorithmisch-personalisierten Kanälen auch überwiegend präsentiert. Sie stehen mit anderen Meinungslagern nur wenig in Kontakt und befinden sich, metaphorisch gesprochen, in einer Filterblase (Pariser 2011). Innerhalb der Filterblasen kursieren überwiegend Beiträge und Meinungsäußerungen aus dem eigenen Lager. Das kann zu einer verzerrten Wahrnehmung der öffentlichen Meinung beitragen, die Nutzern suggeriert, das eigene Meinungslager sei stärker, als es tatsächlich ist. Das macht Menschen redebereiter, als sie es ansonsten wären, und sie schaukeln sich gegenseitig hoch (Echokammer). Die wahrscheinliche Folge einer solcherart veränderten Meinungsbildung ist eine Polarisierung der Lager und letztlich der gesamten Gesellschaft (Schweiger u.a. 2019). Extreme Filterblasen und Echokammern sind in Deutschland nicht nur rund um die AfD zu vermuten, sondern auch in Teilen der deutschrussischen und türkischen Communitys und natürlich auch in der linken Szene. Journalistische Medien sind in solchen Filterblasen ein irritierender Fremdkörper. Denn deren Ansatz einer ausgewogenen, vielfältigen und wahrheitsgemäßen Nachrichtenauswahl und -berichterstattung konfrontiert diese Menschen zwangsläufig mit meinungsdissonanten Nachrichten und Weltbildern und wird deshalb als „Lügenpresse“ abgelehnt (Schweiger 2017). Entsprechend dominant sind hier die Beiträge alternativer Quellen und populistischer Politikerinnen und Politiker. Diese Effekte werden durch beabsichtigte und unbeabsichtigte Desinformation verschärft. Denn Intermediäre präsentieren Inhalte unterschiedlichster Quellen – journalistische Medien, alternative Angebote, Politik, Bürgermeinungen – unmittelbar nebeneinander. Selbst medienkompetenten Menschen fällt es schwer, die Herkunft, Qualität, Relevanz und den Wahrheitsgehalt von Informationen einzuschätzen. Auf diese Weise werden etwa Verschwörungstheorien mit journalistischen Nachrichten verwechselt. Fragwürdige Nischenangebote erreichen nun Millionen Menschen und werden so öffentlich wirksam.Auch in der algorithmisierten Netzöffentlichkeit gelten die Gesetze des Boulevards. Und wenn sich Inhalte und Meinungen viral verbreiten, sind es meist unterhaltende, emotionale bzw. emotionalisierende Inhalte. Darunter befinden sich auch Hasskommentare und Fake News. Ausgewogene Nachrichten, nüchterne Fakten und Argumente genießen weniger Publizität (vgl. z.B. Vosoughi u.a. 2018). Die aktuelle Öffentlichkeit schafft also ideale Bedingungen für Populisten und Alternativangebote mit ihren Hasstiraden, Halbwahrheiten und „alternativen Fakten“. Gleichzeitig geht die Bedeutung der klassischen Medien zurück. In Teilen der Bevölkerung leiden sie unter einem Vertrauensschwund. Damit steht die Rolle des Journalismus, den öffentlichen Diskurs zu moderieren, dessen Vielfalt, Gesellschaftsrelevanz, Qualität und Wahrheit und damit auch die individuelle Meinungsbildung sicherzustellen, unter Druck. Was bedeutet das alles für unsere Demokratie(n)? Dass der Populismus ein „Nutznießer“ des beschriebenen Wandels ist, steht außer Frage. Wie dieser Prozess jedoch weitergeht, weiß niemand. Sicher scheint: Die Art, wie Öffentlichkeit und öffentliche Meinung funktionieren, wird sich weiter und vermutlich immer schneller ändern. verkürzt nach: https://mediendiskurs.online/beitrag/oeffentlichkeit-und-oeffentliche-meinung-im-wandel/
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Foto: Liesa Johannssen/reuters
