Siegfried
Trapp
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[Text A]
Eine kritische Theorie der Meinung
Für Meinungen und ihre Bedeutung begann Eric-John Russell sich zu
interessieren, nachdem Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA
gewählt worden war. Dem erklärten Selfmade-Präsidenten genügte sein
Twitter-Account mit fast 90 Millionen Followern, um politische Debatten nach
Belieben anzustoßen oder zu dirigieren. Nicht Berichte, Ausschüsse und
lange Beratungen, sondern Kurznachrichten mit 140 Zeichen prägten seine Politik. Und nicht nur
die. „Meinungen sind im Aufwind“, sagt Eric-John Russell. „Für viele Menschen bilden sie die Basis
dessen, was sie über die Welt wissen. Dabei ‚besitzen‘ Meinungen eine erstaunliche Gewissheit –
und eine scheinbar enge Beziehung zum Konzept der Wahrheit.“ Bestes Beispiel seien die
Diskurse rund um die Entwicklungen der Corona-Pandemie. Jeden Tag neue Nachrichten, neue
Informationen und neue Meinungen. „Plötzlich wurden alle über Nacht zu Experten – und zwar vor
allem auf der Basis von Meinungen.“ Das Besondere dieser neuen Meinungsmacht sei, dass sie
sich behauptet, selbst wenn wissenschaftliche Evidenz gegen sie steht, erklärt der Philosoph. „Sie
besitzen eine ungeheure Unveräußerlichkeit.
Die Philosophie der Meinung: Was macht sie aus? Wie lässt sie sich von anderen Denkformen wie
Glaube oder Weltanschauung unterscheiden? Welche Eigenheiten hat die Meinungsäußerung als
Kommunikationsform? Welche Rolle spielt sie für unsere Gesellschaft? Und wie hat sie sich im
Laufe der Geschichte verändert? Denn die (persönliche) Meinung war eben nicht immer schon das
Nonplusultra der Selbstfindung oder -behauptung. Einer der ersten, die ihr einen Platz im Haus des
Wissens zuwiesen, war der griechische Philosoph Platon. In seiner „Republik“ stellte er der
Meinung (doxa) das Wissen (episteme) gegenüber, wobei nur letzteres uns zu weisem Handeln
befähigt. Im Laufe der Jahrhunderte übernahmen wechselnde Quellen die Aufgabe, dieses Wissen
zu speisen – erst der Verstand, danach verschiedenste Religionen und dann wieder die Vernunft.
Der Meinung blieb meist die Schmollecke weitgehender Wertlosigkeit. „Die tödliche Krankheit des
Menschen ist seine Meinung, er wisse“, schrieb der französische Philosoph Montaigne im 16.
Jahrhundert. Sein englischer Kollege Thomas Hobbes trat rund 100 Jahre später nach: „Eine
Meinung gibt etwas Gesagtes für wahr an, obwohl es sich manchmal um absurde Worte handelt,
die nichts bedeuten und unmöglich zu verstehen sind.“ Gleichwohl wusste er um ihren Einfluss:
„Die Welt wird von der Meinung regiert.“ 200 Jahre später klärte der Aufklärer Immanuel Kant sie
gleich mit auf: „Meinung ist ein Glaube, der sich bewusst ist, sowohl subjektiv als auch objektiv
unzureichend zu sein.“ Ihm galt sie als defizitär, aber tolerierbar, wenn sie ihre Beschränktheit
einsieht.
Basis der öffentlichen Meinung ist nicht Wissen, sondern eine Vielzahl von Meinungen, die im
schlimmsten Fall auch eine Vielzahl von Unwahrheiten hervorbringen können.
Hegel würde sagen: Die öffentliche Meinung sollte respektiert werden – und zugleich verachtet.
Denn schon der dahinterstehende Wille der Menschen enthalte unauflösliche Widersprüche.
Meinungen versprechen eine verloren geglaubte Gewissheit und wir können sie allein aus uns
selbst schöpfen. Wenn die Welt um uns herum immer unsicherer wird, Katastrophen einander
jagen, ein Tag schlimmer als der andere anmutet, ist durchaus nachvollziehbar, dass Menschen
sich nach innen wenden und nur auf ihre Meinungen vertrauen. Meinungen sind Urteile über die
Welt, die wir fällen, wenn wir aufgehört haben sie anzusehen.