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[Die Philosophie der Meinung]  Eine kritische Theorie der Meinung Für Meinungen und ihre Bedeutung begann Eric- John Russell sich zu interessieren, nachdem Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden war. Dem erklärten Selfmade-Präsidenten genügte sein Twitter-Account mit fast 90 Millionen Followern, um politische Debatten nach Belieben anzustoßen oder zu dirigieren. Nicht Berichte, Ausschüsse und lange Beratungen, sondern Kurznachrichten mit 140 Zeichen prägten seine Politik. Und nicht nur die. „Meinungen sind im Aufwind“, sagt Eric-John Russell. „Für viele Menschen bilden sie die Basis dessen, was sie über die Welt wissen. Dabei ‚besitzen‘ Meinungen eine erstaunliche Gewissheit – und eine scheinbar enge Beziehung zum Konzept der Wahrheit.“ Bestes Beispiel seien die Diskurse rund um die Entwicklungen der Corona-Pandemie. Jeden Tag neue Nachrichten, neue Informationen und neue Meinungen. „Plötzlich wurden alle über Nacht zu Experten – und zwar vor allem auf der Basis von Meinungen.“ Das Besondere dieser neuen Meinungsmacht sei, dass sie sich behauptet, selbst wenn wissenschaftliche Evidenz gegen sie steht, erklärt der Philosoph. „Sie besitzen eine ungeheure Unveräußerlichkeit. Die Philosophie der Meinung: Was macht sie aus? Wie lässt sie sich von anderen Denkformen wie Glaube oder Weltanschauung unterscheiden? Welche Eigenheiten hat die Meinungsäußerung als Kommunikationsform? Welche Rolle spielt sie für unsere Gesellschaft? Und wie hat sie sich im Laufe der Geschichte verändert? Denn die (persönliche) Meinung war eben nicht immer schon das Nonplusultra der Selbstfindung oder - behauptung. Einer der ersten, die ihr einen Platz im Haus des Wissens zuwiesen, war der griechische Philosoph Platon. In seiner „Republik“ stellte er der Meinung (doxa) das Wissen (episteme) gegenüber, wobei nur letzteres uns zu weisem Handeln befähigt. Im Laufe der Jahrhunderte übernahmen wechselnde Quellen die Aufgabe, dieses Wissen zu speisen – erst der Verstand, danach verschiedenste Religionen und dann wieder die Vernunft. Der Meinung blieb meist die Schmollecke weitgehender Wertlosigkeit. „Die tödliche Krankheit des Menschen ist seine Meinung, er wisse“, schrieb der französische Philosoph Montaigne im 16. Jahrhundert. Sein englischer Kollege Thomas Hobbes trat rund 100 Jahre später nach: „Eine Meinung gibt etwas Gesagtes für wahr an, obwohl es sich manchmal um absurde Worte handelt, die nichts bedeuten und unmöglich zu verstehen sind.“ Gleichwohl wusste er um ihren Einfluss: „Die Welt wird von der Meinung regiert.“ 200 Jahre später klärte der Aufklärer Immanuel Kant sie gleich mit auf: „Meinung ist ein Glaube, der sich bewusst ist, sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichend zu sein.“ Ihm galt sie als defizitär, aber tolerierbar, wenn sie ihre Beschränktheit einsieht. Basis der öffentlichen Meinung ist nicht Wissen, sondern eine Vielzahl von Meinungen, die im schlimmsten Fall auch eine Vielzahl von Unwahrheiten hervorbringen können.  Hegel würde sagen: Die öffentliche Meinung sollte respektiert werden – und zugleich verachtet. Denn schon der dahinterstehende Wille der Menschen enthalte unauflösliche Widersprüche. Meinungen versprechen eine verloren geglaubte Gewissheit und wir können sie allein aus uns selbst schöpfen. Wenn die Welt um uns herum immer unsicherer wird, Katastrophen einander jagen, ein Tag schlimmer als der andere anmutet, ist durchaus nachvollziehbar, dass Menschen sich nach innen wenden und nur auf ihre Meinungen vertrauen. Meinungen sind Urteile über die Welt, die wir fällen, wenn wir aufgehört haben sie anzusehen. Meinungen über die Welt sind Urteile über sie ohne Bezug zur Realität. verkürzt nach: https://www.uni- potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023- 01-26-ich-meine-also-bin-ich-eric-john- russell-erforscht-die-philosophie-der- meinung Öffentlichkeit und öffentliche Meinung im Wandel Wolfgang Schweiger In demokratischen Gesellschaften gilt die Öffentlichkeit als der Raum, in dem Bürgerinnen und Bürger sowie gesellschaftliche Akteure politische Probleme und Konflikte diskutieren. Der öffentliche Diskurs beeinflusst und legitimiert – neben freien Wahlen – die Entscheidungen demokratischer Institutionen. Mit dieser Vorstellung prägt Jürgen Habermas (1962) unser Verständnis von politischer Öffentlichkeit bis heute. Er betrachtet eine ideale Öffentlichkeit als offenen Diskurs zu gesellschaftsrelevanten Themen, an dem sich alle interessierten und informierten Bürgerinnen und Bürger ohne Standes- und Machtunterschiede beteiligen können. In einer argumentativ-rationalen, höflichen bzw. gewaltfreien, verständigungsorientierten und wahrheitsgemäßen Diskussion tauschen sie ihre Forderungen und Argumente aus. Das meiste Gehör finden nicht die Lautesten, sondern die besten Argumente. Auf diese Weise kommt eine „diskursgestählte“ öffentliche Meinung zustande, die im Idealfall eine konsentierte Problemlösung ermöglicht – meist als Kompromiss – oder zumindest einen begründeten Dissens feststellt. Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 12-15 Die Medienöffentlichkeit wird dominiert von einflussreichen Akteuren, die sich meist von renommierten und/oder prominenten Sprechern vertreten lassen. Zu Recht klagen kleine und neue Akteure über Zugangsbarrieren zur Medienöffentlichkeit, was Habermas bereits 1962 als „Vermachtung“ der Öffentlichkeit bemängelte. Die Bürger als Publikum verfolgen den öffentlichen Diskurs in der Medienarena mehr oder weniger aufmerksam, diskutieren die Themen untereinander und bilden sich so ihre Meinung. Die individuellen Meinungen der Bürger – genauer: einer repräsentativen Stichprobe aller Bürger – werden mittels demoskopischer Befragungen erfasst. Als öffentliche Meinung fließen sie wiederum in die Medienberichterstattung und den öffentlichen Diskurs ein. Dadurch wird die öffentliche Meinung für Parteien und Regierende erkennbar und prägt ihre politische Kommunikation und ihre Entscheidungen mit (Responsiveness). Lange Zeit gelten Journalisten als alleinige Gatekeeper für den Zugang zur Medienöffentlichkeit. Dabei orientiert sich die Nachrichtenauswahl vieler Medien nicht nur an gesellschaftlicher Relevanz, sondern auch an den Vorlieben und Interessen ihres Publikums. Besonders private Medien kämpfen aus wirtschaftlichen Gründen um Publikumsreichweiten. Der daraus resultierende Trend zur Boulevardisierung verstärkt sich mit der Verbreitung des Internets weiter. Aus verschiedenen Gründen sinken nicht nur die Einnahmen der gedruckten Presse, sondern der meisten journalistischen Medien insgesamt. Das führt in vielen Redaktionen zu Einsparungen und erhöht ihre Anfälligkeit und Abhängigkeit gegenüber PR-Einflüssen. Damit verschieben sich die Inhalte der Medienöffentlichkeit weiter weg vom Habermas’schen Ideal eines lösungsorientierten, argumentativen und fairen Diskurses und hin zu mehr Personalisierung, Emotion und Stimmung.Seit ca. 2000 sind nahezu alle journalistischen Medien im Internet präsent. Nachrichten-Websites werden zu viel genutzten Nachrichtenquellen. Anfänglich unterscheiden sich traditioneller und Onlinejournalismus kaum. Es verschärfen der Aktualitätsdruck und der stete Kampf um Reichweiten im Netz die Boulevardisierung, Verflachung und Emotionalisierung der Berichterstattung weiter. Nicht wenige Medien suchen ihr Heil in verstärktem