Meinungen über die Welt sind Urteile über sie ohne Bezug zur Realität.
verkürzt nach: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023-01-26-ich-meine-also-bin-
ich-eric-john-russell-erforscht-die-philosophie-der-meinung
[Text B]
Öffentlichkeit und öffentliche Meinung im Wandel
Wolfgang Schweiger
In demokratischen Gesellschaften gilt die Öffentlichkeit als der Raum, in dem
Bürgerinnen und Bürger sowie gesellschaftliche Akteure politische Probleme
und Konflikte diskutieren. Der öffentliche Diskurs beeinflusst und legitimiert –
neben freien Wahlen – die Entscheidungen demokratischer Institutionen. Mit
dieser Vorstellung prägt Jürgen Habermas (1962) unser Verständnis von
politischer Öffentlichkeit bis heute. Er betrachtet eine ideale Öffentlichkeit als
offenen Diskurs zu gesellschaftsrelevanten Themen, an dem sich alle
interessierten und informierten Bürgerinnen und Bürger ohne Standes- und Machtunterschiede
beteiligen können. In einer argumentativ-rationalen, höflichen bzw. gewaltfreien,
verständigungsorientierten und wahrheitsgemäßen Diskussion tauschen sie ihre Forderungen
und Argumente aus. Das meiste Gehör finden nicht die Lautesten, sondern die besten Argumente.
Auf diese Weise kommt eine „diskursgestählte“ öffentliche Meinung zustande, die im Idealfall eine
konsentierte Problemlösung ermöglicht – meist als Kompromiss – oder zumindest einen
begründeten Dissens feststellt.
Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 12-15
Die Medienöffentlichkeit wird dominiert von einflussreichen Akteuren, die sich meist von
renommierten und/oder prominenten Sprechern vertreten lassen. Zu Recht klagen kleine und neue
Akteure über Zugangsbarrieren zur Medienöffentlichkeit, was Habermas bereits 1962 als
„Vermachtung“ der Öffentlichkeit bemängelte.
Die Bürger als Publikum verfolgen den öffentlichen Diskurs in der Medienarena mehr oder weniger
aufmerksam, diskutieren die Themen untereinander und bilden sich so ihre Meinung. Die
individuellen Meinungen der Bürger – genauer: einer repräsentativen Stichprobe aller Bürger –
werden mittels demoskopischer Befragungen erfasst. Als öffentliche Meinung fließen sie wiederum
in die Medienberichterstattung und den öffentlichen Diskurs ein. Dadurch wird die öffentliche
Meinung für Parteien und Regierende erkennbar und prägt ihre politische Kommunikation und ihre
Entscheidungen mit (Responsiveness).
Lange Zeit gelten Journalisten als alleinige Gatekeeper für den Zugang zur Medienöffentlichkeit.
Dabei orientiert sich die Nachrichtenauswahl vieler Medien nicht nur an gesellschaftlicher
Relevanz, sondern auch an den Vorlieben und Interessen ihres Publikums. Besonders private
Medien kämpfen aus wirtschaftlichen Gründen um Publikumsreichweiten. Der daraus resultierende
Trend zur Boulevardisierung verstärkt sich mit der Verbreitung des Internets weiter. Aus
verschiedenen Gründen sinken nicht nur die Einnahmen der gedruckten Presse, sondern der
meisten journalistischen Medien insgesamt. Das führt in vielen Redaktionen zu Einsparungen und
erhöht ihre Anfälligkeit und Abhängigkeit gegenüber PR-Einflüssen. Damit verschieben sich die
Inhalte der Medienöffentlichkeit weiter weg vom Habermas’schen Ideal eines lösungsorientierten,
argumentativen und fairen Diskurses und hin zu mehr Personalisierung, Emotion und
Stimmung.Seit ca. 2000 sind nahezu alle journalistischen Medien im Internet präsent. Nachrichten-
Websites werden zu viel genutzten Nachrichtenquellen. Anfänglich unterscheiden sich traditioneller
und Onlinejournalismus kaum.