Häppchen- und Clickbait-Journalismus. Gleichzeitig verliert der Journalismus sein Nachrichtenmonopol. Im Netz erreichen Parteien, Politik, politische Interessengruppen und alle anderen die Bürgerinnen und Bürger über eigene Websites und Social Media direkt und ohne auf journalistische Medien angewiesen zu sein (Journalism Bypassing). Die Bürgerinnen und Bürger können nun die Themen, Fakten und Interpretationen der Nachrichtenmedien mit den Darstellungen der politischen Akteure selbst vergleichen. Nicht selten steht Aussage gegen Aussage, wie etwa bei Donald Trumps getwitterten Fake- News-Vorwürfen gegen die „New York Times“ und andere US- Nachrichtenmedien. Auch (rechts-) alternative Medien wie „Epoch Times“, „Jouwatch“ oder die vom Kreml finanzierten Angebote RT Deutsch oder Sputnik greifen den Journalismus an. Sie werfen ihm Abhängigkeit von Politik und Wirtschaft vor („Systemmedien“) und deshalb unvollständig, verzerrt oder unwahr zu berichten („Lügenpresse“). Ihr journalistischer und wirtschaftlicher Hintergrund ist oft intransparent. Um politische Botschaften erfolgreich im Netz zu verbreiten, schrecken sie nicht vor Halbwahrheiten, Verdrehungen, teils auch Lügen zurück (Fake News). Damit erreichen sie, wie auch viele populistische Politikerinnen und Politiker, in den sozialen Medien Millionen Menschen Schließlich werden auch die Bürgerinnen und Bürger aktiv. War ihnen bisher lediglich die Rolle des Publikums vorbehalten, erlauben ihnen die neuen Techniken des Web 2.0 seit Mitte der 2000er-Jahre einen offenen und egalitären Zugang zur Öffentlichkeit. Auf vielen Nachrichtenportalen können sie Beiträge kommentieren und eigene Inhalte veröffentlichen. Auch in Blogs, Foren und vor allem auf sozialen Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube findet „öffentliche Bürgerkommunikation“ statt (Schweiger 2017). Man spricht von partizipativem oder Bürgerjournalismus und hofft auf eine Vitalisierung der Demokratie durch egalitäre Kommunikation und Beteiligung im Netz. Dazu passend bezeichnen aktuelle Definitionen Öffentlichkeit als „Räume verdichteter politischer Kommunikation“ (Brüggemann u.a. 2009, S. 394) und beschreiben sie als Netzwerk miteinander Kommunizierender. Der freie Zugang zur Netzöffentlichkeit führt zu einem „Publizitätsparadox“: Je einfacher es wird, etwas zu publizieren, desto mehr Quellen und Inhalte gibt es und desto geringer ist ihre durchschnittliche Chance auf öffentliche Beachtung bzw. Publizität. Das Publikum leidet unter Informationsüberlastung. Deshalb gewinnen seit etwa 2010 Intermediäre an Bedeutung. Sie tragen Inhalte aus dem gesamten Internet zusammen und filtern für ihre Nutzerinnen und Nutzer die Quellen und Inhalte heraus, die ihren persönlichen Interessen entsprechen (Personalisierung). Die wichtigsten Intermediäre sind Suchmaschinen, allen voran Google, soziale Netzwerke und Messenger wie Facebook, Instagram, WhatsApp (alle Facebook), YouTube (wieder Google), Twitter sowie News-Aggregatoren (noch einmal Google). Die Personalisierung basiert auf bewussten Auswahlentscheidungen der Nutzerinnen und Nutzer: Einmal favorisierte Quellen und Inhalte werden, wie in einem Abonnement, dauerhaft angezeigt. Algorithmen optimieren die Personalisierung weiter. Sie erfassen Eigenschaften und das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer sowie ihre persönlichen Netzwerke und zeigen nur noch passende Quellen bzw. Inhalte an. Das macht algorithmisch-personalisierte Kanäle beliebt. Aus gesellschaftlicher Sicht sind mit diesen Segnungen Befürchtungen verbunden (vgl. Schweiger u.a. 2019). Denn so können fragmentierte (Teil-)Öffentlichkeiten entstehen. Deren Mitglieder weisen relativ homogene Interessen, Einstellungen und Weltbilder auf, bevorzugen meinungskonsonante Nachrichten(-quellen) und bekommen diese in algorithmisch-personalisierten Kanälen auch überwiegend präsentiert. Sie stehen mit anderen Meinungslagern nur wenig in Kontakt und befinden sich, metaphorisch gesprochen, in einer Filterblase (Pariser 2011). Innerhalb der Filterblasen kursieren überwiegend Beiträge und Meinungsäußerungen aus dem eigenen Lager. Das kann zu einer verzerrten Wahrnehmung der öffentlichen Meinung beitragen, die Nutzern suggeriert, das eigene Meinungslager sei stärker, als es tatsächlich ist. Das macht Menschen redebereiter, als sie es ansonsten wären, und sie schaukeln sich gegenseitig hoch (Echokammer). Die wahrscheinliche Folge einer solcherart veränderten Meinungsbildung ist eine Polarisierung der Lager und letztlich der gesamten Gesellschaft (Schweiger u.a. 2019). Extreme Filterblasen und Echokammern sind in Deutschland nicht nur rund um die AfD zu vermuten, sondern auch in Teilen der deutschrussischen und türkischen Communitys und natürlich auch in der linken Szene. Journalistische Medien sind in solchen Filterblasen ein irritierender Fremdkörper. Denn deren Ansatz einer ausgewogenen, vielfältigen und wahrheitsgemäßen Nachrichtenauswahl und -berichterstattung konfrontiert diese Menschen zwangsläufig mit meinungsdissonanten Nachrichten und Weltbildern und wird deshalb als „Lügenpresse“ abgelehnt (Schweiger 2017). Entsprechend dominant sind hier die Beiträge alternativer Quellen und populistischer Politikerinnen und Politiker. Diese Effekte werden durch beabsichtigte und unbeabsichtigte Desinformation verschärft. Denn Intermediäre präsentieren Inhalte unterschiedlichster Quellen – journalistische Medien, alternative Angebote, Politik, Bürgermeinungen – unmittelbar nebeneinander. Selbst medienkompetenten Menschen fällt es schwer, die Herkunft, Qualität, Relevanz und den Wahrheitsgehalt von Informationen einzuschätzen. Auf diese Weise werden etwa Verschwörungstheorien mit journalistischen Nachrichten verwechselt. Fragwürdige Nischenangebote erreichen nun Millionen Menschen und werden so öffentlich wirksam.Auch in der algorithmisierten Netzöffentlichkeit gelten die Gesetze des Boulevards. Und wenn sich Inhalte und Meinungen viral verbreiten, sind es meist unterhaltende, emotionale bzw. emotionalisierende Inhalte. Darunter befinden sich auch Hasskommentare und Fake News. Ausgewogene Nachrichten, nüchterne Fakten und Argumente genießen weniger Publizität (vgl. z.B. Vosoughi u.a. 2018). Die aktuelle Öffentlichkeit schafft also ideale Bedingungen für Populisten und Alternativangebote mit ihren Hasstiraden, Halbwahrheiten und „alternativen Fakten“. Gleichzeitig geht die Bedeutung der klassischen Medien zurück. In Teilen der Bevölkerung leiden sie unter einem Vertrauensschwund. Damit steht die Rolle des Journalismus, den öffentlichen Diskurs zu moderieren, dessen Vielfalt, Gesellschaftsrelevanz, Qualität und Wahrheit und damit auch die individuelle Meinungsbildung sicherzustellen, unter Druck. Was bedeutet das alles für unsere Demokratie(n)? Dass der Populismus ein „Nutznießer“ des beschriebenen Wandels ist, steht außer Frage. Wie dieser Prozess jedoch weitergeht, weiß niemand. Sicher scheint: Die Art, wie Öffentlichkeit und öffentliche Meinung funktionieren, wird sich weiter und vermutlich immer schneller ändern. verkürzt nach: verkürzt nach: https://mediendiskurs.online/beitrag/oeffentlichkeit- und-oeffentliche-meinung-im-wandel/
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