Es verschärfen der Aktualitätsdruck und der stete Kampf um Reichweiten im Netz die
Boulevardisierung, Verflachung und Emotionalisierung der Berichterstattung weiter. Nicht wenige
Medien suchen ihr Heil in verstärktem Häppchen- und Clickbait-Journalismus. Gleichzeitig verliert
der Journalismus sein Nachrichtenmonopol. Im Netz erreichen Parteien, Politik, politische
Interessengruppen und alle anderen die Bürgerinnen und Bürger über eigene Websites und Social
Media direkt und ohne auf journalistische Medien angewiesen zu sein (Journalism Bypassing). Die
Bürgerinnen und Bürger können nun die Themen, Fakten und Interpretationen der
Nachrichtenmedien mit den Darstellungen der politischen Akteure selbst vergleichen. Nicht selten
steht Aussage gegen Aussage, wie etwa bei Donald Trumps getwitterten Fake-News-Vorwürfen
gegen die „New York Times“ und andere US-Nachrichtenmedien.
Auch (rechts-) alternative Medien wie „Epoch Times“, „Jouwatch“ oder die vom Kreml finanzierten
Angebote RT Deutsch oder Sputnik greifen den Journalismus an. Sie werfen ihm Abhängigkeit von
Politik und Wirtschaft vor („Systemmedien“) und deshalb unvollständig, verzerrt oder unwahr zu
berichten („Lügenpresse“). Ihr journalistischer und wirtschaftlicher Hintergrund ist oft intransparent.
Um politische Botschaften erfolgreich im Netz zu verbreiten, schrecken sie nicht vor
Halbwahrheiten, Verdrehungen, teils auch Lügen zurück (Fake News). Damit erreichen sie, wie
auch viele populistische Politikerinnen und Politiker, in den sozialen Medien Millionen Menschen
Schließlich werden auch die Bürgerinnen und Bürger aktiv. War ihnen bisher lediglich die Rolle des
Publikums vorbehalten, erlauben ihnen die neuen Techniken des Web 2.0 seit Mitte der 2000er-
Jahre einen offenen und egalitären Zugang zur Öffentlichkeit. Auf vielen Nachrichtenportalen
können sie Beiträge kommentieren und eigene Inhalte veröffentlichen. Auch in Blogs, Foren und
vor allem auf sozialen Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube findet „öffentliche
Bürgerkommunikation“ statt (Schweiger 2017). Man spricht von partizipativem oder
Bürgerjournalismus und hofft auf eine Vitalisierung der Demokratie durch egalitäre Kommunikation
und Beteiligung im Netz. Dazu passend bezeichnen aktuelle Definitionen Öffentlichkeit als „Räume
verdichteter politischer Kommunikation“ (Brüggemann u.a. 2009, S. 394) und beschreiben sie als
Netzwerk miteinander Kommunizierender.
Der freie Zugang zur Netzöffentlichkeit führt zu einem „Publizitätsparadox“: Je einfacher es wird,
etwas zu publizieren, desto mehr Quellen und Inhalte gibt es und desto geringer ist ihre
durchschnittliche Chance auf öffentliche Beachtung bzw. Publizität. Das Publikum leidet unter
Informationsüberlastung. Deshalb gewinnen seit etwa 2010 Intermediäre an Bedeutung. Sie tragen
Inhalte aus dem gesamten Internet zusammen und filtern für ihre Nutzerinnen und Nutzer die
Quellen und Inhalte heraus, die ihren persönlichen Interessen entsprechen (Personalisierung). Die
wichtigsten Intermediäre sind Suchmaschinen, allen voran Google, soziale Netzwerke und
Messenger wie Facebook, Instagram, WhatsApp (alle Facebook), YouTube (wieder Google), Twitter
sowie News-Aggregatoren (noch einmal Google). Die Personalisierung basiert auf bewussten
Auswahlentscheidungen der Nutzerinnen und Nutzer: Einmal favorisierte Quellen und Inhalte
werden, wie in einem Abonnement, dauerhaft angezeigt. Algorithmen optimieren die
Personalisierung weiter. Sie erfassen Eigenschaften und das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer
sowie ihre persönlichen Netzwerke und zeigen nur noch passende Quellen bzw. Inhalte an. Das
macht algorithmisch-personalisierte Kanäle beliebt. Aus gesellschaftlicher Sicht sind mit diesen
Segnungen Befürchtungen verbunden (vgl. Schweiger u.a. 2019). Denn so können fragmentierte
(Teil-)Öffentlichkeiten entstehen. Deren Mitglieder weisen relativ homogene Interessen,
Einstellungen und Weltbilder auf, bevorzugen meinungskonsonante Nachrichten(-quellen) und
bekommen diese in algorithmisch-personalisierten Kanälen auch überwiegend präsentiert. Sie
stehen mit anderen Meinungslagern nur wenig in Kontakt und befinden sich, metaphorisch
gesprochen, in einer Filterblase (Pariser 2011). Innerhalb der Filterblasen kursieren überwiegend
Beiträge und Meinungsäußerungen aus dem eigenen Lager. Das kann zu einer verzerrten
Wahrnehmung der öffentlichen Meinung beitragen, die Nutzern suggeriert, das eigene
Meinungslager sei stärker, als es tatsächlich ist. Das macht Menschen redebereiter, als sie es
ansonsten wären, und sie schaukeln sich gegenseitig hoch (Echokammer). Die wahrscheinliche
Folge einer solcherart veränderten Meinungsbildung ist eine Polarisierung der Lager und letztlich
der gesamten Gesellschaft (Schweiger u.a. 2019).
Extreme Filterblasen und Echokammern sind in Deutschland nicht nur rund um die AfD zu
vermuten, sondern auch in Teilen der deutschrussischen und türkischen Communitys und natürlich
auch in der linken Szene. Journalistische Medien sind in solchen Filterblasen ein irritierender
Fremdkörper. Denn deren Ansatz einer ausgewogenen, vielfältigen und wahrheitsgemäßen
Nachrichtenauswahl und -berichterstattung konfrontiert diese Menschen zwangsläufig mit
meinungsdissonanten Nachrichten und Weltbildern und wird deshalb als „Lügenpresse“ abgelehnt
(Schweiger 2017). Entsprechend dominant sind hier die Beiträge alternativer Quellen und
populistischer Politikerinnen und Politiker.
Diese Effekte werden durch beabsichtigte und unbeabsichtigte Desinformation verschärft. Denn
Intermediäre präsentieren Inhalte unterschiedlichster Quellen – journalistische Medien, alternative
Angebote, Politik, Bürgermeinungen – unmittelbar nebeneinander. Selbst medienkompetenten
Menschen fällt es schwer, die Herkunft, Qualität, Relevanz und den Wahrheitsgehalt von
Informationen einzuschätzen. Auf diese Weise werden etwa Verschwörungstheorien mit
journalistischen Nachrichten verwechselt. Fragwürdige Nischenangebote erreichen nun Millionen
Menschen und werden so öffentlich wirksam.Auch in der algorithmisierten Netzöffentlichkeit gelten
die Gesetze des Boulevards. Und wenn sich Inhalte und Meinungen viral verbreiten, sind es meist
unterhaltende, emotionale bzw. emotionalisierende Inhalte. Darunter befinden sich auch
Hasskommentare und Fake News. Ausgewogene Nachrichten, nüchterne Fakten und Argumente
genießen weniger Publizität (vgl. z.B. Vosoughi u.a. 2018).
Die aktuelle Öffentlichkeit schafft also ideale Bedingungen für Populisten und Alternativangebote
mit ihren Hasstiraden, Halbwahrheiten und „alternativen Fakten“. Gleichzeitig geht die Bedeutung
der klassischen Medien zurück. In Teilen der Bevölkerung leiden sie unter einem
Vertrauensschwund. Damit steht die Rolle des Journalismus, den öffentlichen Diskurs zu
moderieren, dessen Vielfalt, Gesellschaftsrelevanz, Qualität und Wahrheit und damit auch die
individuelle Meinungsbildung sicherzustellen, unter Druck.
Was bedeutet das alles für unsere Demokratie(n)? Dass der Populismus ein „Nutznießer“ des
beschriebenen Wandels ist, steht außer Frage. Wie dieser Prozess jedoch weitergeht, weiß
niemand. Sicher scheint: Die Art, wie Öffentlichkeit und öffentliche Meinung funktionieren, wird sich
weiter und vermutlich immer schneller ändern.
verkürzt nach: https://mediendiskurs.online/beitrag/oeffentlichkeit-und-oeffentliche-meinung-im-wandel/
Foto: Liesa
Johannssen/reuters